Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.03.2007. Ein einziges Mal Demokratie wagen, das rät Jürgen Habermas Europa im dpa-Interview in Sachen Verfassung. In der Berliner Zeitung fordert Heinrich August Winkler mehr Vertiefung statt Erweiterung der EU. Monika Maron fragt sich in der FAZ, was wir falsch gemacht haben, dass Putin Anna Politkowskaja hierzulande als unbedeutende Journalistin bezeichnen darf. Die FR betont die Unvereinbarkeit von deutschem Recht und der Koransure 4,34. Kanada diskutiert über die Bombardierung Deutschlands, meldet die SZ.

Weitere Medien, 23.03.2007

In einem Interview mit dem dpa-Autor Matthias Hoenig sieht Jürgen Habermas nur einen Ausweg aus der EU-Verfassungskrise, ein Referendum bei den Europawahlen 2009: "Die Regierungen, die ja die Herren des Verfahrens sind, müssten ihre faktische Ohnmacht erkennen und dieses einzige Mal 'Demokratie wagen'. Sie müssten über ihren Schatten springen und sich selbst - in Gestalt der politischen Parteien, aus denen ja die Regierungen zusammengesetzt sind - vor die Wahl stellen, in einem europaweiten Wahlkampf mit offenem Visier um jede Stimme für oder gegen einen Ausbau der Europäischen Union zu kämpfen."

Welt, 23.03.2007

Zum Achtzigsten von Martin Walser senden Georg Klein, Hans Pleschinski, Ulrich Woelk, Joachim Helfer, Joseph von Westfalen einen Strauß von Glückwünschen. Auch Maxim Biller ist dabei: "Deutschland ohne einen Dichterfürsten ist wie der Nahe Osten ohne den Nahostkonflikt."

Thomas Kielinger schreibt zur Abschaffung der Sklaverei vor 200 Jahren, die Großbritannien am 25. März feiern wird (obwohl nur der Sklavenhandel verboten wurde und das Gesetz auch erst ein Jahr später in Kraft trat). "Eine Wolke der Amnesie liegt über diesem Kapitel, man rührt im multi-ethnischen Britannien nicht gern an die Erkenntnis, dass England dem Sklavenhandel seinen Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht im 18. Jahrhundert verdankt, auch das Erblühen seiner Städte, seiner herrschaftlichen Landhäuser, vieler Banken, auch der Bank von England oder einer Versicherungsagentur wie Lloyds. Besonders das Königshaus mischte als Aktionär bei einschlägigen Unternehmen kräftig mit, und auch die Church of England war sich nicht zu schade, von Sklaven bewirtschaftete Plantagen auf Jamaika und den nahen Inseln zu unterhalten."

Weiteres: Eckhard Fuhr berichtet beeindruckt von den nüchterne Reden zur Verleihung des Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, in denen die Preisträger Gerd Koenen und Michail Ryklin das Russland unter Putin analysierten (Hier sämtliche Ansprachen als pdf). Manfred Quiring schildert den wachsenden Druck der orthodoxen Kirche auf die Ausstellung "Verbotene Kunst 2006", die derzeit - noch - im Moskauer Sacharow-Museum gezeigt wird. Alexander Kluy schreibt über die Eröffnung des Jüdischen Museums von München. Detlev Buck vergleicht im Interview mit Peter Zander selbstbewusst seinen "Hände weg von Mississippi" mit den "Harry-Potter-Filmen": "Unsrer ist besser."

NZZ, 23.03.2007

In der NZZ stand neulich, in Berlin gebe es eine "Dunkelziffer" von 5.000 Künstlern, die zu den 5.000 offiziell als solchen firmierenden hinzuzurechnen sei. Dieter Meier, Mitglied des einst berühmten Popduos Yello, nutzt die Meldung zu einer Meditation über seinen Berufsstand: "Künstler ist jeder, der mit seiner Betätigung beabsichtigt, Kunst zu schaffen, und das in dieser Absicht Hervorgebrachte ist in jedem Fall Kunst. Und genau das ist es, was den Beruf des Künstlers zum Traumberuf macht. Das Produkt erreicht seinen beabsichtigten Zustand allein dadurch, dass er vom Adepten beabsichtigt war. Diese einmalige Chance, dass das nackte subjektive Wollen das Gelingen per definitionem schon in sich trägt, hebt Künstler von allen anderen Werktätigen ab. Man stelle sich vor, zu welchen größeren und kleineren Katastrophen das Kunstprinzip in allen anderen Berufsgattungen führen würde..."

Weitere Artikel: In der Reihe mit kleinen Schriftstellertexten über den Klimawandel schreibt der dänische Autor Jörn Riel, der 16 Jahre lang auf Grönland lebte, über einen apokalyptischen Traum, in welchem die Eismassen der Insel im Zeitraffer dahinschmolzen. Christian Gasser porträtiert den italienischen Comic-Zeichner Gipi. Roman Hollenstein besucht das neue Jüdische Museum des Architekten Wandel Hoefer Lorch in München.

Besprochen werden Modest Mussorgskys Oper " Chowanschtschina" unter Kent Nagano und Dmitri Tcherniakov in der Bayerischen Staatsoper München, ein Wolfgang-Rihm-Konzert mit dem Luzerner Sinfonieorchester und dem Arditti-Quartett, eine CD mit "Tango primitivo" von La Chicana und CDs in Kurzbesprechungen, darunter Neuaufnahmen von Bach-Kantaten mit der Petite Bande unter Sigiswald Kuijken.

In einem Artikel für das "Dossier Medien" berichtet Manfred Weise, dass es die Chefs der großen Zeitungen mit der Trennung von Information und Werbung häufig nicht so genau nehmen, zumindest nicht in den häufig extern produzierte "Verlagsbeilagen": "Auf den ersten Blick ist kaum erkennbar, was eine fremd- oder eigenproduzierte Beilage, was noch redaktioneller Teil und was Public Relations oder Werbung ist. Auf den zweiten Blick merken viele Leser schnell, ob sich unter den zehn Artikeln acht PR-Beiträge finden oder zwei PR-Beiträge acht journalistischen Beiträgen gegenüberstehen." In einem dazugehörigen Artikel stellt "ras" das Magazin Leo vor, das von werbetreibenden Firmen gleich selbst produziert wird und jeden störenden Rest von Information beseitigt.

Weitere Artikel: "ras" berichtet über eine Medienkonferenz in Lugano, in der Medienwissenschaftler beklagten, dass der Islam in den Medien zum Feindbild stilisiert werde. Stephan Russ-Mohl stellt eine Langzeitstudie über amerikanische Journalisten vor, die unter anderem zeigt, dass Journalisten heute schlechter verdienen als vor sieben Jahren.

FR, 23.03.2007

Der Fall der Koran-Richterin gibt den Gegnern des Multikulturalismus recht, meint Peter Michalzik. Glücklich ist er darüber nicht. "Um das Verhältnis des Westens zur radikalen Islamkritikierin Hirsi Ali dreht sich die seit etlichen Wochen laufende Debatte im Internetportal perlentaucher.de. Diese Debatte zeigt vor allem eines: So absurd die Unterstellungen der Kritiker von Ian Buruma und Timothy Garton Ash zum Teil sein mögen, treffen Pascal Bruckner und Necla Kelek doch den wunden Punkt: Man kann den Islam nicht als eine Religion unter anderen behandeln, eine Religion, die unter dem großen Dach der europäischen Toleranz ihre Existenzberechtigung hat. Multikulturalismus und Islam können nicht koexistieren, wenn der Islam den Koran wörtlich nimmt - was er tut und immer mehr tut. Wie die zitierte Sure 4,34, die die Züchtigung der Frau vorschreibt. Es ist eine Unmöglichkeit außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und Integration zu erwarten."

Christian Schlüter hat überhaupt kein Verständnis für die beleidigten Reaktionen auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor Munoz Villalobos der die fehlende Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem kritisiert hatte: "'Der Munoz-Bericht ist unbrauchbar', verlautet es etwa aus dem Kultusministerium Nordrhein-Westfalens. Der Bericht sei nur 'eine Momentaufnahme aus merkwürdig entfremdeter Ferne' (Sachsen-Anhalt), Munoz Villalobos sei nur neun Tage in Deutschland gewesen (Niedersachsen) ... Der Föderalismus als Verschiebebahnhof für Verantwortlichkeit: Die teils albernen, teils überheblichen Reaktionen einiger Verantwortlicher legen den Verdacht nahe, dass sie vom Rang der Bildung als einem Menschenrecht nicht wirklich überzeugt sind."

Weiteres: In Times Mager nimmt Christian Schlüter die letzte Talkshow von Harald Schmidt aufs Korn. Besprochen werden das Revolutionsmusical "The Whole World is Watching" in den Berliner Sophiensälen, die Ausstellung "Whenever it starts it is the right time" im Frankfurter Kunstverein und Roland Schimmelpfennigs Stück "Für eine bessere Welt" am Schauspiel Frankfurt.

Berliner Zeitung, 23.03.2007

Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt zum Gründungsjubiläum der EU. Nationalstaatlichkeit und Europa sind seiner Ansicht nach keine Widersprüche: "Anlass zur Selbstzufriedenheit hat die EU nicht. Sie steckt in einer tiefen Krise, weil sie nicht weiß, wie es weitergehen soll. Die Erweiterung ist der Vertiefung erheblich vorausgeeilt... Das Projekt Europa hat in den letzten Jahren viel von seiner Anziehungskraft verloren. Das liegt vor allem daran, dass wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen zu fallen pflegen, ohne dass in den nationalen Parlamenten oder in der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten darüber diskutiert worden ist. Das muss sich ändern. Eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente in die Europapolitik ist überfällig."

TAZ, 23.03.2007

 taz-Hausjurist Jony Eisenberg findet es nicht verwerflich, wie die Frankfurter Richterin im Koran-Urteil Recht gesprochen hat: "Die Richterin hat nicht entschieden, dass sich die Ehefrau weiter misshandeln lassen muss. Sie hat der Frau das Trennungsjahr zugemutet: die Frau habe gewusst, wen mit welchem kulturellen Hintergrund sie heiratet, und sie sei gegenwärtig vor weiteren Misshandlungen auch ohne schnelle Scheidung geschützt. Man kann die Begründung der Richterin kritisieren, aber sie ihr als unvertretbar und rassistisch um die Ohren zu hauen, ist dreist. Dass sich Justizpolitiker und Kollegen nicht vor die Richterin und deren Recht auf eine unabhängige Entscheidung stellen, ist eine Schweinerei."

Michail Ryklin
und Gerd Koenen, die zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse gemeinsam den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhielten, retteten mit ihrer Kritik an Putin (hier und hier) den Abend, resümiert Dirk Knipphals. Thomas Meyer schreibt den Nachruf auf den Berliner Philosophieprofessor Wolfgang Hübener. In der zweiten taz porträtiert Albert Hefele den Kabarettisten-Comedian Jess Jochimsen. Martin Müller erinnert daran, dass die Tagesmütter nicht vom Himmel fallen.

Besprochen werden die Retrospektive des Hauszersägers Gordon Matta-Clark im Whitney Museum in New York (Brigitte Werneburg bedauert an der "auf Jahre hin" maßgeblichen Schau nur den fehlenden Hinweis auf europäische Einflüsse) sowie ein Album der britischen Band The Klaxons: "Myths Of The Near Future".

Und Tom.

FAZ, 23.03.2007

Die Schriftstellerin Monika Maron findet, dass die deutsche Öffentlichkeit nach dem Mord an Anna Politkowskaja allzu schnell zur Tagesordnung übergegangen ist - und sie empört sich über Wladimir Putin: "Als Wladimir Putin einige Tage nach ihrer Ermordung der deutschen Öffentlichkeit erklärte, Anna Politkowskaja sei eine radikale, aber im eigenen Land eher unbedeutende Journalistin gewesen und ihr Tod schade Russland mehr als ihre Artikel, habe ich mich gefragt: Was hält der von uns, dass er in unserem Land, in unseren Zeitungen so zu uns spricht? Was haben wir falsch gemacht, dass er das wagt?"

Weitere Artikel: Christian Schwägerl nimmt einen von der BBC ausgestrahlten Dokumentarfilm zum Anlass, einmal die Argumente jener zu präsentieren, die nicht an die Klimakatastrophe glauben. Niklas Maak weiß von wenigstens einem Kunstwerk, das auf der sich bisher in programmatisches Schweigen hüllenden Documenta zu sehen sein wird: Der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei (mehr hier) will 1001 Chinesen einfliegen lassen. Von einem einschlägigen Ankauf des Britischen Museums und Londoner Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei berichtet Gina Thomas. Eberhard Rathgeb war auf der Geburtstagsgala für Hans-Dietrich Genscher und hat sich nicht sonderlich amüsiert. In der Glosse berichtet "edo", dass Gerd Koenen und Michail Ryklin, die Preisträger des Leizpziger Buchpreises für Europäische Verständigung, mit Skepsis auf die deutsch-russischen Beziehungen blicken. Auf der letzten Seite unterhält sich Jordan Mejias mit Pete Gelb, dem Leiter der New Yorker Metropolitan Opera. Paul Ingendaay porträtiert Fabio Capello, den Trainer von Real Madrid, der vom Helden zum Buhmann wurde.

Besprochen werden Philippe Liorets Film "Keine Sorge, mir geht's gut", David Böschs Inszenierung von Franz Molnars "Liliom" und Bücher, darunter ein Band mit Joachim Fests letzten Essays und Jean Amerys spät veröffentlichtes Romandebüt "Die Schiffbrüchigen" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 23.03.2007

In Kanada wogt eine Debatte um die Bombardierung Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs, berichtet Thomas Medicus. Auslöser war eine unscheinbare Plakette im neuen Canadian War Museum. "'Das Ergebnis der massenhaften Bombenangriffe auf Deutschland waren große Zerstörung und der Verlust von Menschenleben', lautete der durchaus sachliche Text. 'Erfolg wie moralische Berechtigung der Angriffe bleiben stark umstritten', hieß es weiter: 'Ziel der Bomber Kommandos war es, die Moral der Zivilbevölkerung zu erschüttern und Deutschland durch die Zerstörung seiner Städte und Industrieanlagen zur Kapitulation zu zwingen. Obwohl das Bomberkommando wie auch amerikanische Angriffe 600.000 deutsche Ziviltote und mehr als fünf Millionen Obdachlose hinterließen, führten die Angriffe nur zu geringfügigen deutschen Produktionsrückgängen am Ende des Krieges.' Der insgesamt kaum mehr als zwanzig Zeilen lange Text rief in den vergangenen Wochen, wie es in den Medien hieß, einen landesweiten 'Feuersturm' der Empörung hervor. Kanada erlebt seine bislang heftigste Luftkriegsdebatte."

Zu lesen ist ein Auszug des Vortrags, den Dan Diner (mehr) zur Eröffnung des Jüdischen Museums in München hielt. "Das Museum ist kein Sarkophag, vielmehr ein Ort der Verlebendigung von Vergangenem. Dass die Musealisierung der Geschichte der Juden in Deutschland indes nach einem fast vollständig realisierten ultimativen Genozid erfolgt, mag jene Ambiguität erklären helfen, die solche Projekte begleitet."

Weitere Artikel: Dokumentiert wird ein Briefwechsel des norwegischen Saxofonisten Jan Garbarek mit YouTube über Wunsch und Wirklichkeit im Urheberrecht. Amerikas Konservative haben Angst vor dem historischen Versagen, sagen das Ende des Neonkonservatismus heraus und sehnen sich ansonsten nach interparteilicher Harmonie, weiß Andrian Kreye. Tobias Moorstedt besucht den Computerspieleentwickler Richard Taylor in Los Angeles. Alexander Menden sieht zu, wie Orientalisten sich auf einer Londoner Tagung weder über ein Selbstbild noch ein Bild des Orients einigen können. Vasco Boenisch unterhält sich mit dem Dramatiker Martin Heckmanns über dessen "Jedermann"-Stück "Kommt ein Mann zur Welt". Henning Klüver schließt von der Verschiedenheit der "Meisterwerke der europäischen Kunst", die im römischen Quirinalspalast ausgestellt werden, auf die unvollendete Eiinheit Europas.

Auf der Literaturseite sinniert Alex Rühle über Bücherregale. Jens-Christian Rabe lässt sich in dern euen Ausgabe der Zeitschrift Akzente die Schriftstellerschmiede des Deutschen Literaturinstituts an der Universität Leipzig vorstellen. Und Ijoma Mangold erinnert sich gern an den "bemerkenswerten Festakt" zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse.

Besprochen werden die Ausstellung "Das Schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch" in der Hamburger Kunsthalle, Pepe Danquarts Kletterfilm "Am Limit" und Bücher, darunter Haruki Murakamis Erzählungen "Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah" und Luc Ferrys philosophische Gebrauchsanweisung "Leben lernen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).