Heute in den Feuilletons

Dieser böse Mann mit dem Bestseller

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2010. Der Tagesspiegel berichtet von eine Lesung Thilo Sarrazins, in der sich weder Sarrazin noch sein Publikum über ihre genetische Ahnungslosigkeit aufklären lassen wollten. In der taz versucht der linke Politologe Claus Leggewie Religionskritik zu erledigen, indem er sie in die rechtsextreme Ecke stellt. Der FR erschien Tom Tykwers neuer Film "Drei" in den letzten Tagen des Festivals von Venedig ein wenig belanglos - trotz Sophie Rois. Laut n-tv hätte Renate Künast an der Stelle von Angela Merkel keine Rede für Kurt Westergaard gehalten: "Ich hätte es nicht gemacht." In der Literarischen Welt ruft Andre Glucksmann: Die Roma sind Europäer wie wir!

FR, 11.09.2010

In seinem Resümee des Wettbewerbs von Venedig sieht Daniel Kothenschulte eher keine Preischancen für Tom Tykwers neuen Film "Drei", den er, in erster Linie der Schauspieler wegen, gar nicht so schlecht findet. Allerdings: "So liebevoll er seine Protagonisten zeichnet, so belanglos sind ihre Debatten. Würde etwa Sophie Rois' Moderatorin einer Kultursendung im Fernsehen ihren Freund im Krankenhaus besuchen, nur um ihn mit abgestandenen Argumenten einer Kopftuchdebatte aufzumuntern? Und würde ein liebenswerter Vertreter der linken Kulturbourgeoise antworten, 'für mich gehört der Islam ja eigentlich abgeschafft'?"

Weitere Artikel: Manfred Schwarz ist ins Burgund gereist, um die Zwanzig-Millionen-Euro-Restauration des Klosters Cluny, bzw. dessen, was von ihm übrig ist, bzw. seine vor Ort beim Rundgang per "Visio Guide" vorgeführte virtuelle Rekonstruktion zu bewundern. Tobi Müller berichtet von der Berlin Music Week, nutzt die Gelegenheit aber auch, um die Erfolgsgeschichte des Berliner Unternehmens Ableton zu erzählen, dessen Software Ableton Live die Herstellung von Musik kinderleicht und spottbillig macht.

Besprochen werden Benedikt von Peters Inszenierung von Luigi Nonos szenischer Aktion "Intolleranza 1960" in Hannover und der Mario-Adorf-Geburtstags-Dreistünder "Der letzte Patriarch" (ARD, 20.15 Uhr).

NZZ, 11.09.2010

Literatur und Kunst druckt die Rede ab, die Peter von Matt beim Lucerne Festival über den Eros als Inspiration der Künste hielt. Corinne Holtz schreibt zum hundertsten Geburtstag des Komponisten und Intendanten Rolf Liebermann. Für die "Bildansichten" betrachtet Anne Weber Georges de La Tours "L'adoration des bergers".

Im Feuilleton porträtiert Andrea Köhler Glenn Beck, den reaktionären Moderator des amerikanischen Fernsehsenders Fox News. In der Reihe "Digitaler Alltag" schreibt Nora Gomringer über "Mann und Mac". Susanne Ostwald gratuliert dem Filmregisseur Brian de Palma zum Siebzigsten. Islands Kirche hat ein "Glaubwürdigkeitsproblem" seit dem damaligen Bischof Olafur Skulason sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden, berichtet Aldo Keel.

Besprochen werden Bücher, darunter Lyrik und ein neuer Roman von Erwin Einzinger und Elisabeth Binders Roman "Der Wintergast" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 11.09.2010

Gestern Abend las Thilo Sarrazin in der Berliner Urania vor einem offenbar ausschließlich aus Fans bestehenden und seinen Helden lauthals beklatschenden Fans, berichtet Caroline Fetscher: "Wenig Interesse hatte das Publikum für den Darwin-Biografen Jürgen Neffe, der dem Ex-Senator nachwies, von Vererbungslehre weniger Ahnung zu haben, als ein Abiturient. Vollends hingerissen war man im Saal von der Frage des Moderators, ob vielleicht mit den Medien im Land etwas nicht stimmt. Da brach beinahe Jubel aus."

Außerdem berichtet Sebastian Leber von der Berlin Music Week, wo er auch die Band Haudegen erlebte: "Das gab es noch nicht: eine Kreuzung aus Böhse Onkelz und Nicole." Und Christian Schröder begegnet der Band Erdmöbel, die eine neue Platte herausgebracht hat.

Welt, 11.09.2010

Die Literarische Welt übernimmt aus Le Monde Andre Glucksmanns Essay gegen die Ausweisung der Roma aus Frankreich (unser Resümee): "Bei den Roma geht es nicht um die öffentliche oder die soziale Sicherheit, sondern um die mentale Sicherheit. Es ist keine rein französische Angelegenheit, sondern eine europäische."

In der Leitglosse der Beilage erklärt Tilman Krause frank und frei, dass er Thomas Lehrs Roman "September - Fata Morgana" den Deutschen Buchpreis geben würde. Walter Laqueur schreibt in seiner Kolumne über Verschwörungstheorien. Besprochen werden unter anderem Jonathan Franzens neuer Roman "Freiheit", Tom Segevs Biografie über Simon Wiesenthal, John Darwins große Studie "Der imperiale Traum - Die Globalgeschichte großer Reiche 1400-2000"

Im Feuilleton bespricht Hans-Joachim Müller die große Beuys-Ausstellung in Düsseldorf. Andreas Rosenfelder folgte einer Lesung von Rainald Goetz bei Suhrkamps. Und Peter Zander resümiert die letzten Tage von Venedig.

Auf der Magazinseite unterhält sich Thorsten Thissen mit Olivier Picasso über seinen Großvater und Erblasser, dem gerade in Münster eine Ausstellung gewidmet wird.

TAZ, 11.09.2010

Claus Leggewie und Bernd Sommer beschwören ein Rechtspotenzial, das sich in der Begeisterung für Thilo Sarrazin abzeichne. Ein paar Steigbügelhalter für den Rassismus haben sie auch schon ausgemacht: "Passionierte Islamkritiker, wie sie sich etwa im Blog Achse des Guten aber auch im Onlinemagazin Perlentaucher artikulieren, tragen zur Verwischung der Grenze zwischen legitimer Kritik am fundamentalistischen Islam und einer diskriminierenden Hetze im täglichen Meinungskampf bei." So, und jetzt wischt euch mal den Schaum vom Mund und lest was Vernünftiges.

Weitere Artikel: Cristina Nord resümiert den vielgestaltigen Wettbewerb von Venedig und kann keinen klaren Favoriten für den Goldenen Löwen dabei ausmachen. Ulrich Gutmair war dabei, als Thilo Sarrazin in Potsdam sein Buch vor- und sich Fragen des Publikums stellte. Aram Lintzel wiederum war unterdessen im Berliner Suhrkamphaus und erlebte, wie Rainald Goetz vor riesigem Publikum sein neues Buch, den Bilderband "elfter September 2010" präsentierte.

In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne graust es Tania Martini vor den "Supermutter"-Diktaten aller Orten: "'Du hattest einen Kaiserschnitt? Oh, du Ärmste'. 'Nein, war 'ne freiwillige Entscheidung.' 'Dein Kind wird Krebs kriegen.'" Katharina Granzin unterhält sich mit dem in den USA aufgewachsenen Schriftsteller Daniyal Mueenudin über sein Pakistan-Buch "Andere Räume, andere Träume" (hier ein Auszug im Perlentaucher-Vorabdruck) und über die aktuelle Lage in Parkistan. Im sonntaz-Print hat Volker Derlath ausrangierte Oktoberfest-Schaustellerpuppen im Depot des Münchner Stadtmuseums fotografiert - Florian Neumann erläutert in einem kurzen Begleittext das Nähere.

Im vorderen Teil: Dorothea Hahn ist nach Murfreesboro in Tennessee gereist, wo wirklich jeder an Gott glaubt, nur soll es schon der richtige sein. Der geplante Bau einer großen Moschee stößt jedenfalls auf Proteste: "Plakate tauchten auf, die dazu aufriefen, den geplante Moscheeneubau zu verhindern. Prediger machten Stimmung, im Rathaus erklärten empörte Bürger, dass sie Unternehmen 'boykottieren' würden, die 'für die Muslime' arbeiten."

Besprochen werden David Shields' Plädoyer für eine andere Literatur "Reality Hunger. A Manifesto" und Thilo Bodes kulinarische Anklageschrift "Die Essenfälscher" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 11.09.2010

Im Aufmacher der SZ am Wochenende legt nun Heribert Prantl ausführlich seinen Anti-Sarrazin vor. In neun Punkten erklärt er, wie man sich in Sachen Einwanderung antiaufklärerisch verhalten kann. Durchaus ermutigend findet er die neueste Untersuchung zur Integration in Deutschland und verkündet: "Mit Haudrauf und Wegdamit und Feldzügen gegen die 'Ausländerei', wie sie vor 200 Jahren Johann Gottlieb Fichte gepredigt hat, wird nur eines erreicht: Die Minderheit flüchtet sich noch mehr in ihr Anderssein, und sie nimmt zu einer aggressiven Ethnizität Zuflucht. Das Konzept des Zuwanderungs- und Integrationsgesetzes ist ganz anders: Es wirbt um die Neubürger, es akzeptiert kulturelle Unterschiede, pocht aber darauf, dass es einen gemeinsamen Rahmen gibt für alle, für die Alt- und die Neubürger: die Grundwerte der Verfassung und die deutsche Sprache."

Zum Abschluss hat Susan Vahabzadeh in Venedig unter anderem noch Tom Tykwers neuen Film gesehen - und mochte ihn: "'Drei' erklärt sich sozusagen selbst zum Laborexperiment, aber Tykwer schiebt seine drei wunderbaren Hauptdarsteller - Sebastian Schipper, Devid Striesow und vor allem Sophie Rois - nie als Schachfiguren hin und her; sie bleiben Menschen, selbst dann noch, wenn der Film in der zweiten Hälfte den Boden der Tatsachen verlässt."

Weitere Artikel: Timofey Neshitov porträtiert eine Pariser Untergrundbewegung mit dem historisch bewusst gewählten Namen "La resistance", die gegen die Ausbreitung des Islam in Frankreich agitiert. Alex Rühle ist ins Burgund gereist, nach Cluny, und bringt einen Bericht über eine Region und die Kirche dort mit, die beide schon weitaus bessere Zeiten gesehen haben. In einem weiteren großen Interview sagt Jonathan Franzen nichts weiter Neues: Zeit bis zum Beginn der Niederschrift des neuen Romans eine Qual, Internet böse, US-Kultur kindisch, Postmoderne vorbei, Fernsehserien gut. Als hoch problematische Entwicklung sieht Ira Mazzoni die an Frankfurt, Tübingen, Hamburg exemplifizierte Tendenz, die Universitäten aus dem Stadtinneren zu entfernen. Catrin Lorch berichtet vom Düsseldorfer Kunstfest Quadriennale (Website). Fritz Göttler gratuliert dem Filmregisseur Brian de Palma zum Siebzigsten.

In der SZ am Wochenende porträtiert Joachim Käppner aus Anlass von Tom Segevs Biografie den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal. Peter Wagner geht der neuen Lust am Beerdigtwerden im Wald nach. Ganzseitig werden Youtube-Clips mit Schriftstellern vorgestellt (z.B. Jonathan Franzen und Jonathan Safran Foer). Antje Wewer unterhält sich mit Charles Aznavour über "Immigration" und irgendwie hat er auch schon von Thilo Sarrazin gehört: "Dieser böse Mann mit dem Bestseller. Dessen Buch sich so sensationell verkauft, obwohl oder: gerade weil er darin die Migranten beleidigt."

FAZ, 11.09.2010

Inspiriert von dem letzten Monat erschienenen Buch Thomas Schulers über die Bertelsmann Stiftung "Bertelsmannrepublik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik" nimmt der Anwalt und Notar Peter Rawert nimmt die Stiftung unter rechtlichen Gesichtspunkten unter die Lupe. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Stiftung weniger Geld für gemeinnützige Zwecke ausgegeben hat als bei Schenkung (oder Vererbung?) an Steuern fällig geworden wäre. Eigeninteresse schlägt hier Gemeininteresse: "Tatsächlich ist anzunehmen, dass die von der Bertelsmann Stiftung seit ihrer Gründung 1977 in das Wohl der Allgemeinheit investierten etwa 870 Millionen Euro weitaus weniger darstellen als den Schenkungsteuervorteil Reinhard Mohns und seiner Familie. Das Unternehmen hingegen schwelgt in günstiger Selbstfinanzierung."

Jürgen Kaube referiert aus dem Buch einige Erkenntnisse über den politischen Einfluss der Bertelsmann Stiftung: "So ist die Privatisierung der öffentlichen Verwaltung ein großes Thema der Stiftung: Im Konzern bietet Arvato Kommunen an, deren Verwaltung federführend zu übernehmen. Die Deregulierung des Mediensektors: Immer wieder hat die Stiftung dazu Symposien mit Einflusspersonal ausgerichtet und Vorschläge erarbeiten lassen. Die 'Kommunikationsordnung 2000' etwa drängt dem treuherzigsten Leser die Frage auf, wie gemeinnützig wohl der Rat des zweitgrößten Medienkonzerns der Welt in Medienfragen sein kann." Sogar bei den Hartz-IV-Gesetzen haben sie mitgemischt.

Weitere Artikel: Swantje Karich sucht das "Begeisternde" bei der Quadriennale in Düsseldorf. Dieter Bartetzko schreibt zum morgigen Tag des offenen Denkmals. In der Gastrokolumne überlegt Jürgen Dollase, welche Bedeutung die Küche von Rene Redzepi hat und kommt zu dem Ergebnis: "Wenn er sich durchsetzt, wird sich die europäische Spitzenküche deutlich verändern." Mostra-Korrespondent Michael Althen verbindet sein Lob für Tom Tykwers Film "Drei" mit einer Liebeserklärung an Sophie Rois: "Allein schon, wie sie nach der ersten Nacht ihrer Affäre frühmorgens im Taxi sitzt und die wechselnden Gefühle wie Wolken über ihr Gesicht ziehen, ist die reinste Schau." Jakob Biazza stellt fest, dass aus der "Mash-Up-Spielerei" mit Musik inzwischen eine "ernstzunehmende Kunstform" geworden ist, mit der sich sogar Geld verdienen lässt. Auf der Medienseite lobt Christian Geyer den Auftritt von SPD-Chef Sigmar Gabriel bei Illners Talkshow über Thilo Sarrazin: eine "Sternstunde". (Hier das Video der Sendung)

Bilder und Zeiten guckt sich heute in den Häusern anderer Leute um: Jordan Mejias besucht Richard Meiers Sommerhaus auf Long Island. Gina Thomas besucht David Chipperfields Sommerhaus an der Atlantikküste Galiciens. Lena Bopp besucht Jan Kleihues' Haus in Berlin. Niklas Maak besucht Antti Lovags Kugelhaus in Nizza. Melanie Mühl besucht das Haus des Architektenehepaares Petra und Paul Kahlfeldt in Berlin-Friedenau. Karen Krüger besucht Christoph Mäcklers Haus im Taunus. Und die Architektin Asyin Ipekci erklärt im Interview, warum sie in ihrem Büro auch wohnen möchte.

Besprochen werden Philip Tiedemanns Inszenierung von Thomas Bernhards "Heldenplatz" am Theater in der Josefstadt, Konzerte beim von Elena Bashkirova gegründeten Kammermusikfest in Jerusalem, einige CDs, darunter eine Aufnahme von Charles Ives' "Holidays Symphony" und eine CD von Phil Collins, sowie Bücher, darunter Claude Lanzmanns Erinnerungen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Ludwig Harig das Lied "O du schöner Rosengarten" vor:

"O du schöner Rosengarten,
O du schöner Lorienstrauß,
Bist mir stets in meinem Herzen,
Kommst mir nimmermehr heraus.
..."