Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2005. Cannes kann anfangen. In der Zeit schildert Wim Wenders seine schönsten Festivalerlebnisse. Außerdem stellt die Zeit Christoph Hochhäuslers Festivalbeitrag "Falscher Bekenner" vor. In der FAZ  sieht Peter Glotz eine neue Arbeiterbewegung heraufdämmern - und was dann? In der taz misst Norbert Frei am Beispiel Albert Speers die Differenz zwischen dem, was Historiker wissen, und dem, was ins allgemeine Bewusstsein dringt. In der SZ sagt Adolf Muschg kluge Dinge über Europa.

Zeit, 12.05.2005

Georg Seeßlen hat die letzte Folge der "Star Wars", die am Wochenende in Cannes Premiere hat, zwar auch noch nicht gesehen, weiß aber schon jetzt, dass die Geschichte zu Ende erzählt ist: "Sie hat sich in eine mythische Endlosschleife verwandelt, in der es einem weder gelingen will, noch einmal Kind zu werden, noch gar 'erwachsen' zu werden." Das Kino steht auch sonst wegen Cannes im Mittelpunkt: Katja Nicodemus stellt einen deutschen Beitrag zur Nebenreihe "Un certain regard" vor, Christoph Hochhäuslers "Falscher Bekenner", ein offensichtlich schweigsamer und sozialkritischer Film über einen Jugendlichen aus trübster Provinz, der seiner Existenz durch falsche Bekennerbriefe eine gewisse Würze verleiht. Und Wim Wenders schildert auf einer ganzen Seite seine schönsten Cannes-Erlebnisse.

Weitere Artikel: In einer kleinen Glosse verweist Michael Mönniger auf eine Polemik Jürgen Habermas' aus dem Nouvel Obs gegen die französischen Gegner der EU-Verfassung, die auf deutsch jetzt im Perlentaucher nachzulesen ist. Thomas E. Schmidt bedauert, dass das Goethe-Institut die Zeitschrift Kafka (aktuelles Heft), die sich mit Osteuropa befasste, einstellt. Der Schriftsteller Jakob Hessing, Leiter der deutschen Abteilung an der Hebräischen Universität Jerusalem, blickt zurück auf 40 Jahre deutsch-israelischer Kulturbeziehungen. Claus Spahn zieht eine Bilanz des Wirkens Ingo Metzmachers und seines Lieblingsregisseurs Peter Konwitschny an der Hamburger Oper. Franz Schuh verfolgt die österreichische Stimmungslage durch 60 Jahre seit dem Kriegsende, 50 Jahre seit dem Staatsvertrag und zehn Jahre seit der EU-Mitgliedschaft. Volker Ullrich resümiert eine offensichtlich recht heftige Diskussion zwischen den Historikern Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler in Frankfurt. Renate Klett porträtiert den Schweizer Regisseur Ruedi Häusermann, der sich jetzt in Basel mit Karl Valentin befasst.

Aufmacher einer kleinen Literaturbeilage ist Ulrich Greiners Besprechung von Orhan Pamuks Roman "Schnee". Und dort wo sonst die Literaturseiten stehen, darf sich heute mal die Musik tummeln.. Besprochen werden zum Beispiel eine Keith-Jarett-DVD-Sammlung, ein Album des malischen Sängerpaars Amadou & Mariam, eine CD mit Kammermusik von Giacinto Scelsi und eien Listz-CD des Pianisten Denis Matsuev.

Weitere Besprechungen gelten einer Oper nach Orwells "1984" von Lorin Maazel in London, einer Ausstellung mit Fotografien Jeff Walls im Schaulager Basel und einer Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, die darlegt, was das sympathische kleine Land den dort lebenden Juden bis heute zumutet ("Noch heute wird in diesem Land 'der Führer' in Salzteig 23 mal 16 mal 2,5 Zentimeter groß gebacken, bemalt, lasiert, ein Loch im Kopf mit Goldkordel zum Aufhängen, Handelspreis am 11. November 2004: 100 Euro", konstatiert ein bestürzter Peter Roos).

Im Wissen-Teil versucht Urlich Schnabel zu erkunden, "warum Menschen glauben" (gibt es zum Beispiel ein "Gottes-Gen"?). Ein Interview mit dem selben Journalisten veranlasst das Gehirn des Hirnforschers Wolf Singer, seinen Besitzer bekennen zu lassen, dass er Mitglied einer Akademie ist, die Benedikt XVI. berät.

FAZ, 12.05.2005

Was ist, wenn trotz aller möglichen Reformen eine große strukturelle Arbeitslosigkeit bleibt, fragt Peter Glotz und malt ein düsteres Szenario aus: "Eine neue RAF, die Roland Berger befürchtet, ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern insgesamt schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen, wie einst der unpolitische Mordversuch an Rudi Dutschke zu Ostern 1968."

Andreas Kilb gibt einen Vorgeschmack auf die kommenden Tage in Cannes und erinnert die Leser daran, dass dieses Festival immer und für jeden auch ein Markt ist: "Die internationalen Einkäufer von Lars von Triers 'Manderlay' jedenfalls mussten sich vertraglich verpflichten, noch einmal ein Viertel auf den Kaufpreis draufzulegen, falls der Film hier den Hauptpreis gewinnt. In Cannes geht es, wenn es um Kunst geht, niemals nur um Kunst."

Weitere Artikel: Auf Seite 1 des politischen Teils fragt Patrick Bahners: "Wie lässt sich die Wirkung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beschreiben?" In der Leitglosse lässt Jürgen Kaube seinen Humor auf den Regierenden Bürgermeister Berlins Klaus Wowereit niedersausen, dessen Kalender von einem Gericht nicht als Akte und darum auch nicht als öffentlich einzusehen eingestuft wurde. Thomas Wagner stellt die Pläne zur Neuordnung der Kasseler Museen vor. Dieter Bartetzko stellt das von den Architekten Sauerbruch und Hutton entworfene neue Bundesumweltamt in Dessau vor. Joseph Hanimann schreibt aus Paris über die Abschaffung des Pfingstmontags und die Widerstände dagegen (dabei haben die Franzosen auch noch den 8. Mai und den 11. November!) Wolfgang Schneider hörte in Berlin einem Vortrag des Literaturwissenschaftlers Joachim Utz zu, der durch Übersetzungen neue Erkenntnisse über literarische Texte gewinnen möchte.

Für die Kinoseite wurde Andreas Kilb von seiner Zeitung nach Australien geschickt, um über eine dort laufende Reihe deutscher Filme zu berichten ("Jede Vorführung des 'Untergangs' war ausverkauft"). Andreas Rossmann bietet Streiflichter von den Kurzfilmtagen Oberhausen. Und Peter Körte meditiert über ein allgemein schwieriges Kinojahr mit allenthalben rückläufigen Zuschauerzahlen.

Auf der Medienseite porträtiert Nina Rehfeld die politische Kommentatorin Ann Coulter als einzige Waffe der amerikanischen Rechten gegen Michael Moore. Und Florentine Fritzen meldet, dass der Fernsehkonsum der Kinder seit einigen Jahren nicht mehr gestiegen ist.

Auf der letzten Seite erinnert Theordor Stemmler an den Limerick-Erfinder Edward Lear. Hannes Hintermeier schildert das Medientreiben in Marktl, dem Geburtsort Benedikts XVI. Und Edo Reents würdigt das Lebenswerk des Popsängers und -schreibers Albert Hammond ("It Never Rains in Southern California"), der eine neue CD heruasgebracht hat.

Besprochen werden Francesco Cavallis Musikdrama "La Calisto" in München, eine Auftritt Herbie Hancocks in Frankfurt, das Punkmusical "Gabba Gabba Hey" in Berlin und Deborah Warners Inszenierung von Shakespeares "Julius Cäsar" im Londoner Barbican Centre.

Wir verlinken auch auf Helmut Schmidts und Rainer Barzels Polemik gegen "Talkshowpolitiker", die bereits gestern im politischen Teil erschienen ist,

Welt, 12.05.2005

Allen, die die Karriere des Albert Speer schönreden, sagt es die Historikerin Susanne Willlems noch einmal ganz deutlich: "Speers Weg vom Architekten für den Berliner Hauptstadtbau zum Rüstungsdiktator des totalen Kriegs ist in bruchloser Folge gepflastert mit Initiativen zur Vernichtung jüdischer Existenz. Der Aussagekraft der archivalischen Hinterlassenschaft seiner Behörden nach entwickelte Speer seine antijüdische Politik, indem er sein prestigeträchtiges wie lukratives Interesse an der Durchsetzung der 'Germania'-Pläne oder des 'Rüstungswunders' mit der ab 1933 manifesten Judenfeindschaft verknüpfte."
Stichwörter: Speer, Albert

FR, 12.05.2005

"In ihren herausragenden Stationen erinnert die Ausstellung an den Eisberg von Jean Baudrillard: Das Gute liegt sichtbar über dem Wasserspiegel, das Böse unsichtbar, groß und tückisch darunter", feiert Silke Hohmann die Schau "Populism" im Frankfurter Kunstverein. Doch es gehe in der Betrachtung populistischer Phänomene nicht allein um die "selbst verschuldete Unmündigkeit des Menschen, festgehalten etwa in den Fotografien des Journalisten Otto Snoek, der beschämend hineinblitzt in Menschengruppen in ihren unansehnlichsten Aggregatzuständen, sprich: Frauen beim Schuh-Schlussverkauf, Männer beim Rudeltrinken. Sondern 'Populism' handelt immer auch vom Ausstellungsmachen selbst, zwischen Anspruch, Ökonomie und Entertainment. Was dabei keineswegs immer gefällig zu sein hat - schließlich gehören Verstörung und Provokation längst zur durchschnittlichen Erwartungshaltung des Kunstpublikums."

Andere Themen: Daniel Kothenschulte berichtet von den 51. Oberhausener Kurzfilmtagen und verabschiedet den amerikanischen Trickfilmkünstler Joe Grant. In der Kolumne Times Mager glossiert Joachim Lange das Quietschen und Scheppern des Münchner Intendantenkarussels. In der FR-Plus unterhält sich Jürgen Otten mit dem Dirigenten Christian Thielemann.

Besprochen werden David O. Russels Film "I Heart Huckabees" (in der FR-Plus gibt es ein ergänzendes Gespräch mit dem Regisseur), Florian Gallenbergers Film "Schatten der Zeit" und Simone Bittons Dokumentarfilm über die israelische "Mauer".

TAZ, 12.05.2005

Der Münchner Historiker Norbert Frei ist fasziniert von der gegenwärtigen Debatte um Albert Speer und dessen Mittäterschaft an den Naziverbrechen. Denn sie zeigt ihm "den großen Unterschied zwischen dem, was die Geschichtswissenschaft hervorbringt, und dem, was ins allgemeine Bewusstsein dringt. Denn die wichtigsten Zusammenhänge, die belegen, dass Speer ein führender Täter im NS-Regime war, sind, anders als es jetzt teilweise dargestellt wird, seit mehr als 20 Jahren bekannt. Schon 1982 hat das Buch von Matthias Schmidt mit dem 'Mythos Speer' ziemlich aufgeräumt, und die Fachwissenschaft hat daran ohnehin nie geglaubt. Die eigentlich spannende Frage ist deshalb, warum die großen Medien erst jetzt - oder gerade jetzt - das Thema Speer in dieser Weise aufgreifen."

Weiteres: Cristina Nord liefert Stimmungsbilder vom Strand der Festivalmetropole Cannes und Matthias Echtershagen schreibt eine Postkarte aus Kasachstan von einer schicken Konferenz mit dem Titel 'Eurasien Media Forum', die von der "Präsidententochter und Medienzarin" Dariga Nasarbajewa veranstaltet wurde. Der Journalismus in Kasachstan war kein Thema.

Besprochen werden Eytan Fox Film "Walk on Water", der Dokumentarfilm der Israelin Simone Bitton über die "Mauer" in Israel, David O. Russels Filmkomödie "I Heart Huckabees" ("Grandioser Quatsch", meint Andreas Busche, Dietmar Kammerer interviewt dazu Regisseur Russel).

Und Tom.

NZZ, 12.05.2005

Am 7. Juni wird in Großbritannien zum zehnten Mal der ausschließlich Frauen vorbehaltene Orange Prize vergeben. Wie Georges Waser berichtet sorgt für aufgeregte Debatten im Vorfeld die Anthologie "New Writing", in dessen Vorwort die Herausgeber klagen, das meiste ihnen von Frauen zugesandte Material sei enttäuschend bieder, ja 'infernalisch bedrückend' gewesen. Wochenlang wurde debattiert, wie gut oder schlecht Frauen schreiben, was A.L. Kennedy auf die Palme gebracht hat, wie Waser schreibt: "' There is no such thing as women's writing' - genauso gebe es auch keine linkshändige Literatur. Kennedy gesteht, sie habe eben erst 'Anna Karenina' gelesen; und es wäre ihr nie eingefallen, dahinter eine Frau als Autorin zu vermuten, nur weil der Roman von Herzensangelegenheiten und dem häuslichen Leben einiger verwandter Familien handle. Wenn jemand behaupte, solches sei das Spezialgebiet von Frauen, bekomme sie Kopfschmerzen."

Jean-Noel Jeanneney, der Präsident der Bibliotheque nationale de France, hat sich gegenüber den Plänen des Internetgiganten Google positioniert, 15 Millionen Bücher gescannt ins Netz zu stellen, berichtet Marc Zitzmann aus Paris. Jeanneney plädiert dafür, sich aufzuraffen, "eine (oder mehrere) Google ebenbürtige europäische Suchmaschine(n) zu schaffen. Oder aber in einem derart massiven Umfang selber Bücher zu scannen, dass 'Europa' gegenüber Google eine starke Verhandlungsposition für die Verbreitung dieser Texte im Netz hätte." Er beteuere allerdings, dass es ihm mitnichten um einen 'Kampf der Kulturen' gehe.

Besprochen werden die Ausstellung "Venezia!" in der Hermitage Amsterdam, das neue Album "Oceans Apart" der australischen Go-Betweens, und Bücher, darunter Pierre Bordieus Studie über "Männliche Herrschaft", Eduard von Keyserlings Erzählband "Schwüle Tage" sowie "Corridor", Sarnath Banerjees erster illustrierter Roman, mit dem Indien "ein neues goldenes Zeitalter des Comic" feiere, wie Simone Willeschwärmt (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 12.05.2005

Heute stimmt der Bundestag über die EU-Verfassung ab. Der Schweizer Schriftsteller und Präsident der Berliner Akademie der Künste Adolf Muschg, fände auch ein Europa ohne die vielbeschworene Idee ganz in Ordnung: "Europa entsteht auf dem Boden seiner empirischen Glaubwürdigkeit; diese, und sie allein, macht das Surrogat einer 'europäischen Idee' entbehrlich. Die Schweiz, der kleine Vielvölkerstaat, hat keine Idee, aber sie ist -obwohl nicht einmal EU-Mitglied -ein vergleichsweise leuchtendes Beispiel dafür, dass für die Kohäsion -pompöser zu reden: die Bündnistreue - eine zivile Organisation der Ungleichen den Ausschlag gibt. Der politische bon sens, das Empfinden für Billigkeit und Verhältnismäßigkeit entscheidet darüber, ob ein übernationales Gebilde angenommen wird: der wirtschaftliche Erfolg allein bringt es nicht, denn die Ökonomie kennt weder Heimat noch Vaterland, und von der Würde des Opfers hat sie keinen Begriff. Damit die EU gastlich, wohl gar beispielhaft werde, braucht man ihr keine andere Kultur als dem Planeten insgesamt zu wünschen."

"Stellt euch vor -man feiert 40 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel und keiner geht hin." schreibt der israelische Historiker Moshe Zimmermann (mehr hier) aus gegebenem Anlass. "Deutsche Institutionen vom Bundestag über das Auswärtige Amt bis zum Goethe-Institut bemühen sich seit Monaten um Feierlichkeiten, Veranstaltungen jeder Art und öffentliche Aufmerksamkeit. Doch in Israel erreicht man damit kaum jemanden jenseits der 'Eingeweihten', die ohnehin am deutsch-israelischen 'Geschäft' beteiligt sind."

Weiteres: Gerd Kröncke teilt mit, dass der französische Milliardär und Kunstsammler Francois Pinault wegen bürokratischer Querelen mit der Stadt Paris seine Sammlung nun nach Venedig geben wird. Hans Schifferle übermittelt Eindrücke von den Oberhausener Kurzfilmtagen. Frank Arnold unterhält sich mit dem kurdischen Regisseur Bahman Ghobadi über dessen Film "Zeit der trunkenen Pferde". Der Dramatiker Marius von Mayenburg fabuliert in Folge zehn der Reihe "Mein perfekter Tag" über Rasenmähen und Jalousien. Reinhard J. Brembeck versucht, den verworrenen Fall des designierten Münchner Opernchefs Christoph Albrecht zu entwirren, der plötzlich sein Amt doch nicht antreten wird, das stattdessen nun Klaus Bachler übernehmen wird. In einem Gespräch über dasselbe Thema zeigt sich Toni Schmid, Kunstabteilungsleiter und ehemaliger Pressesprecher des Ministeriums, trotzdem gelassen.

Besprochen werden der deutsche Cannes-Eröffnungsfilm, Dominik Molls "Lemming", David O. Russells Film "I Heart Huckabees" ("dieser Film ist laut, aufdringlich, schwafelig, herzzerreißend, saukomisch, beunruhigend", findet Fritz Göttler), Marco Mittelstaedts Debütfilm "Jena Paradies", William Joseph Kentridges Inszenierung von Mozarts Oper "Die Zauberflöte" im Brüssler Theatre Royal de La Monnaie ("ein verschenkter Abend") und Bücher, darunter Hermann Kants Roman "Kino" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).