Im Kino

Ein machtloser Esel

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
21.12.2022. Jerzy Skolimowskis Roadmovie "Eo" über einen Esel, der nach Hause zu seinen Karottenmuffins will, ist kitschig, wenn er versucht, in die Seele des Tieres - oder vielmehr der sechs Tiere, die Eo spielen - einzudringen. Aber die zahlreichen formalen Experimente wirken auch befreiend. Und der Esel ist ein phantastischer Hauptdarsteller: Er weiß, dass weniger meist mehr ist.


Jenen, die dem Kino gerne Einfallslosigkeit vorwerfen, wird regelmäßig fruchtbarer Boden für ihre Kritik bereitet. Auch wenn ich das gern anders empfinden würde, befindet sich die "siebte Kunst" in einer langanhaltenden Stagnationsphase. Das Kino hat sich fatalerweise damit abgefunden, dass es als Kunst nicht weitergehen muss. Entweder wird Altes aufgewärmt und nostalgisch angehimmelt oder eine Geschichtsvergessenheit setzt ein, in der die aufgeregt nach dem Besonderen, Neuen, Einzigartigen schreiende Kultur nicht mehr von den sie begleitenden Marketingmaschinerien zu unterscheiden ist. Sei's drum. Besser schauen als lamentieren. Dass nun aber ein 84jähriger Regisseur aus dem europäischen Kunstkino, der jahrzehntelang mit idiosynkratischen, in keine Schublade passenden Arbeiten am Rande des Kanons umherirrte, ein weltweit gefeiertes Update von Robert Bressons unantastbarem "Au hasard Balthazar" in die Welt setzt, könnte doch weiteren Anlass zur Frustration geben. Aber ist das so einfach?

Jerzy Skolimowski, bekannt durch zahlreiche mehr oder weniger gelungene Extravaganzen wie "Le départ" (1967), "Deep End" (1970) oder "Essential Killing" (2010), jedenfalls behauptet, dass er immer schon einen Film über ein Tier machen wollte, weil es dann keine langweiligen Dialoge bräuchte. Besonders angetan hatte es ihm ein Esel, das heißt eigentlich sechs Esel, denn so viele "spielen" den titelgebenden Vierbeiner in Skolimowskis gleichermaßen an Bresson wie an Dante erinnernden Höllenreise.

Dabei bedient sich "Eo" herkömmlicher Tränendrüsendrücker des unbeschriebenen Genres von Kindern, die von Zuhause weggeschickt werden. Von seinem Zirkus getrennt, durchläuft Eo zahlreiche Stationen auf einer Reise von Polen nach Italien. Dick aufgetragene Musik untermalt die Sehnsucht nach der Heimat, während man allerhand schrägen, guten und unguten sowie gefährlichen Menschen begegnet und erwachsen wird. Dass der Protagonist ein Equus asinus asinus, also ein Hausesel ist, erhöht die Identifikation. Wen der Anblick eines verlorenen Esel nicht zu Tränen rührt, der ist sowieso ganz falsch im Kino und wahrscheinlich auch in der Welt. Skolimowski und sein Kameramann Michał Dymek begnügen sich jedoch nicht mit dem Anblick. Sie dringen ein in die Weltsicht des Esels, blicken wiederholt durch seine Augen und nähern sich in surreal schwebenden, monochrom gefärbten Welten dessen Träumen und Erinnerungen.



Dass die Geschichten von Filmeseln weit über Bresson hinausgeht, dürfte auch dem Filmemacher, der den Film als Hommage an Bresson verstehen will, klar sein. Jacques Rivette sprach gelegentlich von der Hundeliebe unter Cinephilen, die er kurzerhand in Canophile umtaufte. Auch wenn das Wortspiel deutlich weniger Sinn macht, wäre auch der filmgeschichtliche Beitrag der Asinophilen nicht zu verkennen. Der Esel diente unzähligen Filmemachern als Sinnbild für stoisches menschliches Leiden und ist ein dementsprechender Superstar des anthropozentrischen Kinos (das alles ignoriert noch, welch herausragende Projektionsfläche sein sanftes, aber doch eher regungsloses Gesicht bietet, wie die besten Darsteller haben Esel verstanden, dass weniger meist mehr ist). Bresson filmte den Esel auch, um durch ihn die Menschen zu betrachten. Eo fügt dem auf den ersten Blick nichts hinzu.

Obwohl Skolimowski sich recht ungeniert in diese Traditonslinie begibt, gewinnt er dem weitgehend unbesungenen Genre des Esel-Roadmovies einige neue Aspekte ab. Dass er in an Emmanuel Lubezki erinnendernden Weitwinkel-Kameraschwebeflügen versucht, in die Traumwelt seines Esels einzudringen, ist genauso dämlich wie genial. Ähnliches lässt sich über die aus der Perspektive des Esels gefilmten Aufnahmen sagen. Genial ist es, weil es Kamera und die gescholtene Seele des Protagonisten gleichermaßen befreit und so zu einer Art Hoffnungsschimmer wird, in dieser zwar niemals nur grausamen, aber doch unerträglichen und einschließenden Welt zwischen Zirkus, Fußballvereinen und Adeligen. Diese Bilder sind nur ein Aspekt der zahlreichen befreienden formalen Experimente, auf die sich der Filmemacher einlässt.

Dämlich, weil es in einem aufrichtig an den Tieren interessierten Film nichts Unpassenderes gibt, als die zutiefst menschliche Fantasie, dass man deren innere Welt bebildern könnte. Andrea Arnold hat in ihrem "Cow" unlängst bewiesen, dass es vollends genügt, Vierbeiner einfach nur genau anzusehen. Man wird erkennen, dass sie fühlende Wesen sind, da braucht es keine Träume. Für alle die zweifeln, erledigt Kuleschow den Rest.  



Das Kino ist im gutbürgerlichen Theater angekommen oder soll ich schreiben, es ist zurückgekehrt? Wie im Wiener Burgtheater werden die alten Klassiker (oder schlimmstenfalls Werke, die ohnehin keiner braucht) in einem aufgepeppten, schrilleren Glanz wiedergekäut, bis alle daran ersticken. Die Motivation ist jene vielbesungene und garantiert bald wieder verschwindende Aktualität. Mit ihr müssen sich Filme, glaubt man den erdrückenden Diskursen, abgleichen, weil sie sonst, so könnte man meinen, gar nicht existierten. Ein Esel, so die Wahrnehmung, wird heute anders angesehen als vor 50 Jahren. Hoffentlich erzählt das niemand dem Esel.

Trotzdem gewinnt Skolimowskis Film gerade durch die Tatsache, dass 56 Jahre vergangen sind, seit Bressons Esel das Kino veränderte. Zum einen, dafür kann er am wenigsten, weil sich erschreckend wenig verändert hat. Der Esel ist immer noch Opfer der unsteten Mentalität der Menschen, die Leben führen, in der ein Esel meistens genutzt, missbraucht und ignoriert wird. Zum anderen, weil sich doch einiges verändert hat. Skolimowski zeigt ein Polen, das sich im Vergleich zum ländlichen Frankreich der 1960er Jahre merklich sensibilisiert hat für das Wesen des Esels. Tierrechte und der Einsatz von "Eo" als Therapietier sind dafür nur zwei Beispiele. Die Tatsache, dass diese Ansätze nicht reichen, damit wir uns den Esel glücklich vorstellen können, beschreibt die eigentliche Tragik des Films. Und setzt die einmal ein, ist man diesem Film trotz erheblicher Vorbehalte doch hoffnungslos verfallen. "Eo" ist ein weiteres erschreckendes Dokument des menschlichen Versagens auf dieser Erde.

Dramaturgen haben nie etwas Effektiveres geschaffen, als diese Szenen, in denen einer etwas ganz Einfaches will, während sich alle und alles gegen dieses Wollen stemmen. Für "Eo" ist das, was er sucht seine Heimat, der Zirkus, verkörpert durch Karottenmuffins und seine dortige Herrin, die junge Akrobatin Kassandra (die mythologisch benannt ist, da sie stets das Unheil erahnt, aber nicht gehört wird). Der Esel schreit seinen unverkennbaren Schrei, der ihm und dem Film den Namen gibt. Er schreit nach seiner Zirkusheimat, die alles ist, nach dem er sich sehnt, aber keiner hört ihn.

Bleibt noch eine Bemerkung zum Casting, denn vielleicht findet sich dort das eigentlich Interessante an diesem Film. Dass der eine Esel von sechs verschiedenen Eseln gespielt wird, ist zunächst einmal tierschutzrechtlichen Fragen geschuldet und in diesem Sinne sicher zu befürworten. Gleichzeitig aber stellt sich ein seltsamer Effekt ein, weil man diese Esel selbst als Laie ziemlich leicht unterscheiden kann. Man sieht, dass das nicht nur ein Esel ist und dadurch erheben sich die bewegenden Bilder dieses wunderschönen Tieres ins Abstrakte. Nicht ein Esel ist es, es ist der Esel per se, ein machtloser Esel gefangen im Stumpfsinn menschlichen Strebens.

Patrick Holzapfel

EO - Polen 2022 - Regie: Jerzy Skolimowski - Darsteller: u.a.  Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurolo und sechs Esel - Laufzeit: 86 Minuten.