Heute in den Feuilletons

Am wahrsten ist seine Mutter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2010. Der Tagesspiegel wundert sich: Ausgerechnet die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay bleibt der Nobelpreiszeremonie für Liu Xiaobo fern. Der Guardian zählt außerdem alle Länder auf, die aus Angst vor China niemanden nach Oslo schicken. Es gab Zeiten und Gegenden, wo die aggressive Genvariante von Vorteil gewesen sein mag, schreibt der Biologe Gottfried Schatz in der NZZ. Die FR stellt (wie fast alle Zeitungen) die diesjährige Turner-Preisträgerin Susan Philipsz vor. Die FAZ sagt: danke, Julian Assange.

Weitere Medien, 08.12.2010

Im lawblog schreibt Udo Vetter zur Frage, ob Wikileaks sich mit seinen bisherigen Veröffentlichungen strafbar gemacht hat: "So wie niemand die Redakteure des Spiegel für ihre 'Enthüllungen' einbuchten kann, so wenig könnte man es in Deutschland mit den Machern von WikiLeaks machen. Die einzige Unsicherheit wäre die Frage, ob WikiLeaks wirklich 'Presse' ist. Daran besteht für mich aber kein Zweifel. Zwar beschränkt sich die Tätigkeit von WikiLeaks auf die Dokumentation. Aber gerade die Dokumentation ist eine der Kernaufgaben des Journalismus. Zudem ändern sich die Zeiten. Das Internet ermöglicht nun mal erst einen ganz neuen Journalismus durch Fakten. Denn hier gibt es anders als bei Printmedien keine Obergrenzen für die Informationsmengen und auch keine Begrenzung des Publikums. WikiLeaks hat das als erstes begriffen, es kongenial umgesetzt und sich so wahrscheinlich zum weltweit derzeit meistbeachteten und vermutlich auch wichtigsten Medium überhaupt gemacht."

Außer China wollen 18 weitere Länder die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo boykottieren, meldet Tania Branigan im Guardian: Pakistan, Iran, Sudan, Russland, Kasachstan, Kolumbien, Tunesien, Saudi Arabien, Serbien, Irak, Vietnam, Afghanistan, Venezuela, Philippinen, Ägypten, Ukraine, Kuba und Marokko. "'China has been arm-twisting behind the scenes to stop governments from attending the Nobel prize ceremony, using a combination of political pressure and economic blackmail,' said Sam Zarifi, Amnesty International's director for the Asia-Pacific. 'The fact that, despite the pressure and threats, the Chinese could only cajole a small minority of countries reflects the unacceptable nature of their demands.'"


Tagesspiegel, 08.12.2010

Und noch jemand wird bei der Nobelpreiszeremonie für Liu Xiaobo fehlen, berichtet Caroline Fetscher. "Navi Pillay, aus Südafrika stammende Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, hat ihre Teilnahme an der Nobel-Verleihung vom Freitag abgesagt. Ein Freund des inhaftierten Preisträgers erklärte, er empfinde Pillays Verhalten als klaren Verstoß gegen deren Aufgaben. Sie sei vor Chinas Druck eingeknickt."

Perlentaucher, 08.12.2010

Nachdem Paypal und Amazon vor dem Druck der amerikanischen Regierung einknickten und Wikileaks sperrten, spricht Anja Seeliger in ihrem Resümee der allerjüngsten Wikiedia-Debatten eine ganz klare Drohung aus: "Wenn Sie das nicht zurücknehmen, kaufe ich wieder bei Karstadt und zahle in bar."
Stichwörter: Amazon, Paypal

Welt, 08.12.2010

Fast hätten wir's vergessen, aber Burkhard Spinnen erinnert uns dran: Vor dreißig Jahren starb John Lennon. Der Mahler-Forscher Gilbert Kaplan freut sich, dass Mahlers Sechste heute unter Alan Gilbert erstmals seit langer Zeit in der "richtigen " Satzreihenfolge (als erster Mittelsatz das Andante, dann das Scherzo) gespielt wird. Boris Kalnoky schildert den Fall des türkisch-deutschen Autors Dogan Akhanli, der mit möglicherweise fabrizierten Beweisen in der Türkei wegen Mordes angeklagt wird. Tim Ackermann stellt die diesjährige Turner-Preisträgerin Susan Philipsz vor. Mladen Gladic verfolgte das Kolloquium "Iphone - Gute Form, bad design?" in Dessau. Und Elmar Krekeler feiert den Abschluss der CD-Edition aller Bach-Kantaten unter John Eliot Gardiner.

Besprochen wird der Film "Nowhere Boy" über die frühe Zeit der Beatles.

NZZ, 08.12.2010

Unverlinkt, weil noch nicht online:

Der Biochemiker Gottfried Schatz erklärt die chemischen Vorgänge, die unsere Persönlichkeit prägen. Zum Beispiel bei impulsiven, rastlosen, aggressiven Menschen: "In unserer hoch organisierten Welt ist diese Genvariante meist von Nachteil, doch Nomaden scheint sie Vorteile zu verschaffen; vielleicht schenkt sie ihnen Wagemut und hilft ihnen so, neue Weide- und Jagdgründe zu erobern sowie Angreifer schneller und mutiger abzuwehren. Dafür spricht, dass diese Genvariante erst vor etwa zwanzigtausend bis vierzigtausend Jahren entstand - also ungefähr zu der Zeit, als 'moderne' Menschen Afrika verließen und nach Nordeuropa vordrangen - und dass sie sich seither in unserer Population behauptet hat. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass ihre Träger ungewöhnlich bereitwillig sind, asoziale oder finanziell riskante Entscheidungen zu treffen."

Besprochen werden die Schau "The Global Africa Project" im New Yorker Museum of Arts and Design, eine Ausstellung mit Arbeiten zum Swiss Architectural Award, Patricia Cloughs Geschichte des "Emin Pascha", Arno Schmidts Riesenwerk "Zettel's Traum" und Clemens Bergers Roman "Das Streichelinstitut" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 08.12.2010

Die frischgebackene Turnerpreisträgerin Susan Philipsz erklärt im Interview, was ihre "Klangskulpturen" von "gewöhnlicher" Musik unterscheidet: "Für mich gibt es einen Unterschied zwischen 'gewöhnlicher' Musik und meiner Kunst: Ein gewöhnliches Musikstück versetzt einen an einen anderen Ort; man befindet sich beim Zuhören in einer Art Traumzustand. Die meisten Musikstücke werden sorgfältig produziert und von professionellen Sängern gesungen. Meine Stimme dagegen ist untrainiert; nach der Produktion ändere ich nichts. Zu den Werken, die sich draußen befinden, kommen dazu die Alltagsgeräusche: Züge, Busse, Passanten, der Fluss. Diese Dinge nimmt man als Teil der Erfahrung auf und sie verhindern, dass man in einem Traumzustand versetzt wird. Man wird sich und seiner Umgebung eher besonders bewusst."

Weiteres: In Auszügen abgedruckt ist Mario Vargas Llosas Nobelvorlesung. Klaus Jungheinrich gratuliert Hans Jürgen Syberberg zum 75. Geburtstag. Besprochen wird Mahir Günsirays "Faust"-Inszenierung in Bochum.

TAZ, 08.12.2010

Nicht wirklich überzeugend findet Diedrich Diederichsen Sam Taylor-Woods John-Lennon-Film "Nowhere Boy", dessen Philosophie Diederichsen so fasst: "Im Rock 'n' Roll kommen Buddhismus und Kulturindustriekritik zusammen, um die einfachen Wahrheiten hinter all dem hypokritischen Gelaber ans Licht zu bringen. Diese einfachen Wahrheiten sind auf seinem ersten Soloalbum die Würde der Arbeiterklasse, die Liebe zu Yoko, Hass auf Masken und Verstellungen, und am wahrsten ist seine Mutter."

Weiteres: Simone Jung berichtet, dass ein Berliner Postgraduiertenseminar nun auch Kunststudentinnen strategische Profilierung, Karrieremanagement und Vernetzungsstrategie beibringen wird. Besprochen wird David Pountneys Inszenierung der "Trojaner" von Hector Berlioz an der Deutschen Oper Berlin.

Und Tom.

FAZ, 08.12.2010

Eine Art vielleicht etwas voreiligen politischen Nachrufs hat Lorenz Jäger auf den nunmehr in Haft befindlichen Wikileaks-Gründer Julian Assange verfasst: "Das geputzte Aquarium der weltpolitischen Urteile und, vor allem, der kurze Film über die Liquidierung einer Gruppe von Zivilisten im Irak aus einem Hubschrauber heraus: Das wird, was immer nun mit Assange geschieht, was immer an den schwedischen Vergewaltigungsvorwürfen dran ist, als bleibendes Verdienst dieses Mannes im Gedächtnis bleiben. Solche Dinge vergisst die Weltöffentlichkeit nicht so schnell."

Weitere Artikel: Gar nicht so übel findet Niklas Maak die experimentellen Kunstarchitekturabsichten, für die Klaus Wowereit höchstpersönlich auf etwas unkonventionelle Weise eine Lottomillion lockergemacht hat. Wenn nun schon die Klangkünstlerin Susan Philipsz den Turner-Preis bekommt, dann ist es mit der Unterscheidungsfähigkeit unserer "Anything-Goes-Kultur", fürchtet in der Glosse Gina Thomas, wohl Matthäi am letzten. Auf der DVD-Seite weist Dominik Graf auf eine Edition mit dem Film "Il Marchese del Grillo" des unlängst verstorbenen italienischen Regisseurs Mario Monicelli hin. Außerdem geht es um Dokumentarfilme über Bruce Springsteen und Roman Polanski.

Beesprochen werden David Poutneys Inszenierung von Hector Berlioz' Oper "Die Trojaner" an der Komischen Oper in Berlin, die Ausstellung "Das Potosi-Prinzip" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, eine Ausstellung mit Gemälden des Porträtmalers des Papstes Michael Triegel im Museum der bildenden Künste in Leipzig, Sam Taylor-Woods John-Lennon-Film "Nowhere Boy" (mehr) und Bücher, darunter Nils Röllers Studie zum Thema "Magnetismus" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.12.2010

Alles ist relativ, nur Beethoven nicht, seufzt Wolfgang Schreiber, nachdem er alle Neune unter Christian Thielemann und mit den Wiener Philharmonikern in Berlin hörte: "Wer einmal, nur zum Beispiel, vor Jahren die siebente Symphonie in Bratislava mit einem porös klingenden, doch wie ums Überleben kämpfenden namenlosen Orchester aus dem böhmischen Olmütz gehört hat und von Beethovens symphonischer Gewalt, die absolut präsent war, überwältigt wurde, der mag die feinen Differenzen von Star-Interpreten der Orchesterkunst getrost auch belächeln."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld hatte zwar nicht darüber berichtet, kannte aber all die von Wikileaks enthüllten Geheimnisse schon und wundert sich im Aufmacher über die Aufregung. Kia Vahland staunt über den Kurator der Berlin Biennale, Artur Zmijewski, der von Künstlern ein politisches Bekenntnis einfordert (rentieren sie dann besser?). Gottfried Knapp macht sich nach den jüngsten Entscheidungen zu "Stuttgart 21" Sorgen um das Bahnhofsgebäude des Architekten Paul Bonatz. Jens-Christian Rabe hört sich Michael Jacksons erstes Album aus dem Nachlass an. Alexander Menden kommentiert den Turner-Preis für die Klangkünstlerin Susan Philipsz. Fritz Göttler gratuliert Maximilian Schell zum Achtzigsten. Christian Wernicke schreibt den Nachruf auf den Holocaust-Überlebenden und niederländischen Diplomaten Max Kohnstamm.