Magazinrundschau

Mächtig sprudelnden Gefühle

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.09.2016. Film Comment überlegt, warum die besten Schauspieler heute kein Method Acting mehr betreiben, sondern Micro Acting. In Nautilus erklärt der niederländische Wissenschaftstheoretiker Bas van Fraassen sein Konzept des Konstruktiven Empirismus. Ohne den Imperialismus des 19. Jahrhunderts hätte es keine Totalitarismen in Europa gegeben, meint Timothy Snyder in Eurozine. Und: Keine Hausaufgaben mehr, fordert Nicholson Baker in der New York Times.

Film Comment (USA), 06.09.2016

Eine ganze Reihe amerikanischer Schauspieler, die eben noch in kleinen Filmen mitspielten und nahezu nahtlos ins Blockbustergeschäft wechselten, zeichnet sich durch auffällige Parallelen in ihrem Spiel aus, ist Shonni Enelow aufgefallen: Jennifer Lawrence, Rooney Mara, Oscar Isaac und Michael B. Jordan spielen kontrolliert, oft verschlossen, mit nur kleinsten Regungen in der Mimik unter weitgehender Vermeidung emotionaler Ausbrüche - ein klarer Unterschied zum expressiven Spiel des Method Actings, wie es einst Marlon Brando, James Dean und Al Pacino groß gemacht haben. Enelow schlägt vor, dies zu lesen als "Reaktion auf eine gewalttätige oder chaotische Umwelt, die keine alternative Vision einer offenen und vielversprechenden Zukunft mehr bietet. Selbst wenn sie sich einer entfremdeten oder gefühlskalten Welt gegenüber sahen, öffneten sich die Schauspieler von früher mit ihren Emotionen gegenüber Kamera und Publikum und vertrauten ihnen implizit, darauf großzügig zu reagieren, sei es mit gespiegelten Emotionen oder menschlichem Mitgefühl. Expressives Schauspiel - zu dem Method Acting zählt - basiert auf der Überzeugung, dass das Publikum einen Zugang zu den Emotionen des Schauspielers möchte. Dahinter steht ein grundsätzlicher Optimismus: Dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir uns gegenseitig die Wahrheit über unsere Gefühle erzählten. ... Zugespitzt gesagt: Method Acting brachte die Vorstellung, die Amerikaner Mitte des 20. Jahrhunderts von sich hatten, auf den Punkt: Von repressiven Normen und psychologischen Blockaden zwar gezügelte, doch schlussendlich ruhmreiche, voll aufblühende Individuen mit einem reichhaltigen Innenleben und mächtig sprudelnden Gefühlen. Im Gegensatz dazu, zeigt uns heutiges Filmschauspiel die Mikro-Reaktionen von Menschen, die sich unspektakulärer Überlebensstrategien bedienen bei dem Versuch, ihre minimalen Bedürfnisse zu befriedigen, koste es, was es wolle."

Außerdem: Ashley Clark spricht mit der Regisseurin Ava DuVarney über deren Dokumentarfilm "The 13th", der sich damit auseinandersetzt, dass eine überproportional hohe Zahl Schwarzer im Gefängnis sitzt.Andrew Chan vermisst im Gegenwartskino den prominent positionierten, griffigen Song. Michael Koresky porträtiert die Kamerafrau Kristen Johnson, die ihre Erfahrungen im Dokumentarfilm "Cameraperson" bündelt. Nick Pinkerton plaudert mit Roger Corman.

Und ja, das ist Maren Ade auf dem Cover.
Archiv: Film Comment

Nautilus (USA), 08.09.2016

Den niederländischen Wissenschaftstheoretiker Bas van Fraassen kennt kaum jemand außerhalb von Philosophenzirkeln. Unter seinen Kollegen ist er dagegen eine Berühmtheit, erklärt Peter Byrne, der van Fraassen für Nautilus interviewt und gebeten hat, sein Konzept des Konstruktiven Empirismus zu erklären: "Mein Hauptpunkt ist, dass man unmöglich das Chaos beschreiben kann, das in der Welt herrscht. Wir können nützliche Theorien und Modelle entwickeln, die empirisch adäquat sind - die uns beispielsweise etwas über das Verhalten sogenannter Elektronen erzählen, ohne dabei sagen zu müssen, was ein Elektron ist. Teile eines theoretischen Modells können als wahr oder falsch beurteilt werden, basierend auf der Vergleichbarkeit der Daten. Aber um nützlich zu sein, um empirisch adäquat zu sein, müssen die Daten nicht in eine allumfassende Theorie über die Organisation der Welt passen. Wissenschaft ist ein groß angelegtes menschliches Unternehmen und wir brauchen Grenzen um festzulegen, wann wir etwas als wahr oder nicht wahr über die Welt um uns herum bezeichnen."
Archiv: Nautilus

Eurozine (Österreich), 12.09.2016

Luka Lisjak Gabrijelcic führt für die slowenische Zeitschrift Razpotja - auf Englisch bei Eurozine - ein sehr instruktives Gespräch mit dem Historiker Timothy Snyder, der unter anderem ausführlich über den Einfluss Hannah Arendts auf seine Bücher spricht. Eine historische Voraussetzung für die Totalitarismen, die den Höhepunkt ihres Vernichtungswahns in den von Snyder so benannten "Bloodlands" erlebten, ist für Arendt und ihn der Imperialismus des 19. Jahrhunderts: "Meiner Meinung nach sagt sie zurecht, dass am Ende des 19. Jahrhunderts etwas Wichtiges mit dem Begriff des 'Reichs' passiert. Im Grunde war das eine Intuition von ihr - basierend auf ihrer Lektüre von Joseph Conrad - , aber ich glaube, sie weist zurecht darauf hin, dass das Rassedenken in den Kolonialreichen eine wesentliche Rolle in der Genese der Totalitarismen spielt. Hitler, und nicht nur er, sieht sich an, was in Afrika und bis zu einem gewissen Grad in Amerika geschieht und wendet die Kategorie eines auf Rasse beruhenden Reichs in einer sehr kruden und vereinfachten Weise auf Europa an. Völlig zurecht betont sie, dass dies nicht ohne die Kolonialerfahrung in Afrika hätte geschehen können."
Archiv: Eurozine

New Yorker (USA), 19.09.2016

In einer Style-Ausgabe des New Yorker fordert Jill Lepore die Präsidentschaftskandidaten auf, bei der ersten "presidential debate" am 26. September nach allen Regeln des guten Geschmacks zu argumentieren, offenbar keine Selbstverständlichkeit: "Um die politische Streitkultur steht es schlecht. Anstatt zu streiten, dauerkommentiert jeder nur noch, wie in den Kommentar-Spalten des Internets. Man twittert lieber als Anhörungen beizuwohnen. Demokratische Kongressabgeordnete, die es nicht schafften, das Repräsentantenhaus dazu zu bewegen, Maßnahmen zur Waffenkontrolle zu diskutieren, organisierten ein Sit-in, live übertragen über eine Video-App. Während der Kampagnen und sogar auf den Nominierungsveranstaltungen, gab es Protestler, die versuchten, andere Redner im Namen der Meinungsfreiheit mundtot zu machen. An Universitäten wurden Leute gefeuert, die unliebsame politische Meinungen vertraten. An High Schools weigerten sich Schüler politische Themen zu behandeln. Einer von drei US-Bürgern lehnt es ab, politische Fragen woanders als im privaten Umfeld zu diskutieren. Weniger als ein Viertel spricht noch mit Menschen, die politisch anderer Meinung sind; weniger als ein Fünftel hat jemals einer Debatte mit anders Denkenden beigewohnt. Das soll eine Demokratie sein?"

Außerdem: Rebecca Mead erklärt den Manierismus von Guccis Kreativdirektor Alessandro Michele. Nick Paumgarten porträtiert den naturbewegten Boss der Outdoor-Bekleidungsfirma Patagonia. Judith Thurman erkundet neueste Annäherungen in Sachen Islam und Mode. Und Ian Frazier macht sich Gedanken über das verführerische Grün der Freiheitsstatue.
Archiv: New Yorker

Nepszabadsag (Ungarn), 09.09.2016

Ab Januar 2017 wird Gergely Prőhle der neue Direktor des Budapester Petőfi Literaturmuseums. Die Bewerbung des ehemaligen ungarischen Botschafters in Berlin und gegenwärtig stellvertretenden Staatssekretärs im Ministerium für Humanresourcen wurde vom Berufungsgremium des Betreibers des Museums, dem Ministerium für Humanresourcen einstimmig angenommen. Prőhle plant u.a. vier größere Ausstellungen über Magda Szabó, János Arany, Lajos Kassák und Albert Wass. Insbesondere Letzterer ist wegen seiner völkischen Gesinnung und seines Antisemitismus in Ungarn umstritten, in Rumänien war Wass gar als Kriegsverbrecher verurteilt worden. Im Interview mit Kácsor Zsolt verteidigt der designierte Museumsdirektor sein Vorhaben: "In Bezug auf Albert Wass ist es nützlich, literaturhistorisch zu untersuchen, warum er in Ungarn über 200 Statuen hat. Das kann eine interessante Frage sein für diejenigen, die ihn nicht lieben, und auch für diejenigen, die ihm Büsten aufstellen. Für eine durch Steuergelder betriebene Institution sind die Besucherzahlen wichtig. Vielleicht können wir hier über Wass sprechen und die mit ihm verbundenen Trivialitäten pro und contra vermeiden. Doch dies ist keine Parteinahme für Wass, sondern eine angegliederte Fragestellung. Wenn uns die Beziehung der ungarischen Gesellschaft zur Literatur interessiert, lohnt es sich zu fragen, warum Wass so eine Kultfigur ist. (...) Das ist für mich aufregend: Zu fragen wie ein Schriftsteller zur Kultfigur des ungarischen öffentlichen Lebens werden kann. Warum nicht - sagen wir - Dezső Kosztolányi zweihundert Statuen hat, aber Wass?"
Archiv: Nepszabadsag

Magyar Narancs (Ungarn), 10.09.2016

Jeder weiß, warum Albert Wass über 200 Statuen hat, ärgert sich der Literaturwissenschaftler und Publizist György C. Kálmán über Gergely Pröhle: "Diese Tatsache ist nicht ganz unabhängig davon, dass die regierende Macht ausgerechnet diesen Kult pflegt und unterstützt. Der machtnahe und durch die Macht ernannte neue Direktor beruft sich noch darauf, wodurch er diesen Kult weiter pflegt und unterstützt."

Das Format des Taschenbuchs - das über eine lange Tradition in Ungarn verfügt - wurde nicht zuletzt durch die zunehmende Verbreitung von E-Books immer wieder als Auslaufmodell bezeichnet. In der jüngsten Vergangenheit jedoch erschienen im Programm unabhängiger Verlagshäuser - so beim Verlag Helikon - Taschenbücher als Auftaktausgaben diverser neuer Reihen. Bence Svébis ging dem offenbar neuen Trend nach und sprach mit mehreren Vertretern von Verlagen: "Helikon will keineswegs gegen E-Books agieren, im Gegenteil, es gibt Titel in der Taschenbuchreihe, die auch als E-Book erhältlich sind. Doch diese sind Konkurrenten, denn das Taschenbuch hat etwas Praktisches, Leichtgewichtiges, das durch seine Funktionalität in dieselbe Richtung weist wie das E-Book. Es ist wie ein Kiesel zwischen Steinen und Felsen. Das Taschenbuch ist so gesehen eine friedenszeitliche Antwort auf das E-Book. In seiner Art ist es wie ein Gluten-freier Gutenberg. (...) Der redaktionelle Ansatz ist vor allem kulturmissionarisch: Man will jungen Lesern eine Grundbibliothek anbieten, die sie auf weitere Werke neugierig macht."
Archiv: Magyar Narancs

Vanity Fair (USA), 06.09.2016

Zu den Aufsehen erregendsten Bruchlandungen im Silicon Valley zählt die Geschichte von Elizabeth Holmes' Theranos, einem Start-up, das versprach, mit neuen Technologien zur Blutanalyse den medizinischen Fortschritt befeuern zu können. Theranos stieg zu einem der heißesten Silicon-Valley-Unternehmen auf und konnte über 700 Millionen Dollar Startkapital einsammeln - bis eine Reportage des Wall Street Journal im vergangenen Herbst den Beweis erbrachte, dass es ein einziger Schwindel war. Woran lag es, dass ein Unternehmen mit windigen Versprechungen so viel Risikokapital bündeln konnte? Nick Bilton hat aufgeschrieben, wie das Spiel funktioniert: "Die Risikokapitalanleger (bei denen es sich meist um weiße Männer handelt) sind sich nicht wirklich sicher, was sie eigentlich tun - schließlich ist es unmöglich, das nächste große Ding mit absoluter Sicherheit vorherzusagen. Also setzen sie ein wenig Geld auf jede Firma, die ihren ausreiched Hoffnung bietet, den großen Treffer zu landen. Die Unternehmer (ebenfalls fast immer weiße Männer) befassen sich mit viel bedeutungslosem Zeug, zum Beispiel Code, der Frozen Yogurt zügiger zu liefern imstande ist oder Apps, die es Dir gestatten, Deinen Freunden ein 'Yo!' (und nur ein 'Yo!') zukommen zu lassen. Die Unternehmer blasen ihre Versuche dann auf, indem sie behaupten, dass ihre Erfindung die Welt ändern könnte, was die Risikokapitalanleger beruhigt, denn die können sich dann einreden, dass sie ja nicht nur des Geldes wegen investieren. Und dies wiederum übt großen Reiz auf den Tech-Journalismus aus (ebenfalls fast ausschließlich weiße Männer), der das das Spielchen gerne mitspielt..."

Außerdem mutmaßt William D. Cohan darüber, ob Arianna Huffington die Huffington Post auch deshalb verlassen hat, weil sie ihre Freund- und Seilschaften im Newsroom gegenüber ihren Journalisten ein wenig zu drakonisch in Schutz nahm. Und William Langewiesche porträtiert einen Hacker in den Frontlinien des DarkWeb.
Archiv: Vanity Fair

Rue89 (Frankreich), 04.09.2016

Sind die Kommunikationsarchivalien von Handys und Facebook und Co. dabei, zur Grundlage von Literatur und wissenschaftlicher Forschung zu werden? Der Sozialwissenschaftler und Schriftsteller Ivan Jablonka jedenfalls arbeitet damit und erzählt in seinem Buch "Laëtitia ou la fin des hommes" die - wahre - Geschichte der brutalen Ermordung des Mädchens gleichen Namens im Jahr 2011. Quelle dafür sind ihre Facebookseite und ihre noch kurz vor ihrem Tod verschickten SMS. Im Gespräch mit Claire Richard erklärt der Autor, wie er vorging. "Man erschließt sich ein solches Dokument, indem man es in Kontexte stellt: einen persönlichen Kontext (Laëtitias Leben), einen soziologischen (ein junges Mädchen aus einer bestimmten Generation und einem bestimmten sozialen Milieu) und einen historischen (ein Mädchen, das sein 'Ich' in Szene setzt, wie andere vor ihm). Das ist die Methode der Erfassung. In diesem Sinne ist der Wissenschaftler ein Verwandter des Journalisten und des Ermittlungsrichters."
Archiv: Rue89

New York Times (USA), 11.09.2016

Die neue Ausgabe des New York Times Magazines ist der Schulbildung gewidmet. In einem Beitrag erzählt der Schriftsteller Nicholson Baker, wie ihn die Arbeit als Aushilfslehrer geprägt und was er daraus gelernt hat: "Schulzeit ist verdichtete Zeit, stickig, selbstreferenziell. Jeder Tag ist wie der andere, Tag um Tag Arbeitsblätter. Am Ende haben die Schüler 13 Jahre lang Arbeitsblätter ausgefüllt. Wer sich im Klo versteckt, bekommt Ärger. Ganze Hierarchien der Strafe entstehen, Elternanrufe, Suspension. Was all das erträglich macht, sind die Schüler selbst. Sie sind erfinderisch darin, sich selbst zu unterhalten, sie finden Verbündete, sie rebellieren, sie unterlaufen das System, wo sie können. Sie lernen systematisch, Arbeit zu vermeiden … Lasst uns die Hausaufgaben für immer abschaffen und uns den kleinen Lektionen des Lebens öffnen. Zu lernen, wie man ein Kanu fährt, einen Wasserhahn repariert, einen Kuchen backt oder jemanden tröstet, ist so viel wichtiger als sämtliche Schichten der Atmosphäre zu kennen, sogar für einen zukünftigen Physiker. Und wie alle einprägenswerten Fähigkeiten, ist all das am besten zu lernen, wenn die Schule aus ist."

Außerdem: Jenna Wortham berichtet, dass es schwulen oder transsexuellen Teens an ihren Schulen noch immer nicht besonders gut ergeht. Es gibt ein Dossier über Immigranten an amerikanischen High Schools. Susan Dominus kennt neue, weniger autoritäre Wege, um Schüler zu disziplinieren. Und Nico Young hat die Rituale des High-School-Daseins an der Westküste in wunderbaren Bildern festgehalten.
Archiv: New York Times