Magazinrundschau

Einer der stolzeren Siege

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
10.12.2013. Osteuropa berichtet über Homophobie in Russland und konservative Homosexuelle in Tschechien. Im Frieze Magazin erklärt der Künstler Alejandro Jodorowksy, warum ein Künstler heute drei oder vier Eier von Melonengröße braucht. Telerama, New Yorker und Rolling Stone widmen sich Glenn Greenwald. Das TLS liest zwei Bücher über den Pazifikraum. In Prospect fordert Daniel Mendelsohn Literaturstudenten auf: erst lesen lernen, dann theoretisieren.

Osteuropa (Deutschland), 01.12.2013

In seiner neuen Ausgabe widmet sich Osteuropa der Homophobie im autoritären Staat, sprich in Russland. Es geht aber auch um die Situation von Schwulen und Lesben in Tschechien, Polen und der Ukraine. Nikolay Mitrokhin untersucht, welche Rolle die Russisch-Orthodoxe Kirche in der schwulenfeindlichen Kampagne des Kremls spielt und kommt zu dem Schluss, dass sie aller Hassrhetorik zum Trotz nur ein willfähriges Instrument ist, das dem Regimes den nötigen Weihrauch liefert: "Ihre Aufgabe ist es, dem Fernsehbildpublikum zu suggerieren, dass der jeweils gerade aktuelle Schlenker von Putins Politik der Stimmung in der Gesellschaft folge. Sobald das Regime sie nicht mehr braucht, versinken ihre Internetseiten wieder in der Irrelevanz. Wenn Putin sie allerdings wieder für die nächste xenophobe Kampagne benötigt, wird die ROK jedoch zweifellos erneut bereitstehen."

Martin Putna befasst sich in einem ausführlichen Text mit der Homosexualität in der tschechischen Literatur von Julius Zeyer und Otokar Brezina bis Jiří Kuběna, der als Kastellan auf der Burg Bitov im arkadischen Südmähren lebt. Doch bei aller Liebe muss Putna feststellen: Während in Westeuropa und den USA die Avantgardisten, Anarchisten und Revolutionäre die Mehrheit unter den schwulen Autoren stellen, sind es in Tschechien die Konservativen und Reaktionäre: "Jiří Karásek ze Lvovic war zunächst vom Katholizismus und vom Barock, dann vom Okkultismus und der Antike eingenommen. Jiří Langer klammerte sich an einen mystischen Chassidismus. Richard Weiner meditierte in seinen Werken über eine Art geheimer Weltordnung und wandte sich gegen Ende seines Lebens dem Christentum zu, wenn er sich auch nicht taufen ließ. Václav Krška gehörte der konservativen literarischen Strömung der 'Ruralisten' an. Vladimír Kolátor war Sprecher der noch konservativeren Bewegung der sogenannten 'Aktivisten'. Jetřich Lipanský wurde sogar Priester. Unter dem kommunistischen Regime bekannten sich Jiří Kuběna und Fanda Pánek offen zum Katholizismus, Josef Topol, Ladislav Fuks und Bořivoj Kopic im Privaten. Kuběna und Fuks ließen sogar ihre Sympathie für eine monarchische Staatsform und eine aristokratische Gesellschaft erkennen." (Der Link zum Volltext steht unten auf der Seite.)
Archiv: Osteuropa

Times Literary Supplement (UK), 06.12.2013

Für die Geschichtsschreibung ist der Pazifikraum meist nur viel Wasser mit vielen Inseln, meint der Historiker David Armitage und freut sich daher sehr über zwei Bücher, die sich daran machen, die Geschichte der pazifischen Welt zu schreiben: David Iglers "The Great Ocean" und Gregory Cushmans "Guano and the Openin of the Pacific World": "In 'Die Geburt der modernen Welt' beschreibt C.A. Bayly das lange 19. Jahrhundert als ein Zeitalter, in dem die Nationen einander immer ähnlicher wurde, in sich selbst aber immer vielfältiger. Selbst Baylys globale Tour de Force gab dem Pazifik wenig Raum, doch Igler und Cushman bestätigen seine These. Igler zeigt, wie die zunehmende kommerzielle Integration im östlichen Pazifik die indigenen Gemeinschaften zerschlug. Ähnlich argumentiert Cushman, dass die Ausbeutung des Guanos den Pazifik fester in den transozeanischen, letztlich globalen Kreislauf von Arbeit, Ressourcen-Abbau und kapitalistischem Unternehmen band. Diese Einbindung brachte politische Instabilität und Umweltzerstörung nach Peru, die Gilbert Inseln, Nauru und andere Punkte um den Pazifik herum. Die Schäden für ihre lokalen Ökonomien werden noch lange in der Zukunft zu spüren sei. Vom Pazifik aus gesehen war die Geburt der modernen Welt besonders gewaltsam und erschütternd, das genaue Gegenteil vom Mythos der unberührten Inseln, in denen Europäer im 18. Jahrhundert ihre Waren feilboten, bevor die Moderne sie erreichte."

David Gallagher liest die dreibändige Ausgabe von Mario Vargas Llosas Kolumen "Piedra de Toque" die seit fünfzig Jahren in der gesamten spanischsprachigen Welt erscheinen.

Frieze (UK), 09.12.2013

Aktuell laufen wieder einige Klassiker des mexikanischen Surrealisten Alejandro Jodorowksy als Wiederaufführung in den deutschen Kinos. Gut passt dazu ein (nur gegen kostenfreie Registrierung zugängliches) Gespräch, das Erik Morse kürzlich für Frieze mit dem Filmemacher, Comicautor, Schriftsteller, Theaterregisseur und selbsternannten Psychomagier geführt hat. Seiner Natur gemäß übt sich der Meister auch hier in Gesten der Bescheidenheit, so etwa auf die Frage, warum sich die moderne Welt schwer tut mit Renaissancemenschen wie ihm, die in allen Künsten zuhause sind: "Kunst bedeutet unter keinen Umständen eine einzelne 'künstlerische Karriere'. Ein großer Künstler nutzt keine 'Disziplinstrukturen'. Ein echter Künstler scheißt auf die Idee, ein 'Renaissancemensch' zu sein. Wenn Deine Eier gerade einmal so groß wie Walnüsse sind, dann kannst Du nur einem Hasen hinterherjagen. Wenn Du aber, so wie ich, drei oder vier Eier von Melonengröße hast, dann jagst Du 30 Hasen gleichzeitig hinterher und erlegst sie auch. Ich war meiner Zeit um 30 Jahre voraus. Im 20. Jahrhundert ordnete sich ein Künstler sklavisch den Rubriken unter. Ein 'Maler' konnte kein 'Schriftsteller', 'Tänzer' oder 'Schamane' sein. Im 21. Jahrhundert liegt die Sache anders. Früher war ein Telefon ein Telefon. Heutzutage ist das, was früher nur ein Telefon war, ein Gerät, dass Fotos schießt, Musik abspielt, Textnachrichten verschickt, das Wetter kennt und bei der Orientierung behilflich ist. Bald wird es auch ein Vibrator sein und giftige Pfeile werfen können. Warum also sollte da nicht auch ein Künstler endlos viele Dinge sein können?" Wobei wir sanft bezweifeln, dass Eier in solcher Zahl und Größe bei der Hasenjagd helfen.
Archiv: Frieze

Prospect (UK), 05.12.2013

In der Gesprächsreihe mit Kritikern trifft David Wolf diesmal auf Daniel Mendelsohn, der unter anderem für die New York Review of Books schreibt. Ein interessanter Einblick in die Schreibwerkstatt eines profilierten Literaturkritikers, der auch mit Ratschlägen für das akademische Curriculum nicht geizt: "Zunächst einmal denke ich, dass Studenten unter allen Umständen von der 'Theorie' ferngehalten werden sollten. Es sollte den Leuten nicht gestattet sein, das Wort 'Theorie' auch nur zu hören, bevor sie ihren Abschluss machen - aus dem guten Grund, dass es unmöglich ist, über Texte zu theoretisieren, bevor man nicht tief mit ihnen vertraut ist (...). Die Studenten sollte man lehren, das, was Texte sagen und wie sie es sagen, auf unverbildete Weise zu schätzen, damit sie dann lernen können, intelligent und klar darüber zu schreiben. Wenn man den Studenten ein Modell zur Auseinandersetzung mit Texten nahe bringen will, dann sollte es das der populären im Gegensatz zur traditionell akademischen Methode sein. Später dann, wenn sie Erfahrungen im close reading haben, wenn sie sich mit einer gewissen Anzahl von Werken auseinandergesetzt haben, sollte man ihnen die Theorie nahebringen. ... Das wäre aufregend. Doch die Eitelkeit von 19-Jährigen zu umschmeicheln, indem man sie denken lässt, sie wüssten irgendetwas von 'Theorie' bevor sie auch nur irgendetwas in angemessener Tiefe gelesen haben, erscheint mir reichlich aufgeblasen. Diese Herangehensweise hat eine ganze Generation von Akademikern hervorgebracht, deren Zugang zur Literatur verächtlich ist."
Archiv: Prospect