Heute in den Feuilletons

Wir waren kritische Analphabeten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2009. War der Schuss auf Benno Ohnesorg ein Stasi-Mord? Stefan Aust findet diese Frage in der FAZ nicht von der Hand zu weisen. Auch Wolfgang Kraushaar appelliert in der Berliner Zeitung an Karl-Heinz Kurras, die Hintergründe bekannt zu machen - ohne große Hoffnung, denn Mord verjährt nicht. In der NZZ fragt Dubravka Ugresic: Wo ist Heimat? Die SZ hat sich die Antwortmaschine Wolfram alpha agesehen, die viele Fragen offen lässt.

Welt, 23.05.2009

"Hochinteressante Filme" sah Ulrich Gregor in der Cannes-Nebenreihe "Un certain regard", darunter den halbdokumentarischen iranischen Musikfilm "No one knows about Persian Cats" von Bahman Ghobadi (hier ein Interview mit dem Regisseur bei Youtube) und den rumänischen Film "Polizist, Adjektiv" von Corneliu Porumboiu, "der übrigens bestätigt, dass Rumänien heute zu den interessantesten Filmländern Europas gehört. Ein kleiner Polizist muss langweiligen Beobachtungen nachgehen: Jugendliche sollen auf einem Schulhof Haschisch geraucht haben. Der Polizist widersetzt sich dem Ansinnen, den Jugendlichen eine Falle zu stellen, was ihnen mehrere Jahre Gefängnis einbringen würde. Aber sein vorgesetzter Offizier verwickelt ihn in langwierige sprachphilosophische Debatten und treibt ihn derart in die Enge, dass er seinen Widerstand schließlich aufgeben und den Befehl ausführen muss."

Weiteres: Ulrich Weinzierl erzählt die Geschichte der deutschen Nationalhymne. Gerhard Gnauck fasst die zwischen Hysterie und Nachdenklichkeit schwankenden polnischen Reaktionen auf den Spiegel-Titel über "Hitlers europäische Helfer beim Judenmord" zusammen. Besprochen werden einige Klassik-CDs.

In der Literarischen Welt macht Helmut Karasek Werbung für eine Welt-Edition zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik mit 25 deutschsprachigen Autoren. Ulrich Weinzierl schreibt zum 70. Todestag von Joseph Roth. Besprochen werden unter anderem Andreas Rödders Geschichte der Wiedervereinigung und der von Joachim Kersten herausgegebene Band "Herman Bang - eines Dichters letzte Reise".

Auf der Forumsseite müht sich Heinz Bude, den Unterschied zwischen Information und Wissen zu erklären, von dem "die Google-Menschen in ihren farbigen Spielwelten" angeblich keine Ahnung haben.

TAZ, 23.05.2009

Im Kulturteil der Sonntaz werfen die meisten Beiträge, inklusive der Buchbesprechungen, einen Seitenblick auf 60 Jahre BRD. So schreibt der Deutsch-Rapper Sammy Deluxe aus Hamburg über Multi-Kulti-Missverständnisse' über die viel zu wenig geredet werde. Im Interview spricht der palästinensische Israeli Juliano Mer Khamis, einst Soldat in der isrealische Armee, heute Schauspieler, über die Herausforderung, an seinem Freedom Theatre (mehr dazu hier) mit palästinensischen Kindern die "Farm der Tiere" zu inszenieren. Cristina Nord berichtet über den Endspurt in Cannes und Michael Hanekes Wettbewerbsbeitrag "Das weiße Band". Und Ulrike schildert die Sprachverwirrung, welche die chinesische Übersetzung des diesjährigen Mottos der Kunst-Biennale - Makin Worlds - in Venedig auslöste.

Besprochen werden Bücher, darunter die Sammlung "100 Gedichte aus der DDR", das unentbehrliche "Provinzlexikon" von Henning Ahrens sowie zwei Bände zu 60 Jahren BRD: "Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart" von Eckart Conze und Albrecht von Luckes Studie "Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Berliner Zeitung, 23.05.2009

Wolfgang Kraushaar, ausgewiesener Historiker der 68er-Zeit, sieht die Enthüllung über die Stasi-Tätigkeit des Karl-Heinz Kurras als Sensation. Aber schoss er auf Weisung der SED auf Benno Ohnesorg? "Naheliegend wäre, an ihn zu appellieren, nun nach 42 Jahren die Öffentlichkeit über die Beweggründe und mögliche Hintergründe von SED und MfS sowie eigene Motive aufzuklären. Die Witwe Ohnesorgs ist bereits 2000 gestorben, aber der gemeinsame Sohn lebt. Doch die Erwartung scheint nicht realistisch. Kurras müsste befürchten, erneut auf die Anklagebank zu gelangen, denn Mord verjährt nicht."

NZZ, 23.05.2009

Wo ist Heimat? Die in Amsterdam lebende Autorin Dubravka Ugresic schreibt: "Als ich Anfang neunziger Jahre meine Heimat Kroatien verließ, die sich aus meiner Heimat Jugoslawien herausgeschält hatte, und mich in Holland wiederfand, waren meine Gefühle anfangs wirr. Ich wusste nicht, wie ich über die Heimatfrage denken sollte." Die Sache regelte sich, als "eines Tages Lisbeth den Coiffeursalon in meiner Nachbarschaft übernahm..."

Außerdem in Literaur und Kunst: Sandrin Fabbri porträtiert die Genfer Schriftstellerin Pascale Kramer. Renate Wiggershaus liest neu übersetzte Erzählungen Herman Melvilles. Werner von Koppenfels stellt die Dichterin Edna St. Vincent Millay vor. Manfred Koch schreibt über Goethe und das Geld. Und Urs Widmer betrachtet das um 1340 gemalte Bild "Un castello in riva al lago" von Ambrogio Lorenzetti.

Im Feuilleton mokiert sich Joachim Güntner noch einmal über die Reaktion des Kardinals Lehmann auf die Debatte um den Hessischen Kulturpreis. In der Kolumne "Mein Stil" plädiert Michael Krüger für die Askese: "Kein Stil bitte." Besprochen werden eine Ausstellung über "Giotto und das 14. Jahrhundert" in Rom, eine Ausstellung über Mme Recamier im Kunstmuseum von Lyon und Bücher, darunter zwei Romane über Saddam Husseins Irak. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 23.05.2009

Aufmacher ist ein Vorabdruck aus dem neuen Buch von Erhard Eppler "Der Politik aufs Maul geschaut". Daniel Kothenschulte sah beim Festival in Cannes Michael Hanekes Film "Das weiße Band" und Alain Resnais' "Les Herbes Folles". In Times mager räsonniert Hans-Jürgen Linke über das Kaiserjahr 2009 in Braunschweig, das die Kaiserkrönung von Otto IV. feiert. Und Marcia Pally klagt in ihrer Kolumne über die Schließung von Lieblingsläden auf dem Broadway. Steffen Hebestreit weist in seinem Artikel über die Enthüllungen zum 2. Juni 1967 darauf hin, dass die Stasi die Ereignisse vom 2. Juni 1967 intern als "sehr bedauerlichen Unglücksfall" einordnete und die Verbindungen zu Karl-Heinz Kurras kappte.

Besprochen werden Dimiter Gotscheffs Inszenierung des "Prometheus" an der Berliner Volksbühne, Hans-Werner Henzes Oper "Der Junge Lord" am Theater Dortmund, das Opern-Gastspiel des Teatro Regio di Parma mit Verdis "Nabucco" bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden, Konzert und Musik der amerikanischen Jazzsängerin Melody Gardot und Anselm Glücks Sprach-, Denk- und Erzählsplitter "Schatten abtasten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 23.05.2009

Die ganze Seite 1 des Feuilletons ist der jüngst enthüllten Stasi-Tätigkeit Karl-Heinz Kurras' gewidmet, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss. Lorenz Jäger meint im Editorial, dass die bundesdeutsche Geschichte anders verlaufen wäre, wenn man diese Informationen schon damals gehabt hätte: "Eine Massenradikalisierung der akademischen Jugend nach links hätte nicht stattgefunden." Auch Stefan Aust sieht die Enthüllung als einen "Wendepunkt historischer Betrachtung - nicht nur des 2. Juni und der Studentenbewegung, sondern auch der des Terrorismus und des MfS". Und fragt weiter: "Gab es in Ost-Berlin ein Interesse daran, die Auseinandersetzungen in Westberlin anzufachen? (...)Hat man sehenden Augen in Kauf genommen oder sogar befördert, dass sich in der Bundesrepublik der Terrorismus ausbreitete?" Einiges spricht laut Aust dafür. Außerdem hat Marcus Jauer das Haus in Berlin-Spandau besucht, wo der heute 81-jhrige Kurras wohnt. Und Felicitas von Lovenberg interviewt Uwe Timm, der mit Benno Ohnesorg befreundet war und darüber das Buch "Der Freund und der Fremde" veröffentlicht hat. Der Autor, der einige Jahre nach 67 der DKP beitrat, bekennt seine Sprachlosigkeit über die Enthüllung

Weitere Artikel: Jürgen Dollase isst für seine Gastrokolumne bei dem Koch Joachim Wissler vom "Vendôme" in Bergisch Gladbach. Patrick Bahners liest einen Grundgesetzkommentar zum Amt des Bundespräsidenten, der von Roman Herzog persönlich verfasst wurde. Günther Gillessen schreibt über die bevorstehende Eröffnung des Akropolis-Museums in Athen und die andauernden Restaurierungsarbeiten auf der Akropolis. Auf der Schallplatte-und-Phono-Seite geht's unter anderem um eine CD von Jarvis Cocker und eine vollständige Einspielung des "Idomeneo" durch Rene Jacobs. In einem schönen Essay auf der letzten Seite des Feuilletons erinnert sich Dieter Wellershoff an die Jahre zwischen Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik: "Wir alle waren kritische Analphabeten. Ein Häuflein Gestrandeter, die von Grund auf neu lernen mussten zu leben."

Die Beilage Bilder und Zeiten würdigt aus Anlass der sechzig Jahre Bundesrepublik sechzig Jahre deutsches Design. Verena Lueken schreibt den Einleitungsessay. Es wird an Designer wie Klaus Wittkugel, Willy Fleckhaus, Werner Rebhuhn erinnert. Auf der letzten Seite findet sich zudem ein Interview mit der Grafikerin Angela Lorenz. Auf der Literaturseite wird unter anderem Tilmann Lahmes Golo-Mann-Biografie besprochen.

Für die Frankfurter Anthologie liest Kurt Oesterle ein Gedicht von Isolde Kurz (1853 bis 1944):

 "Nein, nicht vor mir im Staube knien!
Nicht mir im Arm wie Rohr zerbrechen!
Ist erst der Stunde Rausch dahin,
Ich weiß, du wirst es an mir rächen. (...)"

SZ, 23.05.2009

Skandalös findet Johan Schloemann, dass Suhrkamps Verlag der Weltreligionen "Das Buch der Weisungen für Frauen" eines islamischen Rechtsgelehrten aus dem 12. Jahrhundert herausgebracht hat, "ohne irgendeine ernstzunehmende historisch-kritische Distanzierung ... In Nachwort und Kommentar der Edition wird die immense sozialpraktische Wirkung solcher diskriminierenden Vorschriften - also die Unterdrückung und Misshandlung von Millionen muslimischer Frauen - mit keinem einzigen Wort beim Namen genannt. Stattdessen heißt es, das Buch von Ibn al-Djauzi sei "als Ratgeber oder guideline für die muslimischen Frauen konzipiert - ein Brevier für alle Lebenslagen"."

Johannes Bose hat sich die neue Antwortmaschine Wolframalpha genauer angesehen, die leider noch viele Fragen offen lasse. "Wolframalpha versteht - anders als angekündigt - mitnichten Umgangssprache. Stattdessen scheint die Seite, Google nicht unähnlich, auf Stichworte im Eingabefeld zu horchen, an denen sie sich orientieren kann. Die zweite Hürde ist der Datensatz von Wolframalpha, der zwar beeindruckend groß ist, aber noch lange nicht umfangreich genug, um auf jede Frage eine Antwort parat zu haben." Boses Test mit Fragen zum populärsten Teil der amerikanischen Popgeschichte verlief jedenfalls "unbefriedigend".

Weitere Artikel: Sonia Zekri berichtet über eine vom russischen Präsidenten Medwedjew gegründete Historikerkommission, die "Geschichtsfälschungen" bekämpfen soll. Historiker Christine Dössel porträtiert den amerikanischen Star-Coach für Schauspieler Larry Moss. Susan Vahabzadeh berichtet aus Cannes über Filme von Cristian Mungiu, Xavier Giannoli und Terry Gilliam. Henrik Bork stellt den chinesischen Nachwuchsregisseur Lu Chuan und seinen erfolgreichen Film "Nanjing! Nanjing!" vor. Alexander Menden informiert über die Entdeckung bisher unbekannter Gedichte von W.H. Auden im Filmarchiv des British Film Institute: englische Übersetzungen der russischen Zwischentitel in einer stalinistischen Propagandafilm von 1935. Thomas Steinfeld würdigt im Nachruf den verstorbenen Psychoanalytiker Paul Parin. Jörg Häntzschel gratuliert dem Architekten Robert Stern zum 70. Geburtstag, Fritz Göttler tut Nämliches bei Reinhard Hauff.

Besprochen werden das neue Album der französischen Popgruppe Phoenix, die Aufführung einer Schubert-Messe in München und Bücher, darunter Volker Harry Altwassers Roman "Letzte Haut" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf den Tagesthemenseite dreht sich alles um die Enthüllung von Karl-Heinz Kurras als Stasi-Spitzel. Willi Winkler meint jedoch, es wäre "lächerlich, bei der Tötung Ohnesorgs die Stasi am Werk zu sehen. Die DDR verfügte über Hunderte, vielleicht sogar ein paar tausend Informanten in der Bundesrepublik und in Westberlin. Auch wenn das Bild ihres krakenhaften Wesens mit den Jahren, da sie verschwunden ist, immer noch irrsinnigere und absurdere Formen angenommen hat, wird sich bei der Stasi 1955, als sich Kurras schriftlich verpflichtete, niemand der Vorstellung hingegeben haben, dass dieser Kurras zwölf Jahre später genau diesen arglosen Studenten Ohnesorg erschießen würde - um damit eine Revolte in Gang zu setzen, die in den siebziger Jahren für kurze Zeit die Stabilität der Bundesrepublik zu bedrohen schien."