Im Kino

Dutzende von Ohren

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
10.11.2022. Ist der neue Film von David Cronenberg sein Abschiedsfilm? Sein zweiter "Crimes for the Future" ist kein Remake, aber mindestens genauso dystopisch. Im Menschen nachwachsende Organe sind das neue Fleisch. Was bleibt? Erlösung durch Mutation, durch Transzendenz, durch den willentlich umarmten Tod.


"Crimes of the Future", so hieß schon einmal ein Film von David Cronenberg: 1970 entstand dieser dystopische 70-Minüter und spielte in einer Welt, in der ein kosmetisches Produkt mal eben den sexuell reifen weiblichen Teil der Bevölkerung dahinraffte. Wenn Cronenberg, der im nächsten Jahr 80 Jahre alt wird, nun seinen ersten Film seit acht Jahren erneut "Crimes of the Future" nennt, ohne allerdings ein Remake vorzulegen, ist das unschwer als Statement zu erkennen: eine Klammer ums Werk, vielleicht auch ein warnender Abschiedsgruß als Cassandra.

Der neue "Crimes of the Future" ist in seinem Setting nicht weniger dystopisch-apokalyptisch als der alte: In einer unbestimmten, aber wohl nicht weit entfernten, wirtschaftlich komplett in Trümmern liegenden Zukunft haben die Menschen ihr Schmerzempfinden weitgehend verloren und fangen sich auch keine Infektionskrankheiten mehr ein. Das macht Operationen am menschlichen Körper unter desolatesten Alltagsbedingungen möglich - ein gefundenes Fressen für die Performance-Kunst, wie sie etwa Saul Tenser (Viggo Mortensen) betreibt, dessen Vorname wohl nicht von ungefähr ans englische Wort für Seele (Körper-Seele-Materie - die heilige Trias in Cronenbergs Filmen), aber auch an den biblischen Saul erinnert, der sich vom Zweifler und Hetzer zum christlichen Kirchenvater wandelte (vielleicht wie kein zweiter Cronenberg-Film handelt "Crimes of the Future", im letzten Bild wirklich buchstäblich, von Transzendenz und Erlösung). Diesem Saul jedenfalls - oder besser: dessen Körper - wachsen fortlaufend neue Organe, die er sich bei Kunstritualen in Kathedralen des Verfalls von seiner Partnerin Clarice (Lea Seydoux) spektakulär entnehmen lässt. "Crimes of the Future" ist nicht zuletzt ein Film darüber, dass es die innere Schönheit ist, die zählt (dass Cronenberg Metaphern gerne buchstäblich nimmt, also in Fleisch übersetzt, wird einem einmal mehr bewusst, etwa wenn ein Performancekünstler sich Augen und Mund zunäht und Dutzende von Ohren an seinem Körper anbringen lässt - er ist quasi "all ears").

Einmal mehr sind es undurchsichtige Institutionen, Agenten, Subversive und politische Chimären, die einen Cronenberg-Film Fahrt aufnehmen lassen: Es gibt Nationale Registrierungsstellen für neue Organe (großartig zugeknöpft und neurotisch: Kristen Stewart als Assistentin Timlin), eine ermittelnde Geheimpolizei und eine Gruppe sogenannter "Evolutionisten" - all diesen Gruppierungen ist gemein, dass sie ein Wörtchen mitreden wollen, was die prinzipielle Entwicklung der Menschen betrifft. Die einen fürchten darum, dass der Mensch nicht mehr Mensch sein wird, wenn das Wuchern neuer Organe überhand nimmt. Die anderen sehen in dem Umstand, dass immer mehr Menschen in der Lage sind, Plastik zu verdauen, das Telos des Menschengeschlechts auf dem Weg in eine goldene Zukunft. "Lang lebe das Neue Fleisch" ließ Cronenberg die Terroristen in "Videodrome" ausrufen - "lang lebe der neue Verdauungstrakt" könnte das Motto dieses "Crimes of the Future" sein. Cronenberg belässt es weniger ulkig bei Slogans wie "Der Körper ist Realität" und "Operationen sind der neue Sex". Was das betrifft, ist dieser Film vielleicht tatsächlich ein Sexfilm der Zukunft: Ständig wird in andere reingeschnitten, in andere reingeschaut - man muss offen sein für neue Erfahrungen und auch einmal sein Innerstes zeigen.

Wuchernde Körper, ritualisierte Operationen, tätowierte Organe und Reflexionen über das Verhältnis zwischen Wort und Fleisch (zu dem ersteres bekanntlich wurde, wenn man der Bibel Glauben schenken darf), das Ganze vor einer Kulisse des schmodderigen Verfalls: Wer sich in den Filmen des Kanadiers auskennt, fühlt sich in "Crimes of the Future" im Nu wie Zuhause. Über weite Strecken wirkt der Film wie ein Best-Off, oder besser: wie eine bilanzierende Verdichtung all der Motive und Philosopheme, die sich durch Cronenbergs beeindruckend konstantes Werk ziehen. Mehr als nur einmal beschleicht einen der Eindruck, Cronenberg würde mit "Crimes of the Future" vielleicht sogar eine Art "vereintes Erzähluniversum" andenken, in das sich zumindest seine Schlüsselfilme über die Krise des Körpers in szenischer Kontinuität einfügen könnten. Bildet "Crimes of the Future" das apokalyptische Zukunftsbild, in das Filme wie "Videodrome", "Scanners" und "eXistenZ" einmünden? Der Gedanke ist reizvoll.



Eine Folge dieses Bilanzgedankens ist, dass "Crimes of the Future" sein Szenario nicht allmählich entfaltet und ertastet, sondern wie kaum ein zweiter Cronenberg-Film unheimlich dicht ist und kontinuierlich die Synapsen zum Kribbeln bringt: Manch ein Extremist der Kinetik mag darin abgefilmtes Theater sehen, jedenfalls hat Cronenberg selten so bühnenhaft, beinahe statuarisch gedreht und seine Figuren dabei am laufenden Meter dialogisch räsonieren lassen.

Das Resultat ist eine durchaus reizvolle Thesenhaftigkeit, die durch das wunderbare Set-Design, den großartigen Soundtrack von Howard Shore, die behutsame Kadrage und das pointierte Spiel des durchweg großartigen Casts dennoch eine ungemein sinnliche Qualität entwickelt. Überdies erfahren die Figuren fast schon einen zugewandten Filmemacher, dessen Arbeiten oft als kalt und bürokratisch abgetan werden. Wenn zwei Mechanikerinnen ihre Kleidung fallen lassen, um sich spielerisch in einem bio-mechanischen Sarkophag-Interface zu vergnügen, hat das wenig vom heiligen Pathos aus Cronenbergs Autounfall-Porno "Crash", sondern es wirkt sympathisch naiv und unbekümmert, wie aus einem Sexfilmchen aus den Siebzigern. Auch gibt es trotz aller Antagonismen des schemenhaft angedeuteten Agenten- und Polit-Thriller-Szenarios keine wirklichen Schurkenfiguren. Jede Seite macht Punkte. Das Geschehen speist sich eher aus einer allgemeinen Ratlosigkeit im Angesicht der Krise. Nach der Corona-Pandemie, mitten in Russlands Krieg in der Ukraine und hinsichtlich der Herausforderungen der Klimakrise ist das ein denkbar zeitgenössisches filmisches Statement.

Cronenbergs Beobachtungen sind bei aller Alltagsferne so bestrickend wie sinnfällig. In der Verfremdung durch Science-Fiction und Horror legt er offen, wofür im Immergleichen der Blick fehlt, weil die historische Komponente des Mensch-Seins sich selten aufdrängt. Der Mensch vor dem Buchdruck ist ein anderer als der danach. Technischer, kultureller und historischer Fortschritt formen den Mensch und sein Begehren. Wo kein Leder, wo keine Loslösung des Leders für die Notwendigkeit des Überlebens, da auch kein Leder-Fetischismus. Wo Schmerz und Infektionsgefahr sinken, werden Körpereingriffe zu einer Frage der sexuellen Vorlieben und der Kunst (über die Cronenberg - sein Saul ist in mancher Hinsicht offensichtlich ein Alter Ego - auch den einen oder anderen galligen Kommentar ablässt, insbesondere was die Rolle der Kulturverwaltung betrifft). Der Mensch ist das Wesen, dessen Logos ihn vom Körper löst, nur um ihm die Realität seines Körpers als Schauplatz aller möglichen Kämpfe umso bewusster werden zu lassen.

Was bleibt? Erlösung durch Mutation, durch Transzendenz, durch den willentlich umarmten Tod? In einem Kurzfilm hat Cronenberg vor kurzem schon einmal vorsorglich mit seiner Leiche geschmust. In "Crimes of the Future" ist das letzte, das Erlösungsbild um einiges doppel- und vieldeutiger. Natürlich ist nichts mehr zu wünschen als unbedingt noch weitere Filme von Cronenberg - aber wenn dieses Bild das Werk final abschließen würde, wäre das als Abschiedsgruß schon sagenhaft schön.

Thomas Groh

Crimes of the Future - Kanada 2022 - Regie: David Cronenberg - Darsteller: u.a. Viggo Mortensen, Lihi Kornowski, Léa Seydoux, Scott Speedman, Krisen Stewart - Laufzeit: 107 Minuten.