Magazinrundschau

Die Früchte der Revolution

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.11.2011. Der New Yorker reist nach Libyen. Ohne Universalismus gibt es keine Menschenrechte, erklärt Caroline Fourest in Le Monde. Der Grüne ist klassenlos, behauptet der Merkur. Il Sole 24 Ore findet nur noch Italiener, aber kein Italien mehr. Die New York Times erklärt am Beispiel von Pauline Kael, wann es für Kritiker Zeit ist aufzuhören.

New Yorker (USA), 07.11.2011

In seiner großen Reportage aus Libyen zitiert Jon Lee Anderson den aufständischen Offizier Mohamed El Lagi, der bitter daran erinnert, wie sich westliche Politiker von Gaddafi haben demütigen lassen: "Als Tony Blair kam, zeigte Gaddafi ihm seine Schuhsohle, das war ein Zeichen von Respektlosigkeit und wurde in ganz Libyen über YouTube verbreitet. Als Condi Rice kam, lehnte er es ab, ihr die Hand zu schütteln, und später, während sie redeten, gab er ihr eine libysche Gitarre, als würde er sie auffordern zu singen. Sie hätte in dem Moment abreisen sollen, als er ihr nicht die Hand gab, aber sie tat es nicht. Die Interessen amerikanischer Firmen waren ihr wichtiger. All diese Gesten haben die Libyer sehr enttäuscht, weil sie bedeuteten, dass er jeden kaufen kann."

Weitere Artikel: D.T. Max porträtiert die eigenwillige Helene Grimaud, die gar nicht dem Bild einer französisch-ätherischen Pianistin entspricht: "Wenn sie am Klavier sitzt, machen ihre kräftigen Schulter und muskulösen Unterarme doch Eindruck. Sie hebt mit flach gestreckten Händen zur Musik an, ihr Körper krümmt sich über den Tasten, wie eine Schwimmerin, die zum Tauchen ansetzt." Angesichts neuer Bücher von Alan Bennett, Helen de Witt und Nicholson Baker stellt Joan Acocella einen Hang zu rein ironischen Sexpassagen fest und sehnt sich nach der knisternden Erotik einer Jane Austen. Anthony Lane schmäht Lars von Triers' "Melancholia" als genauso langweilig wie Brett Ratners "Tower Heist: "Beide zeigen einen Haufen unsympathischer Menschen, die sich in einem begrenzten Raum unplausibel verhalten."
Archiv: New Yorker

Le Monde (Frankreich), 28.10.2011

Höchst zwiepältig sieht die Publizistin Caroline Fourest die Entwicklung des arabischen Frühlings: "Es sind die Kräfte der Reaktion, die zuerst die Früchte der Revolution geerntet haben", sagt sie zum Wahlsieg der Islamisten in Tunesien und den islamistischen Bekundungen der Übergangsregierung von Libyen. "Wäre es darum besser gewesen, wenn Gaddafi ungestraft Blutbäder in Bengasi angerichtet hätte? Natürlich nicht. Die Vereinten Nationen wären darüber zugrunde gegangen und mit ihr die Idee des Universalismus, ohne die es keine Menschenrechte gibt. Durch die UNO haben die Kräfte, die die Resolution 1973 zur Intervention in Libyen unterstützen, die Legitimität, um die neue libysche Regierung an die Durchsetzung der Rechte zu erinnern. Und das heißt auch der Frauenrechte." Und wohl an die Adresse Bernard-Henri Levys: "Allerdings muss man die Kriegsromantik beenden, die jedem Rebellen schöne Augen macht. Und die Wahrheit über jene sagen, die Unterdrückte waren und zu Unterdrückern werden."
Archiv: Le Monde

Merkur (Deutschland), 01.11.2011

Thomas E. Schmidt erkundet, wie die Grünen die Natur in die politische Kultur zurückgebracht haben, auch in Form eines mit der Zeit sublimierten Rousseauismus: "Das Subjekt der Natürlichkeit, der politischen Versöhnung mit Natur, kann keine privilegierte Klasse mehr sein, die im historischen Prozess dialektische Widersprüche der Gesellschaft aufhebt. Das muss nun der Einzelne in der demokratischen Kultur tun. Der Grüne ist klassenlos. Und er dementiert die Analyse Leo Strauss? in Naturrecht und Geschichte, wonach der Eintritt des natürlichen Menschen in die Politiksphäre den Staat revolutioniere. Der Grüne wird also Parteipolitiker. Seine Losung bleibt jedoch: Wo Bürger war, soll Mensch werden. Nicht republikanische Tugend sorgt dafür, sondern Subjektivität und Engagement."

In seiner Kolumne zur Bildungssoziologie bezweifelt Jürgen Kaube, dass Schulen kompensieren können, was die Gesellschaft an Ungleichheit und Ungerechtigkeit vorgibt. (Hier eine Reportage aus The Smithonian, die die Erfolge von Finnlands Schulen damit erklärt, dass jeder Schüler als individuelle Herausforderung betrachtet wird).
Archiv: Merkur

Salon.com (USA), 30.10.2011

Übersetzer werden in Amerika kaum gewürdigt, schreibt Kevin Canfield. Selbst Kritiker ignorieren sie meist. "'In Amerika, aber noch mehr in Britannien umhüllt eine Art Wolke der Missbilligung Übersetzer und Übersetzungen', sagt David Bellos, Übersetzer der Romane von Ismail Kadare und Georges Perec und Autor des neuen Buchs 'Is That a Fish in Your Ear? Translation and the Meaning of Everything'. 'Kritiken im Times Literary Supplement erwähnen die Übersetzungen - wenn überhaupt - dann nur, um sie herabzusetzen. Über die Jahre habe ich verstanden, dass das ein sehr erfolgreicher Kunstgriff ist, um das Fremde auf Abstand zu halten. Es ist eine Art, sich selbst zu versichern: Nun, ich lese nur Englisch und ich muss diese Bücher von woanders nicht so ernst nehmen, es sind ja nur Übersetzungen.'"
Archiv: Salon.com

Il Sole 24 Ore (Italien), 30.10.2011

Nicht nur die gegenwärtigen Kalamitäten, auch die Aufarbeitung des Faschismus droht zum Stolperstein für Italien zu werden. Anlässlich von Giovanni De Lunas Buch "La repubblica del dolore" über das Erinnern in Italien fürchtet Piero Ignazio, dass Italien als Idee zerreißt: "In Abwesenheit einer gemeinsamen Erinnerung und deshalb an kollektiven Akteuren, die in der Öffentlichkeit im Namen aller Italiener sprechen können, haben wir uns - in vollem Einklang mit dem Nationalcharakter - mit einer 'Privatisierung des Gedenkens' (und auch des Schmerzes) beholfen. Zwei unterschiedliche Einflüsse haben das bewirkt: Die Verfügbarkeit des Fernsehens als Plattform für die Darstellung einzelner Schicksale, einzelner Opfer; und ein Geist des Narzissmus, in dem das Ich über allem anderen steht. De Luna erzählt in den hinteren Kapiteln eine unbekannte Anekdote aus dem Fernsehen, als nach Sendungen wie 'La mia guerra' auf Rai Tre 1990 mehr als 10.000 Briefe eingingen, in denen die Zuschauer anboten, sich interviewen zu lassen (...) Das Italien von heute ist Opfer tausender persönlicher und individueller Bekenntnisse, die den gemeinsamen Boden der Nation aufbrechen, und es weiß nicht, wie es wieder zu sich finden soll."
Archiv: Il Sole 24 Ore

Magyar Narancs (Ungarn), 20.10.2011

Nach Meinung des Medienwissenschaftlers Peter György entspricht zwar die Aussage des Schriftstellers Akos Kertesz, die Ungarn seien "genetisch veranlagte Untertanen" (mehr dazu hier), formal durchaus den Kriterien des Rassismus, wie dies der Publizist Sandor Revesz meinte (mehr dazu hier); jenseits der formalen Logik habe diese Bewertung jedoch keinen Sinn: "Was mit Akos Kertesz geschehen ist, diese einstimmige Exkommunikation von links und rechts, diese traurige Volksfront [...] zeigt, dass wir immer noch nicht darüber reden wollen, was wir endlich besprechen müssten. Es geht eben nicht darum, was unseren ungarischen Vorfahren von anderen angetan wurde, sondern darum, was sie sich selbst angetan hatten. Und was wir uns heute antun."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Rassismus

London Review of Books (UK), 03.11.2011

Pankaj Mishra, das steht fest, ist kein Freund Niall Fergusons. Er beschreibt ihn als Finanzhistoriker, der sich vom säbelrasselnden Neo-Con zum Apokalyptiker entwickelt hat und in seinem neuen Buch "Der Westen und der Rest der Welt" den Abgesang auf den Westen anstimmt. Dennoch sei der Mann beachtenswert: "Dass die westliche Zivilisation in absehbarer Zeit an ihr Ende gelangt, ist unwahrscheinlich, doch mag die neoimperialistische Bande sich mit ihrer eigenen Überflüssigkeit konfrontiert sehen. In diesem Sinne haben Fergusons Metamorphosen - vom Jubilator sukzessive des Imperiumgedankens, der 'Anglobalisierung' und schließlich 'Chinamerikas" über den Vetreter der Kollapstheorie hin zum Kleinhändler erbaulicher Geschichten einer ruhmreichen Vergangenheit - den breiten politischen und kulturellen Wandel akkurater beleuchtet als seine Arbeiten. Seine nächste Regung sollte man nicht verpassen."

Weiteres: Ghaith Abdul-Ahad schreibt Tagebuch in Syrien. James Meek stutzt nicht schlecht, als ihn sein Kindle beim Markieren einer Textzeile informiert: "Diese Passage haben außer ihnen bereits acht andere Kunden markiert". Peter Campbell widmet sich dem Motiv des offenen Fensters in Bildern aus dem 19. Jahrhundert. Michael Wood sendet Notizen vom Filmfestival Morelia.

Polityka (Polen), 28.10.2011

Polnische Kinderbuchillustratoren sind weltberühmt, erklärt Sebastian Frackiewicz (hier auf Deutsch). "Aber in Polen wird das Erzählen mittels Bildern (was auch gut am Beispiel von Comics zu sehen ist) nicht immer positiv wahrgenommen. 'Ich habe einmal den Entwurf für 'Oma strickt' einer geschätzten Direktorin eines staatlichen Museums gezeigt', erzählt Marta Ignerska. 'Sie hat ihn folgendermaßen kommentiert: Ist das nicht seltsam, dass Sie auf einer Seite mehr Illustrationen haben als Text? Wofür zahle ich eigentlich, wenn ich dieses Buch kaufe? Das liest man doch ganz schnell durch und dann braucht man es nicht mehr.'"
Archiv: Polityka

New York Times (USA), 30.10.2011

In den sechziger und siebziger Jahren, als noch ein breites Publikum über Kunstwerke stritt, schrieb Pauline Kael für den New Yorker die leidenschaftlichsten und bissigsten Filmkritiken Amerikas. Jetzt sind einige ihrer Essays in die "Library of America" aufgenommen worden. Und Brian Kellow hat eine Kael-Biografie veröffentlicht. Seine Beschreibung von Kaels harten, frühen Jahre hat Frank Rich mit Interesse gelesen. Die Zusammenfassungen der Filme und ihrer Kritiken fand er eher öde: "Gottseidank endet diese Chronik mit einer knackigen, wenn auch deprimierenden Beschreibung von Kaels Niedergang. Wenn ihr Aufstieg junge Autoren zum Schreiben von Filmkritiken inspiriert hat, so ist ihr Fall ein warnendes Beispiel dafür, dass Kritiker in Machtpositionen rechtzeitig aufhören sollten, bevor sie unweigerlich in Korruption, Selbstparodie, Größenwahn - oder wie Kael in alle drei - versinken. ... Jemand musste das öffentlich kritisieren und dieser provokante Jemand war Renata Adler, die 1980 in der New York Review of Books Kaels Arbeiten 'Stück für Stück, Zeile für Zeile und ohne Unterbrechung wertlos' nannte." (Die NYRB hat den Artikel freigeschaltet. Wer schreibt heute noch solche Verrisse? Und hier noch Nathan Hellers vor zwei Wochen erschienenes Kael-Porträt aus dem New Yorker.)

Außerdem in der Book Review: Denis Donoghue liest den zweiten Band der Beckett-Briefe. Adam Thirlwell stellt David Bellos' Buch über die erfreulichen Seiten des Übersetzens vor. Jonathan Rosen bespricht Simon Sebag Montefiores Jerusalem-Biografie. Horrorfans werden nicht begeistert sein von Colson Whiteheads Zombie-Roman "Zone One" - sollten sie aber, meint Glen Duncan. Gideon-Lewis Kraus schließlich empfiehlt einen Band mit Reportagen, Interviews und Besprechungen von John Jeremiah Sullivan, der für GQ u.a. über Axl Rose, Michael Jackson und David Foster Wallace geschrieben hat (hier findet man viele seiner Artikel).
Archiv: New York Times