Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2006. In der NZZ stellt Navid Kermani ein intellektuelles Gebot auf: Du sollst eine Religion nicht mit Hinweis auf die Verbrechen der anderen verteidigen. In der taz warnt Ilija Trojanow: Die Mafia in Bulgarien ist nicht Teil des Staates, sondern der Staat Teil der Mafia. Außerdem erklärt die taz, warum es wegen eines Artikels auf der Wahrheitsseite zu Verstimmungen zwischen Polen, Deutschland und Frankreich kam. Die FAZ zieht aus dem Film "Grbavica" Lehren über Peter Handke. Im Tagesspiegel erzählt die Regisseurin Jasmila Zbanic, dass der Film nun auch im serbischen Teil der bosnischen Republik gesehen werden kann - aber nur auf Raubkopien.

NZZ, 05.07.2006

Auf die Frage "Was ist eine gute Religion" antwortet heute der Autor und Islamwissenschaftler Navid Kermani. Religionen "sind oft das Gegenteil von 'gut', intolerant, gewalttätig, frauenfeindlich; sie lassen sich für alle erdenklichen politischen oder ökonomischen Ziele instrumentalisieren. Dass das für meine Religion, den Islam, derzeit in besonderer Weise gilt, macht mir zu schaffen. Dass andere Religionen sich in der Geschichte oder der Gegenwart ebenfalls vielfach durch Brutalität statt durch Barmherzigkeit hervorgetan haben, mag als Anfangstrumpf im interregionalen Dialog stechen, darf einen Gläubigen aber nicht beruhigen. Tatsächlich ist es das erbärmlichste Argument, die eigene Religion damit zu verteidigen, dass andere Religionen doch auch manch Übles verbrochen haben. Man ist dann schnell bei der Frage nach der Religion, die am wenigsten schlecht ist - eine viel uninteressantere Frage. Sie lässt sich nämlich anders als die Frage nach der guten Religion pauschal, aber doch ziemlich zutreffend beantworten: Die am wenigsten schlechten Religionen sind die, die am seltensten politisch geherrscht haben."

Alfred Zimmerlin bespricht wohlwollend, aber fröstelnd Klaus Zeheleins Inszenierung von Joseph Martin Kraus' Oper "Aeneas", die bereits unter turbulenten Umständen am Hof des Schwedenkönigs Gustav III. entstanden war: Gustav wurde 1792 bei einem Maskenball ermordet, Kraus starb kurz darauf an einer Lungenkrankheit: "Auch die Stuttgarter Aufführung hatte Widerstände zu überwinden. Der als Hauptdarsteller des Aeneas vorgesehene Deon van der Walt wurde vor wenigen Monaten in Südafrika ermordet, von seinem Vater. Der Tenor Dominik Wortig indes war ein vollwertiger Ersatz. Und der Regisseur Peter Konwitschny, der die Inszenierung bereits konzipiert hatte, erkrankte und musste absagen."

Besprochen werden die Memoiren des jüdischen Gelehrten Simon Dubnow "Buch des Lebens" und Nikolaus Heidelbachs Kinderbuch über "Königin Gisela" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 05.07.2006

Polen-Korrespondentin Gabriele Lesser berichtet über eine taz-Satire und ihre Folgen: Ein Artikel auf der Wahrheitsseite, "Polens neue Kartoffel. Schurken, die die Welt beherrschen wollen", über den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski hat offenbar dazu geführt, dass Kaczynski das Treffen mit Angela Merkel und Jacques Chirac in Weimar abgesagt hat. "Die Präsidialkanzlei habe ihre Empörung über den geschmacklosen Artikel ausgedrückt und erwarte nun von der deutschen Seite 'Kritik, Mitgefühl und Ablehnung solcher Publikationen über den Präsidenten eines mit Deutschland befreundeten Staates'." Lesser glaubt, 'nun eigentlich ihre Koffer packen' zu können, denn der neue Pressesprecher des Ministeriums ließ verlautbaren: 'Das polnische Außenministerium wird nie wieder mit einem Journalisten der tageszeitung reden'." Souverän hat bereits die Gazeta Wyborcza reagiert und den inkrimierten Artikel ins Polnische übersetzt.

Auf der Meinungsseite beschreibt der Schriftsteller Ilija Trojanow am Beispiel der Ermordung des bulgarischen Mafiabosses Ilija Pawlow die enge Zusammenarbeit zwischen Mafia, russischer und bulgarischer Regierung, die immerhin im nächsten Jahr Mitglied der EU werden will. "Im März dieses Jahres war der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Kriminalbeamten, Klaus Jansen, in Bulgarien: 'Ich habe nach der Anzahl der Polizisten, nach ihrem statistischen Alter und ihrem Dienstgrad gefragt. Daran kann man erkennen, ob in der Polizei viele neue Polizisten arbeiten, die modern und demokratisch ausgebildet sind, oder ob wir noch viele Leute haben, die schon im sozialistischen System tätig waren. Diese Information wurde als geheim eingestuft. Darüber kann ich nur lachen. Ich war da, um eine Inspektion durchzuführen, und ich habe immer wieder die Antwort bekommen: Das gefährdet das nationale Sicherheitsinteresse. Wenn die EU geheime Information an Bulgarien gibt, wird diese an die organisierte Kriminalität gelangen.' (Aus einem Interview mit 24 Tschasa)... Die Mafia in Bulgarien ist nicht Teil des Staates, sondern der Staat Teil der Mafia."

Ebenfalls auf der Meinungsseite macht Verleger Christoph Links im Interview darauf aufmerksam, dass ehemalige Stasimitarbeiter immer stärker versuchen, ihren Dienst als ganz normalen Geheimdienst zu rehabilitieren. Auf den Kulturseiten philosophiert Burkhard Brunn in einer neuen Sommerserie mit dem Titel "Ich sehe was, was du auch siehst" über selbstverständliche Dinge des Alltags, heute über den Stuhl.

Besprochen werden Xavier Beauvois Spielfilm "Le petit lieutenant" ("Eine fatale Entscheidung"), der vom Alltag Pariser Polizisten handelt, und drei neue Biografien von Gottfried Benn (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 05.07.2006

In einem Bericht über die WM und die Amerikaner, sieht Marcia Pally "das europäische Vorurteil widerlegt, die USA seien keine Fußballnation. Wie der Rest der Welt kleben wir die WM über vor der Glotze, auch wenn das, was uns beeindruckt, vielleicht ein wenig... amerikanisch ist. Uns beeindruckt zum Beispiel die deutsche Effizienz. Vor den Spielen erfuhren wir aus der Presse, dass elf der zwölf Stadien ein Jahr vor der WM fertig gewesen seien und 300 Städte riesige Public-Viewing-Arenen aufgebaut hätten."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte stellt das von Ieoh Ming Pei gebaute Museum für Gegenwartskunst in Luxemburg vor. Franz Anton Cramer informiert über das Festival montpellier danse. Und in Times mager räsoniert Judith von Sternburg über das Weltkulturerbe Limes.

Besprochen werden die Uraufführung von Joseph Martin Kraus? Oper "Aeneas in Karthago" an der Staatsoper Stuttgart und Bücher, darunter die Studie "Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems" von Rahel Jaeggi, Lukas Hammersteins Roman "video" über die Generation der "78er" und ein Band mit frühen Erzählungen von Cees Nooteboom (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 05.07.2006

Im Interview mit Jan Schulz-Ojala schildert die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic, warum ihr Film "Esmas Geheimnis" (Grbavica) in der serbischen Teilrepublik von Bosnien nicht gezeigt wird: "Es gibt in dieser Teilrepublik nur ein reguläres Kino, in der Hauptstadt Banja Luka. Der Besitzer wollte 'Esmas Geheimnis' ursprünglich zeigen. Aber nachdem ich bei der Berlinale-Preisverleihung gesagt hatte, die Kriegsverbrecher Mladic und Karadzic müssen gefasst werden, befürchtete er, radikale Gruppen könnten sein Kino zerstören, wenn er meinen Film ins Programm nimmt. Nur wenn der Premierminister der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, persönlich in allen Zeitungen die Vorführung des Films befürworte, würden die Leute nicht negativ reagieren. Also kontaktierten wir die amerikanische und die britische Botschaft; auch UN-Hochkommissar Christian Schwarz-Schilling setzte sich in einem Brief für den Film ein, aber Dodik reagierte nicht... Inzwischen sind Raubkopien aufgetaucht. In Banja Luka verkaufen sie sich wie verrückt. Wir verlieren zwar Geld, aber die Leute können den Film wenigstens sehen."

Welt, 05.07.2006

Konrad Becker, Betreiber der von der Unesco unterstützten Seite World-Information.org, findet im Gespräch mit Wieland Freund Kathrin Passigs Unterwanderung des Bachmann-Wettbewerbs nicht nur erfrischend, sondern sieht in der ZIA auch eine Verbündete in der "postfordistischen Informationsökonomie", die von staatlichen und privaten Informationsagenturen beherrscht werde. Denn heute "sind wir zunehmend mit dem Phänomen einer unüberschaubaren Menge von Informationsagenturen konfrontiert, die über teilweise astronomische Ressourcen verfügen. Es handelt sich dabei nicht nur um klassische staatliche Nachrichtenagenturen und Geheimdienste, sondern zunehmend um eine komplex verschachtelte Welt privater ThinkTanks, PR-Agenturen, Business Intelligence Units, Strategic Communication Büros, Riskio-Management-Firmen und Private Military Companies, deren Auftrag und Interessenlage im Dunkeln bleiben." Was die ZIA ist, erklärt Wieland Freund in einem weiteren Artikel.

Weiteres: Was im chinesischen Kino gezeigt wird, ist nach wie vor alleinige Sache der China Film Group, informiert Hanns-Georg Rodek und belegt das an Beispielen von "Mission Impossible" bis "Dresden". Matthias Heine weiß, dass nur die Deutschen von "La Grande Nation" reden, wenn sie Frankreich meinen. Seit Putins Amtsantritt ist stattlichen 30 Journalisten die Einreise nach Russland verweigert worden, meldet Manfred Quiring. Besprochen werden zwei Ausstellungen in Stuttgart und Berlin mit Fotografien von Volker Schrank, der die Weltmeister von 1974 und ihre ersten Fußballplätze ablichtete.

Im Magazin berichtet Johnny Erling von der Jungfernfahrt des Peking-Lhasa-Express, der auf den 4000 Kilometern von China nach Tibet den höchstgelegenen Bahnhof der Welt passiert. "Luftdicht verpackte Chipstüten blähen sich wie Ballons auf und explodieren."

FAZ, 05.07.2006

Andreas Kilb zieht aus dem Film "Grbavica", der die Geschichte einer in den Jugoslawien-Kriegen vergewaltigen Bosnierin erzählt, auch Lehren über Peter Handke und seine Relativierung der Fakten: "Was Vertreibung, Massaker, Massenvergewaltigung wirklich bedeuten, wird erst am Einzelschicksal sichtbar, und in ihm klärt sich auch die Frage der Schuld. Eine Frau wie Esma braucht nicht zu wissen, ob das, was ihr angetan wurde, auf Befehl von Milosevic geschah oder nicht. Ihr Schmerz ist real, er weist auf die Täter und auf die Politik, die sie deckte."

Weitere Artikel: Im Aufmacher berichtet Regina Mönch von dem Prozess des Schauspielers Ulrich Mühe gegen seine ehemalige Frau Jenny Gröllmann, die es erreichte, dass er sie nicht mehr als Stasi-IM bezeichnen darf. Christian Geyer mokiert sich über den Plan, die Ladenöffnungszeiten zu verlängern und die Proteste der Gewerkschaften dagegen. In der Leitglosse kritisiert Michael Jeismann die Idee Charlotte Knoblochs, ein Schulfach "Nationalsozialismus" zu schaffen. Jürgen Kaube erinnert an den Soziologen Rene König, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Der Linguist Hans-Martin Gauger findet die Idee, das Deutsche im Grundgesetz als offizielle Sprache der Bundesrepublik zu verankern, überflüssig. Katja Gelinsky zitiert eine amerikanische Untersuchung, die herausfand, dass die politische Couleur von Richtern in den USA sehr wohl Einfluss auf ihre Urteile hat. Oliver Jungen musste in einem Kölner Vortrag des Philosophen Jean-Luc Nancy erfahren, dass selbst der liebe Gott ein Dekonstruktivist ist.

Auf der Medienseite porträtiert Karen Krüger den senegalesischen Fotografen Djbril Sy, der zur WM angereist ist und Deutschland im WM-Taumel festhält. Melanie Mühl berichtet, dass Kurt Beck eine einstweilige Verfügung gegen das Humor-Magazin Titanic erstritten hat, das auf dem Titel ein Porträt des Politikers mit der Zeile "Problembär außer Rand und Band, knallt die Bestie ab" verband. Tilmann Lahme meldet, dass der Journalist Erich Schmidt-Eenboom vor Gericht erwirkte, dass die SZ und der investigative Journalist Hans Leyendecker ihn nicht mehr als "Vertrauensperson des BND" bezeichnen dürfen. Und Michael Hanfeld schildert die Pläne von Pro 7 für die nächste Saison.

Auf der letzten Seite versucht Jürg Altwegg das "Modell Zidane" (hier) und Paul Ingendaay das "Prinzip Scolari" (hier) zu ergründen - letzteres hat der Trainer der portugiesischen Mannschaft laut Ingendaay selbst in Worte gefasst: "Fußball ist Krieg, und im Krieg musst du töten, sonst töten sie dich. Wer jetzt noch dabei ist, das sind die Starken, die Krieger." (Dann sollte Zidane heute vielleicht eine schusssichere Weste anlegen!) Außerdem porträtiert Heinrich Wefing den iranischen Intellektuellen Akbar Ganji. Und Gina Thomas sagt eine Abspaltung des amerikanischen Zweigs der anglikanischen Kirche voraus, der in Fragen der Ordinierung von Homosexuellen wesentlich liberaler ist als der britische Stamm.

Besprochen werden das "Rheingold" unter Stephane Braunschweig und Simon Rattle in Aix-en-Provence, die Ausstellung "Der Ball ist rund - Kreis, Kugel, Kosmos" in Berlin, Konzerte des Festivals Jazz Baltica und die Ausstellung "Leuchtende Bauten - Architektur der Nacht" in Stuttgart.

SZ, 05.07.2006

In einem ganzseitigen Interview spricht der Generaldirektor der Berliner Opernstiftung Michael Schindhelm über seine Basler Intendanz, WM und die Berliner Opern. Ihr Generalintendant will er nicht werden, versichert er: "Ich habe von Anfang an signalisiert, dass das nicht in meiner Absicht liegt. Und ich benutze auch eine Neuformulierung des Opern-Konzeptes nicht, um mich über diesen Umweg auf den Thron zu setzen, wie das einige vermuten. Es gibt in Berlin drei Opernintendanten, die haben Verträge bis 2010 und darüber hinaus und müssen über diesen Zeitraum ihre Planungen machen. Was sollte ein Generalintendant da oben drüber tun? Es ist für mich völlig unvorstellbar, über den Kopf dieser Intendanten hinweg in den Spielplan einzugreifen. So funktioniert Theater nicht. Dazu bin ich viel zu lange selbst Intendant, um zu wissen, was das auslösen würde."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld räsoniert über einen "modernen Helden", der "gegenwärtig eine furchtbar müde Gestalt" sei: den Moderator. Die Rechteinhaber von "Peter Pan" wehren sich gegen eine Comic-Fassung von Alan Moore, der Wendy mit Alice (aus dem Wunderland) und Dorothy (aus Oz) zusammenbringt und sie ihre Kindheit als "sexuelle Schlüsselerlebnisse" durchleben lässt, erzählt Christopher Schmidt. Susanne Bausinger berichtet über die Freilegung von Kuppelgräbern im Peloponnes. Fal. informiert kurz über den Streit zwischen Künstlern und Galeristen über das neue Urheberrecht.

Auf der Schallplattenseite geht es heute um deutsche Radiochöre. Jörg Königsdorf erklärt, warum Berlin seine zwei Rundfunkchöre tatsächlich auch braucht. Helmut Mauro porträtiert den Chor des Bayerischen Rundfunks. Vorgestellt werden eine neue CD des SWR Vokalensemble Stuttgart unter Leitung von Marcus Creed, der im Gespräch erklärt, warum er kein typischer Chordirigent sei.

Besprochen werden ein Film der Bosnierin Jasmila Zbanic, "Grbavica - Esmas Geheimnis", und Bücher, unter anderem David Karahasans Roman "Der nächtliche Rat" (hier eine Leseprobe) und der Briefwechsel Sigmund Freuds mit seiner Schwägerin (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).