Magazinrundschau

So viele geheime Leben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.10.2015. Der Boston Globe liest das unzensierte Tagebuch Iwan Maiskys, russischer Botschafter in London von 1932 bis 1943. In Nepszabadsag erklärt Attila Bartis, warum er 15 Jahre für seinen zweiten Roman brauchte. In Brooklyn Rail erklärt Zhao Liang, wie Dante ihn für seine Bergarbeiterdoku "Behemoth" inspirierte. In der New York Times beschreibt die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort den Homo Sovieticus der Swetlana Alexijewitsch.

Boston Globe (USA), 07.10.2015

Der israelische Historiker Gabriel Gorodetsky konnte sein Glück kaum fassen, als ihm bei der Recherche in einem Moskauer Archiv das unzensierte Tagebuch Iwan Maiskys in die Hände fiel, russischer Botschafter in London zwischen 1932 und 1943. Maisky war nicht nur ein exzellenter Beobachter, sondern auch ein hervorragender Autor, was die Lektüre zu einem Vergnügen macht, so Gorodetsky. Eine seiner Beobachtungen galt Joseph Kennedy, Vater von John F., damals amerikanischer Botschafter in London: "Während der Schlacht um Britannien schätzte Kennedy laut Maisky "die britischen Aussichten düster ein. Er bezweifelt, dass England allein einen langen Krieg durchstehen würde. Er akzeptiert die Möglichkeit einer deutschen Invasion der Inseln. Er hält es für fast unabwendbar, dass England durch Luftangriffe fast völlig zerstört wird. ... Kennedy schalt die britische Regierung, weil sie im letzten Jahr nicht zu einem Einverständnis mit der Sowjetunion gelangt war und nannte die oberen Klassen der britischen Gesellschaft "völlig verrottet". Ein ziemlich unerwartetes Urteil von einem Mann seiner Statur!""
Archiv: Boston Globe

Nepszabadsag (Ungarn), 10.10.2015

Vor fünfzehn Jahren erschien Attila Bartis" grandioser Roman "Die Ruhe". Dreizehn Jahre schrieb an dem Nachfolger, der demnächst in Ungarn erscheint ("Das Ende", Magvető, 2015, 604 Seiten). In der Zwischenzeit hat ein ungarischer Literaturhistoriker behauptet, es gebe (bisher noch nicht veröffentlichte) Dokumente, die bewesen, dass der Vater von Bartis, der Schriftsteller und Dichter Ferenc Bartis, kurz vor und nach der Übersiedlung der Familie von Siebenbürgen nach Ungarn 1984 Berichte für die rumänische Securitate verfasst haben soll. Ferenc Bartis saß nach der ungarischen Revolution 1956 sieben Jahre lang in Rumänien im Gefängnis. Er galt nach der Übersiedlung als einflussreicher Oppositioneller, 2006 starb er. Im Interview mit Sándor Zsigmond Papp erzählt Attila Bartis, wie sehr das alles sein Schreiben beeinflusst hat: "Sechshundert Seiten müssen irgendwie zusammengehalten werden und wenn Ereignisse, die Gefühle des täglichen Lebens so beeinflussen wie mich, dann dauert das eben. Der Tod meines Vaters beispielsweise war ein Augenblick, nach dem ich beinahe wieder von Null anfangen musste. … Auch seine Agentenvergangenheit, die bereits früher auftauchte, nur erschien sie damals als Hirngespinst. Jetzt wurde ich damit in einer absolut unerwarteten und unwahrscheinlichen Situation konfrontiert. Ich möchte darüber aber nicht mehr sprechen, was ich dazu zu sagen hatte, ist im Buch. (...) Jedenfalls musste ich in den letzten drei Monaten gleichzeitig die ursprüngliche Geschichte und die "verbesserte Ausgabe" schreiben, was ich nicht Mal meinem Feind wünschen würde".
("Verbesserte Ausgabe" - eine Anspielung auf Péter Esterházy, der kurz vor dem Ende seiner Familiengeschichte "Harmonia Caelestis" mit der Agentenvergangenheit seines Vaters konfrontiert wurde und daraufhin eine "Verbesserte Ausgabe" nachlegte.
Archiv: Nepszabadsag

Brooklyn Rail (USA), 05.10.2015

Schon in Venedig hat Zhao Liang mit seiner Bergarbeiterdoku "Behemoth" für Aufsehen gesorgt (unser Resümee). Für Brooklyn Rail hat sich nun Lu Yangqiao mit dem chinesischen Dokumentarfilmemacher unterhalten. Dabei schildert dieser unter anderem auch, wie ihm die Idee zu dem Film gekommen war und warum ihn ausgerechnet Dantes "Göttliche Komödie" inspiriert hat: "Ursprüglich stand mir der Sinn nach einer Straßendokumentation, also reiste ich sehr weiträumig durch China, von Xinjiang nach Tibet bis in die Innere Mongolei. Dort angekommen, war ich ganz ergriffen von der Landschaft, die sich mir bot: Die immensen und endlosen Minengruben, nicht eine einzige Spur von Leben. Es fühlte sich an, als befinde ich mich auf einem anderen Planeten. Mich als visuellen Künstler haute das um. ... Jedes Mal, wenn ich dorthin zum Drehen zurückkehrte, sagte ich meiner Produzentin, dass ich "zurück in die Hölle reise", und als sie das Material sah, traf es sie wie ein Schlag, wie beeindruckend ähnlich die Minengruben Dantes "Inferno" waren. Also schnappte ich mir eine chinesische Übersetzung der Commedia und las sie auf meinem Weg in die Innere Mongolei. Die Wirklichkeit deckt sich nahtlos mit dem Gedicht, von der Hölle über das Fegefeuer bis zum Paradies. Nur dass es im Film ein künstliches Paradies ist, daher rührt die Ironie des Ganzen. Über die visuellen Ähnlichkeiten hinaus besteht ein weiterer unglaublicher Zufall darin, dass das Wort "Ordos" im Mongolischen "der Palast im Himmel" bedeutet, und mir hatte immer vorgeschwebt, Ordos als den letzten Teil des Films zu verwenden."
Archiv: Brooklyn Rail

Ceska pozice (Tschechien), 11.10.2015

Přemysl Houda unterhält sich mit dem amerikanischen Psychologieprofessor Philip Zimbardo, der in den 70ern durch das aufsehenerregende Stanford-Prison-Experiment bekannt wurde, bei dem sich Studenten in eine simulierte Gefängnissituation hineinsteigerten und einander quälten. Zimbardo berichtet, wie seine zukünftige Frau ihm damals vorwarf, er sei selbst zum "Gefängnisdirektor" geworden, und ihn dazu brachte, das Experiment abzubrechen. Die Frage, was den Menschen zum Guten oder zum Bösen treibt, beschäftigt den Wissenschaftler indes auch weiterhin. Sein derzeitiges Heroic Imagination Project führe ihn oft nach Ungarn, dem er die "schlimmste Regierung" Europas bescheinigt. "Ich war im Mai dort und habe - vom Flughafen bis nach Budapest hinein - die Plakatwände gesehen, auf denen sinngemäß stand: "Die Immigranten kommen euch die Arbeit wegnehmen." Hunderte dieser Plakate entlang der Straße. (…) Es ist Orbáns Regierung, die dort Angst produziert." Befragt nach der Unmenschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen antwortet Zimbardo: "Schon wenn Sie "Flüchtlinge" sagen, ist das eine Entmenschlichung. Es sind doch Menschen, oder? Es sind "Menschen, die flüchten", keine "Flüchtlinge"."
Archiv: Ceska pozice
Stichwörter: Zimbardo, Philip, Psychologie

Telerama (Frankreich), 11.10.2015

Olivier Pascal-Mousselard unterhält sich mit dem Ethnologen David Graeber, Galionsfigur von Occupy Wall Street, unter anderem über dessen neues Buch, in dem er sich die Bürokratie vornimmt, diese "Geißel des Kapitalismus". Zum Glück, so Graeber, stehe jener aber kurz vor dem Zusammenbruch. Auf die Frage, was darauf folgt, antwortet er: "Ich frage mich weniger, wie man zu seinem Sturz beitragen kann, als vielmehr, wie man sicherstellen kann, dass was ihn ersetzt, besser ist ... In den Achtzigern zerfleischten sich Marxisten aller Couleur über folgendes Problem: Man weiß, dass die Geburt des Kapitalismus mit der Urbanisierung und der Entwicklung des Handels mehr oder weniger auf das Jahr 1500 festgelegt ist, allerdings gibt es vor 1750 eigentlich keine Industrialisierung und Lohnarbeit. Wie hat man zwischen diesen beiden Daten gelebt? Die Antwort scheint mir eindeutig: In diesen 250 Jahren (also 50 Prozent der Lebenszeit des Kapitalismus) wussten die Menschen nicht, dass sie das Modell gewechselt hatten. Folgt man dieser Logik, könnten wir dem Kapitalismus heute entwachsen sein, ohne uns dessen bewusst zu sein. Immer noch dabei, ein neues Modell aufzubauen, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt."

Ein weiteres Gespräch mit Graeber ist auf Rue89 zu lesen.
Archiv: Telerama

Eurozine (Österreich), 12.10.2015

Als Folge von Krypto-Kriegen beschreibt Jamie Bartlett (ursprünglich bei Index on Censorship) die Auseinandersetzung um das freie Internet: Auf den Sieg der Cypherpunks in den 90ern antworteten Geheimdienste und Internetkonzerne mit kompletter Erfassung, doch Bartlett sieht das Pendel schon bald wieder umschlagen: "Bald wird es eine neue Generation von leicht anwendbaren Programmen zur E-Mail-Verschlüsselung geben, wie Mailpile oder Dark Mail. Dann sind da noch Projekte wie Ethereum, das ein neues Netz aus freier Energie und Platz auf den Festplatten von Millionen von Computern schaffen will, die von ihren Besitzern an das Netz angebunden werden. Weil das netzwerk mit starker Verschlüsselung arbeitet und sich über all diese indiviiduellen Rechner verteilt, kann es nahezu unmöglich kontrolliert oder zensiert werden."

Im Interview spricht die türkisch-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib sehr kategorisch, aber doch recht allgemein über die Pflicht des Westens gegenüber Flüchtlingen und Migranten. Dass Wirtschaftsmigration auch zu einem Verdrängungswettbewerb am unteren Ende des Arbeitsmarktes führen kann, glaubt sie nicht. Ihr Beispiel aus den USA: "Jobs für Kindermädchen werden immer öfter von Frauen aus Mittelamerika übernommen, anstatt wie zuvor von schwarzen Amerikanerinnen. Warum? Ich glaube, um es post-marxistisch zu erklären, dass die ökonomische Migration Teil des sozialen Friedens ist, den die verschiedenen Klassen in den Industrienationen zuvor geschlossen haben."

Für Jakub Patocka zeigt die Abwehrhaltung der Osteuropäer gegenüber Flüchtlingen, wieviel sowjetisches Denken noch in ihnen steckt.
Archiv: Eurozine

Film Comment (USA), 02.10.2015

Die Kritiker des Film Comment berichten von ihren Fundstück beim New York Film Festival. Sehr aufschlussreich ist Aliza Mas Interview mit Regisseur Hou Hsiao-Hsien, der seinen neuen, in Venedig bereits gefeierten Film "The Assassin" (unser Resümee) vorstellt. Erstmals in seiner langen Karriere hat der üblicherweise mit einer minimalistischen Filmästhetik in Verbindung gebrachte, taiwanesische Auteur einen Wuxia-Film, also einen chinesischen Schwertkampffilm vor historischer Kulisse gedreht. Damit erfüllte er sich offenbar einen Kindheitstraum, dessen Umsetzung Hou sich akribisch widmete. Zunächst las er noch einmal alle Bücher aus seiner Kindheit über die Tang-Dynastie: "Ich las ein Buch über einen Fuchsgeist, der eine menschliche Gestalt annimmt und sich in einen Mann verliebt. Die anderen Frauen im Dorf werden misstrauisch, was ihre Identität betrifft, weil sie zum Markt geht und Kleidung kauft, statt sie selbst anzufertigen. Davon lernte ich, dass alle Frauen in dieser Zeit ihre Kleidung selbst nähten. Vermittels dieser verschiedenen Ebenen des Verständnisses kann sich die Realität dieser Vergangenheit langsam entwickeln. Alles, was es dazu braucht, ist ein bisschen Vorstellungskraft, um das Bild zu vervollständigen."

Außerdem schreibt Max Nelson über den Fotografen und Videoessayisten Robert Frank, dem ein neuer Dokumentarfilm gewidmet ist. Und Jonathan Romney taucht tief ein in die Ekstasepotenziale von Guy Maddins "The Forbidden Room", denen auch schon unser Filmkritiker Thomas Groh auf der Berlinale erlag.
Archiv: Film Comment

Elet es Irodalom (Ungarn), 09.10.2015

Der Philosoph Mihály Szilágyi-Gál denkt über die "Macht der Bilder" nach. Der Grenzzaun gegen Flüchtlinge und die prügelnden Polizisten - welches Bild von Ungarn vermitteln sie? "Für die Mehrheit der Ungarn, die den Zaun unterstützen, war das vergangene Vierteljahrhundert zwischen den zwei Drähten - dem durchgeschnittenen und dem aufgebauten - nicht lang genug, um zu begreifen, wofür Deutschland uns an jedem Jahrestag neu dankt: für die Freiheit der DDR-Flüchtlinge. Darum kann diese Mehrheit auch nicht verstehen, was Ungarn mit den Bildern von dem neuen Drahtzaun verlor hat: Jene Anerkennung, die das damals als zivilisiert erscheinende Land vor fünfundzwanzig Jahren in Europa in und auf der ganzen Welt errang. Wenn in den nächsten fünfundzwanzig Jahren irgendwo auf der Welt über Ungarn und einen Zaun gesprochen wird, dann wird man nicht das Bild von 1989, sondern jenes aus dem Jahre 2015 assoziieren."

New York Times (USA), 10.10.2015

Die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort porträtiert die Trägerin des diesjährigen Literaturnobelpreises, Swetlana Alexijewitsch und ihr Werk: "Zusammengenommen sind ihre Bücher ein sehr ambitioniertes Projekt - der Versuch die gesamte Sowjetgeschichte aufzuschreiben - Revolution, Gulag, Zweiter Weltkrieg, Afghanistan, Tschernobyl, der Kollaps des Kommunismus. Alles durch die Stimmen von Menschen, die kein Historiker jemals gefragt hat. "Eine Straße ist für mich wie ein Chor, eine Symphonie", so die Autorin. "Eine Schande, dass so viel in die Dunkelheit gesagt, geflüstert und geschrien wird. Für einen Moment scheint es auf und ist weg, heutzutage umso schneller." Sowjetgeschichte hat sich immer als Ideenroman begriffen. Alexijewitsch dagegen befasst sich mit den flüchtigen Details, dem Schock angesichts so vieler geheimer Leben: Dem Ratschlag eines fast verhungerten Mädchens, Pferdemist zu essen (halbgefroren, sagt sie, geht es und riecht nach Heu), dem Geruch des Zweiten Weltkriegs (Traubenkirsche, es war Juli). Ihre Bücher vermessen, wie viel menschliches ein Menschenleben enthält, und erklären: nicht viel. Unter einer dünnen Schicht Kultur, kommt das Animalische zum Vorschein … Alexijewitschs Hauptinteresse gilt dem Homo Sovieticus, der dazu verdammt ist, immer rückwärts zu schauen und seine Vergangenheit als Zukunft zu sehen. Eine, in der er zugleich sein eigenes Opfer und sein eigener Peiniger ist."

Weitere Artikel: Miranda July macht ein schönes, nicht zu langes und verliebtes Interview mit Rihanna (und ihrem Uber-Fahrer Oumarou Idrissa). A.O. Scott unterhält sich mit Elvis Costello. Vanessa Grigoriadis porträtiert Nicki Minaj. Und Wesley Morris denkt über Identitäten im 21. Jahrhundert nach.
Archiv: New York Times