Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2002. In der Zeit erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman die zunehmenden Einkommensunterschiede in den USA für kontraproduktiv. Die taz untersucht den neuen französischen Film und findet - Arbeit. Die SZ plädiert gegen Hans-Ulrich Wehler für die Versöhnung von Islam und Verfassungsstaat. Ebenso die FR. Die FAZ findet Italien viel schlimmer als die Türkei.

Zeit, 07.11.2002

Der interessanteste Text in der heutigen Zeit ist eine Übernahme aus der New York Times: Der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman (hier seine Seite in Princeton) analysiert im Wirtschaftsteil die zunehmenden Einkommensunterschiede zwischen dem amerikanischen Durchschnitt und den Reichen in den USA. Der Durchschnitt hat vom Boom nicht profitiert, und die Krise verschärft das Problem: "Selbst wenn man die große Ungleichheit in den USA als den Preis ansieht, den wir für unsere große Wirtschaftskraft bezahlen, ist nicht klar, dass das Ergebnis diesen Preis wert ist. Denn die Ungleichheit in den USA hat ein Niveau erreicht, das kontraproduktiv ist."

Zum Feuilleton: Mit einem Besinnungsaufsatz zum Tag der deutschen Befindlichkeit, dem 9. November, hat die Redaktion den amerikanischen Lyriker C. K. Williams beauftragt. Er hält die von Martin Walser so herbeigesehnte "Normalität" der Deutschen für eine Schimäre. Normalität komme den Deutschen schon deshalb nicht zu, weil sie durch den Holocaust zu einem "symbolischen Volk" geworden seien, "ähnlich wie die Juden". Die Anomalie der Deutschen erkläre sich weniger aus ihrer Schuld als aus der Tatsache, "dass sie wie die Juden eine jener Entitäten sind, die nicht dadurch definiert werden, was sie tatsächlich sind oder tun, sondern durch das, wofür sie stehen. Eher als alles andere sind 'die Deutschen' ein Emblem, ein Zeichen."

Weitere Artikel. Jens Jessen fühlt sich irgendwie unwohl bei dem Gedanken, dass Claudia Schiffer um Spenden für das Holocaust-Mahnmal wirbt. Theo Sommer, Georg Blume und Chikako Yamamoto unterhalten sich mit chinesischen Intellektuellen über die Stimmung im Lande vor dem 16. Parteitag der KP (sehr Genaues ist hier leider nicht zu erfahren). Jörg Lau erzählt, wie die CSU in die Berufungspolitik beim renommierten Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Münchner Uni eingreift.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Ödön von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" in Wien, Wolfgang Wolfspergers Dokumentarfilm "Bellaria", Peter Konwitschnys Hamburger "Meistersinger"-Inszenierung, Tanzabende der Merce Cunningham Dance Company auf Europa-Tournee, eine Austellung des französischen Videokünstlers Pierre Huyghe im Kunsthaus Bregenz und die Ausstellung "Westfalens Aufbruch in die Moderne" im Landesmuseum Münster.

Aufmacher des Literaturteils ist Volker Ullrichs Besprechung von Richard Fords Roman "Eine Vielzahl von Sünden". Im politischen Teil warnt Michael Naumann (wie immer stark gewürzt und ungekürzt): "Amerika sichert seine Großmachtstellung für alle Zukunft". Auf der Zeitläufte-Seite erzählt der Historiker Manfred Berg die Geschichte der Beziehungen zwischen Saddam Hussein und den USA, die keineswegs immer so schlecht standen wie heute.

SZ, 07.11.2002

Gustav Seibt wiederspricht in einen polemischen Essay dem Historiker Hans-Ulrich Wehler und dessen wiederholt vorgetragenen Argumenten gegen die Aufnahme der Türkei in die EU (siehe FAZ vom 5.11. in unserer Presseschau und taz vom 10.9.02). Seibt verweist auch auf Spanien: "1975, beim Tod Francos, sprach alles dagegen, dass aus Spanien ein stabiler Rechtsstaat werden könne; es war auch die Aufnahme in Europa, die das Land nachhaltig demokratisierte. In Spanien wiederholte sich, was in Deutschland vorexerziert wurde und was auch für die Türkei gelten könnte: Die Demokratisierung der Gesellschaft folgt der Einführung eines überzeugenden demokratischen politischen Systems mit Zeitverzögerung nach. .... Die Türkei ist eine instabile, in der Gesellschaft schwach fundierte Demokratie, ein sehr lückenhafter Rechtsstaat. Europa hat im Zusammenwirken mit einer islamischen Führung die Chance, eine welthistorisch folgenreiche Entwicklung, an der wir alle Interesse haben müssen, voranzubringen: die modellhafte Versöhnung von Islam und Verfassungsstaat."

Weitere Artikel: Ulrich Kühne berichtet von einer wunderbaren Wissenschaftsaffäre, die man als Rache für die Schmach von Sokal verstehen kann (mehr hier), der die postmodernen Geisteswissenschaftler vorgeführt hatte, indem er Pi für "historisch" erklärte: Die Zwillingsbrüder Igor und Grichka Bogdanov, beide Wissenschaftsjournalisten, haben nun ein paar völlig hahnebüchene Aufsätze im Jargon der theoretischen Physik und frei von tiefergehenden Fachkenntnissen veröffentlicht und dafür einen Doktortitel der Universität von Dijon erhalten (mehr zum Beispiel hier). Reinhard Schulz legt der neuen Kulturstaatsministerin Christina Weiss den überschuldeten Deutschen Musikrat ans Herz, dem ohne Strukturreform und ein neues Finanzierungsmodell das Aus drohe. Fritz Göttler war auf der Beerdigung von Andre de Toth, einem der letzten großen Hollywoodianer, der vergangenen Freitag auf dem Friedhof von Forrest Lawn, neben dem alten Burbank-Studiogelände begraben wurde.

Stefan Koldehoff berichtet von Auseinandersetzungen zwischen Lissitzky-Sohn Jen und den Verkäufern des Nachlasses seines Vaters, denen Lissitzky Betrug vorwirft. Lothar Müller schreibt einen Nachruf auf den Tübinger Literaturwissenschaftler Richard Brinkmann. Gustav Seibt begrüßt die "überfällige" Verleihung des diesjährigen Geschwister-Scholl-Preises an den Historiker Raul Hilberg, und der britische Künstler Douglas Gordon beschließt die zwölfteilige Serie "Kunst in der SZ" mit einer ganzseitigen (und leider nicht im Netz stehenden) Textarbeit mit dem Titel "The Air is Blue".

Besprechungen gelten Douglas Wolfspergers Dokumentarfilm über ein altes Wiener Kino "Bellaria. Solange wir leben!" Adam Shankmans Film "A Walk To Remember", dem zweiten Spielfilm des berühmten australischen Werbe-Filmers Ray Lawrence "Lantana" (hier ein Interview mit Hauptdarstellerin Barbara Hershey), der Klima-Ausstellung "Das Experiment mit dem Planeten Erde" im Deutschen Museum München und auf der Literaturseite einer Zola-Ausstellung in der Pariser Bibliotheque Nationale.

FR, 07.11.2002

Ulrich Speck setzt sich ebenfalls mit den Positionen Hans Wehlers auseinander, der vehement gegen einen EU-Beitritt der Türkei eingetreten ist. "Dass die Deutschen sich zu Musterdemokraten entwickeln würden, hätte 1945 keiner so recht geglaubt. Und dass Osteuropa nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft einen alles in allem geglückten Transformationsprozess hinkriegen würde - abgesehen von Balkan und Tschetschenien -, hätte man 1989 auch nicht unbedingt angenommen. Die Politik steht eben immer 'vor vielen Unbekannten', und da sich Geschichte nicht einfach wiederholt ... kann man sich nicht darauf verlassen, aus dem Vergangenen das Zukünftige hochzurechnen." Für Speck hängt der Weg, den die Türkei künftig geht, "den des Westens oder den des Islamismus, ... ganz wesentlich davon ab, ob man ihr die Tür zur EU öffnet."

Weitere Themen: Die Kolumne Times Mager fragt, was Strindbergs "Nora", die Mutter aller Emanzipationsdramen, zum Bühnenrenner der Spielzeit 2002/03 macht (und bleibt ratlos), Konrad Lischka kommentiert die Niederlage der Demokraten bei den Wahlen zum Amerikanischen Repräsentantenhaus.

Besprochen werden: Die Inszenierung von Aischylos' "Die Perser" als Satyrspiel zum 11. September von "hobbypopMUSEUM" ("eine mobile Düsseldorf-Londoner Einsatztruppe, deren Elan vital sich in den Nischen des Kunstbetriebs amöbenhaft ausbreitet") an den Münchner Kammerspielen, verschiedene Grazer Kunstausstellungen, die zeigen, dass der "steirische herbst" auch mit den Mitteln der Kunst dem Festival-Motto "Fremdkörper" nachgeht, Fatih Akins Filmkomödie "Solino" und der Spielfilm von Ray Lawrence "Lantana". 

TAZ, 07.11.2002

Annett Busch sieht im aktuellen französischsprachigen Kino eine neue Tendenz: Es "stellt sich wieder die Frage nach der Arbeit und deren sozialen Abdrücken. Die Ergebnisse sehen anders aus als vor einigen Jahren. Abstrakter, denn das Körperliche an der Arbeit wie an den Filmen ist verschwunden. Bei Filmen wie 'Rosetta', 'La Vie de Jesus', 'Humanite', 'La Promesse' oder 'Seul Contre Tous' waren es vor allem die existenziellen Kämpfe erwerbsloser, oft verzweifelter Individuen, die mit all ihrer Körperlichkeit ins Bild gerückt wurden... Nun geht die Kamera wieder auf Distanz, richtet ihren Blick auf Zusammenhänge, familiäre und gesellschaftliche. Arbeit ist dabei allgegenwärtig, ohne explizit gezeigt zu werden. Sie durchdringt und strukturiert das Leben der Protagonisten. Diese haben keine Zeit mehr für Träume oder (Liebes-)Geschichten, die sich im alltagsfreien Raum abspielen. Die Menschen sind müde. Sie wenden alle Energie auf, um ihren Lebensstandard irgendwie zu halten. Die Filme heißen nun: 'Milch der Zärtlichkeit' von Dominique Cabrera, 'Bord de Mer' von Julie Lopes-Curval, 'Voltaire ist schuld' von Abdel Kechiche, 'Ressources Humaines' von Laurent Cantet."

Weiteres: Dirk Knipphals beleuchtet die aktuelle Werbebotschaft des neuen Werbe-Spots eines Multimediamarktes und die Frage, warum Geiz geil ist. Ralph Bollmann schreibt über eilig errichtete Zeltstädte für italienische Erdbebenopfer, die für ihn der augenfälligste Ausdruck der alltäglichen Katastrophe staatlichen Versagens sind, Niels Boeing erklärt auf der Internetseite den wahren Unterschied zwischen Apple und Microsoft.

Besprochen werden: Roger Michells Spielfilm "Spurwechsel", Fatih Akins Migrantenkomödie "Solino" und Rick Rosenthals Horrorfilm "Halloween: Resurrection".

Und TOM.

NZZ, 07.11.2002

Heute fast nur Besprechungen in der NZZ. Besonders ausgiebig und leidenschaftlich widmet sich Christoph Fellmann dem Blues-Rebellen Chris Thomas King, der - so Fellmann "die Blues-Mythologie der Backdoor Men und der unheimlichen Begegnungen an den Strassengabelungen in die Gegenwart" hole und dabei auf die "Seelenverkäufer des Hip-Hop-Geschäfts" treffe. "Zu sanften, vom schwülen Atem des Mississippideltas berührten Grooves teilt er diesen 'Sell out Niggers' in 'II World Rap' mit, was von ihnen zu halten ist: 'You ain't nothin' but a slave.'"

Über den offenen Brief von sechshundert prominenten Schriftstellern und Künstlern an den Präsidenten von Urugay berichtet "pd": Es geht um die Leiche der Schwiegertochter von Juan Gelman, dem argentinisch-jüdischen Schriftsteller. Die Hochschwangere war im August 1976 entführt und verschleppt worden, das Kind verschwand kurz nach der Geburt und wurde erst 2000 unter Mithilfe der Weltöffentlichkeit wiedergefunden. "Heute fordert Juan Gelman die Herausgabe der sterblichen Überreste der Ermordeten, um sie menschenwürdig zu beerdigen." Dass dafür sechshundert Intellektuelle notwendig sind...

Auch die neueste CD des Gitarristen Robin Williamson wird vorgestellt, Philippe Herreweghe und sein Orchestre des Champs Elysees waren in Zürich zu hören, und die Ausstellung über das flämische Stilleben in der Essener Villa Hügel wird gewürdigt. Außerdem werden sechs Bücher besprochen, darunter der autobiografische Roman von J. M. Coetzee, eine Revision der Bibel anhand neuerer Ausgrabungen und eine Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen des Collegium Musicum in Luzern (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 07.11.2002

"Warum diskutiert man in Deutschland eigentlich über die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union? Hat die EU nicht längst im eigenen Haus, was sie nicht hineinlassen will?" fragt Dietmar Polaczek und blickt nach Italien. Dort wurde gerade im Parlament über "die Rechtmäßigkeit des 'legitimen Verdachts'" abgestimmt. Das Gesetz wurde angenommen - mit Hilfe von Pianisten. "Wissen Sie, was ein Pianist ist? Das ist doch ganz einfach. Pianisten, auch im Parlament, sind Menschen, die auf mehr als eine Taste gleichzeitig drücken, um die richtigen Harmonien hervorzubringen. Anders gesagt: jene Abgeordneten, die bei der elektronischen Abstimmung mittels Tastatur (Ja - Nein - Enthaltung), deren Ergebnis unmittelbar auf einer großen Anzeigetafel erscheint, nicht nur die eigenen Knöpfe drücken, sondern unerlaubterweise auch jene des Sitznachbarn und Fraktionskollegen, der gerade Wichtigeres zu tun hat, also verreist ist, ein Interview gibt oder einen Espresso zu sich nimmt."

Hannes Hintermeier wundert sich über die "Überraschungseier", die Random House seinen Mitarbeitern immer wieder ins Nest legt. Nachdem Peter Olson vor wenigen Monaten die Führungsstruktur umgebaut hatte, gibt es jetzt wieder einen Wechsel, der wohl von Gütersloh angeordnet wurde, meint Hintermeier: Arnold Kiel, vor gerade mal acht Monaten von Olson als Chairman und CEO der Verlagsgruppe Random House installiert, muss gehen. Seine Aufgaben übernimmt Joerg Pfuhl (mehr hier). "Kurze Zeit nach Siegfried Unselds Tod sahen sich noch einmal all jene bestätigt, die Bertelsmann eher für eine Fabrik als für einen wirklichen Verlag halten - wenn das Führungspersonal offenbar dermaßen beliebig ist", kommentiert Hintermeier den Vorgang. Zugleich berichtet er, dass Olson erklärt haben soll, "man werde die Konkurrenz übernehmen, auch wenn die davon noch keine Ahnung habe. Das wären dann zunächst wohl die besagten Springer-Verlage (Heyne, Ullstein, Econ, List und andere mehr)."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann zieht eine erste Zwischenbilanz des Pariser Theaterherbstes. LL. hat sich den neu geordneten Bestand der Neuen Nationalgalerie in Berlin angesehen und findet "befriedetes Gelände". Andreas Rossmann war auf einer Tagung über die "Potentiale des Utopischen" in Hagen. Auf der letzten Seite stellt Thomas Rietzschel die Deutsche Gesellschaft für Qualität vor, Oliver Tolmein porträtiert den Juristen und Grünen Wilhelm Achelpöhler, und Eduard Beaucamp warnt vor der "Beutelust" des unbeschreiblich reichen Getty-Museums, das den Engländern die Nelkenmadonna von Raffael und den Deutschen womöglich die Darmstädter Madonna Holbeins wegkaufen will.

Auf der Filmseite liefert Hans-Jörg Rother Eindrücke vom Cottbuser Festival des osteuropäischen Films, Johanna Adorjan hat sich mit Joaquin Phoenix ("Army Go Home") unterhalten, und Andreas Kilb schildert achselzuckend das neue Dogma-Regelwerk (hier als pdf) für Dokumentarfilme von Lars von Trier. Auf der Medienseite erklärt Eva Menasse die Unterschiede zwischen deutschen und österreichischen Fernsehduellen (die österreichischen scheinen bedeutend amüsanter zu sein), und Joachim Herr berichtet über den Prozess gegen die Brüder Haffa.

Besprochen werden Helena Waldmanns "fabelhaftes" Tanzstück "Invasion der Pinguine", eine "amüsante und aufschlussreiche" Ausstellung von Erotika, Gotteslästerungen und linken Schriften aus dem "Giftschrank" der Bayerischen Staatsbibliothek, Fritz Lehners Film "Jedermanns Fest", der in Österreich zum besten Film des Jahres gekürt wurde, die von Catherine David kuratierte Ausstellung über Kunst und Alltag im Libanon, die im Witte de With Museum in Rotterdam gezeigt wird, der australische Tanzfilm "Lantana", die Uraufführung von Dieter Schnebels "Missa brevis" in Kassel, zwei Ausstellungen über die Deutschen Werkstätten und FSB-Griffe (das sind Türklinken) im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt und Bücher, politsche Bücher, Reisebücher und Hallgrimur Helgasons Roman "101 Reykjavik" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)