Im Kino

Arie aus Licht und Schatten

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Karsten Munt
03.07.2020. "Domino", Brian de Palmas erster Film seit sieben Jahren, erzählt vom größten Krieg des 21. Jahrhunderts: dem Bilderkrieg, den der Westen schon verloren hat. Exzellente Vorlage für den Meister der Suspense-Oper, der diesmal islamische Terroristen, fiese CIA-Agenten und dänische Polizisten zusammenspannt. In Jonas Alexander Arnbys "Suicide Tourist" versucht ein Mann mit der Diagnose Hirntumor fertig zu werden. Doch das selbstbestimmte Sterben gestaltet sich als schwierig.


Zwei dänische Polizisten: den älteren Lars (Søren Malling) sehen wir im Zwielicht seines Wohnzimmers, die Scheinwerfer der Autos, die draußen auf der Straße vorbeifahren, überziehen sein Gesicht mit Schatten, in der Hand eine Kippe, vor sich auf dem Tisch eine Flasche Schnaps. Das Bild eines Mannes, der einen inneren Kampf auszutragen hat. Worum es dabei genau geht, werden wir erst später erfahren - dann, wenn es für ihn schon zu spät ist. Als er seinen jüngeren, energischen Kollegen Christian Toft (Nikolaj Coster-Waldau) zur gemeinsamen Streife abholt, wird dieser von der Frau, mit der er ein Date hatte, so lange im Bett festgehalten, dass er, als er schließlich los eilt, seine Dienstwaffe vergisst. Persönliche Verwicklungen sind es, die die Figuren in "Domino" ins Unglück stürzen lassen.

Dazu passt, dass es ein Notruf wegen eines angeblichen Falls von häuslicher Gewalt ist, der die beiden Beamten auf die Spur eines internationalen politischen Komplotts führt. Als sie einen Mann namens Farouk Hares (Eriq Ebouaney) verhaften, kann sich dieser aus seinen Handschellen befreien und Lars die Kehle aufschlitzen. Christian verfolgt ihn über das Spitzdach eines Mietshauses. Die Szene ist eines von zwei großen Set Pieces, die den Film rahmen. Brian De Palma, der seine Karriere zur Zeit des New Hollywood begann und mit "Domino" 2019 nach sieben Jahren erstmals wieder einen Film drehte, wandelt hier deutlich auf den Spuren seiner früheren Großtaten insbesondere aus den Achtzigern, als er aufs ganz große Gefühl abzielende Suspense-Opern inszenierte, die Hitchcock nicht - wie gerne behauptet wird - einfach kopierten, sondern sich von ihm nahmen, was sie brauchten, um eine sehr persönliche Filmsprache des reinen stilistischen Exzesses zu entwickeln. Zu den dick auftragenden Streichern der Filmmusik Pino Donaggios, eines anderen Altmeisters seiner Kunst, schafft De Palma eine unheimliche Arie aus Licht und Schatten, Angst, Tod und Gewalt. Im Zentrum der Szene stehen expressive Großaufnahmen von Gesichtern, die mit einem Split-Diopter gefilmt wurden, einer Vorrichtung, die auf die Linse der Kamera gelegt wird, damit zwei Bildebenen gleichermaßen scharf erscheinen.

Schließlich lässt De Palma sowohl seine Figuren als auch das Publikum den Boden unter den Füßen verlieren. Nur noch eine wacklige Regenrinne, an die sich Jäger und Gejagter klammern, steht zwischen ihnen und dem Abgrund. Nach dem Sturz in die Tiefe, den beide Männer unbeschadet überstehen, kann Hares schließlich entkommen. So meisterhaft, wie De Palma in diesem Auftakt immer noch die Affektmaschine Kino beherrscht, versucht er doch gar nicht erst zu verdecken, dass die Grandezza von einst hier mit dem billigen digitalen Look eines europäischen Fernsehfilms der Gegenwart kollidiert. Gerade aus dem Kontrast seiner Ambitionen einerseits und der finanziellen und technischen Mittel andererseits entsteht die produktive Dissonanz, die im Zentrum des Films steht.



Christian und seine Kollegin Alex (Carice Van Houten), die mit Lars, der bald im Krankenhaus seiner Verletzung erliegt, eine Affäre hatte und ein Kind von ihm erwartet, machen sich auf die Suche nach Hares, der in Wirklichkeit Ezra Tarzi heißt. Ihre Jagd führt sie dabei ins Milieu islamistischer Terroristen; und somit zwischen die Fronten eines Kriegs, in dem den religiösen Fanatikern auf ihrem mörderischen Kreuzzug gegen die "Ungläubigen" der aalglatte und zynische CIA-Agent Joe Martin (Guy Pearce) gegenüber steht. Einem Mann, der einer Organisation angehört, die den Folterknast Guantanamo betreibt und nicht davor zurückschreckt, einen gesuchten Polizistenmörder für sich die Drecksarbeit machen zu lassen. Entscheidend ist, dass Tarzi mit anderen Mitteln arbeiten kann, weil er nicht unter Beobachtung der amerikanischen Presse steht. Bereits in seinem vorletzten Film, der Irakkriegs-Mockumentary "Redacted" zeigte De Palma, dass die Kriege des angehenden 21. Jahrhunderts ihrem Wesen nach Bilderkriege sind. Wo die Gewalt der CIA darauf bedacht ist, sich der Sichtbarkeit zu entziehen, geht es dem IS gerade darum, seine Taten im Internet der ganzen Welt zu zeigen.

Die IS-Bluttaten sind in erster Linie Eingriffe in die Zirkulation hegemonialer westlicher Bilder - im Fall von Domino wäre das ein Massaker mit Maschinenpistolen bei einem europäischen Filmfestival. Dabei bedienen sich die Islamisten zugleich der Ästhetik westlicher Medien. In einer Szene weist Christian Alex darauf hin, wie elaboriert deren Enthauptungsvideos formal gestaltet sind. Der live mitgefilmte Anschlag wiederum erinnert an Ego-Shooters, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Vernichtung menschlichen Lebens die Fiktionalisierung der realen Opfer zur Voraussetzung hat. Der Gedanke, dass das die Attentäter*innen erst psychologisch dazu befähigt, ihre Blutbäder zu verüben, klingt dabei zumindest an. Allerdings rekurrieren die Bilder auch auf einen (westlichen) Authentizitätsfetisch, den sie brauchen, um ihr politisches Ziel zu erreichen: die Verbreitung von Angst und Schrecken.

Das Finale Furioso, fast komplett in Zeitlupe und ohne Dialoge gedreht, bringt die vier Hauptfiguren des Films an einem Ort zusammen, an dem ebenfalls das Spektakel des ritualisierten Tötens zelebriert wird: in einer südspanischen Stierkampfarena. Ihnen bleibt dabei nur die bittere Erkenntnis, dass sie in einer Welt leben, in der bestenfalls noch ihre privaten Verwicklungen aufgelöst werden können, indem ihr Sinnen auf Rache befriedigt wird. Die größeren Strukturen, die das Leben ihrer geliebten Menschen bedrohen und teilweise vernichten, bewegen sich längst in einer Sphäre, die sich dem Zugriff des Individuums entzieht. Dasselbe gilt letztlich für den Film selbst: der emotionale und ästhetische Überschuss, der die persönliche Handschrift des Genre-Auteurs des 20. Jahrhunderts ausmachte, nimmt  sich im normierten Bilderfluss des 21. längst wie ein anachronistischer Fremdkörper aus. Diejenigen, für die die Bilder restlos in ihrer Funktion als politische Waffen aufgehen, haben den Krieg um dieselben längst gewonnen.

Nicolai Bühnemann

Domino - Dänemark 2019 - Regie: Brian de Palma - Darsteller: Nikolaj Coster-Waldau, Søren Malling, Eriq Ebouaney, Carice Van Houten, Guy Pearce - Laufzeit: 89 Minuten. "Domino" bei justwatch

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Fünf Punkte vergibt Max für sein körperliches Wohlbefinden. Fünf von zehn. Die App, die sich regelmäßig nach seiner Gesundheit erkundigt, vermerkt die aus den Zahlen sprechende Unentschlossenheit und erinnert ihn noch an seine morgendliche Sprachübung. Die Routine, die er so gewissenhaft und freudlos abspult wie den Zungensprecher, der das Sprachtraining markiert, hat einen Grund: Max hat einen Hirntumor. Mit der Diagnose, die pünktlich zu seinem 40. Geburtstag kommt, bleibt sein Leben bei 5/10 stehen. Die Arbeit als Versicherungsvertreter agiert er bald ebenso mechanisch aus wie seine Beziehung zu Freundin Lærke (Tuva Novotny).

Die verkürzte Lebenszeit hängt ein Gewicht an jede Entscheidung, Bewegung und Geste in Max' Leben. Bereits der Gedanke daran, dieses Gewicht mit Lærke zu teilen, überfordert Max so maßlos, dass statt der gemeinsamen Aussprache bei Jakobsmuscheln, Spargel und Mangosauce bald der erste Selbstmordversuch ansteht. Doch so fest der vom Baumarktangestellten für ihn gebundene Knoten auch sein mag, Max muss sich mit der Schlinge um den Hals eingestehen, dass sein Leben sich nicht ohne weiteres beenden lassen will. Die pathetischen Versuche, selbstbestimmt abzutreten, bevor der Tumor beginnt, das eigene Wesen zu zerstören, scheitern allesamt an der profanen Macht des Konformismus: Erst fährt der Nachbar mit dem Wagen vor, dann klingelt im falschen Moment das eigene Handy. "Suicide Tourist - Es gibt kein Entkommen" ist in diesen Szenen, die eine absurde Komik zwar abbilden, sich ihr aber nie über die Empathie hinweg verschreiben, am stärksten. 05/10 ist die schmerzhafte Grenze zwischen Leben und Tod, ein unerträgliches Patt.

Ein Geschäftsmodell bietet den Ausweg und damit das Herzstück des Films. Das "Aurora" genannte Unternehmen bietet den Suizid als Kurzurlaub in einem abgelegenen Luxusressort an. Sterben für die Oberschicht - ohne Angehörige, ohne Scham, nach eigenen Regeln. Max bucht den Urlaub und bekommt fortan statt eines schwer erträglichen Alltags aus Lügen, Luxusfrühstück, Meditationskurs, Spa und Heroin-Tee geboten. Der Tod soll dann schmerzlos mit einer schlichten Tablette kommen. Die Bestattung gibt es auf Wunsch mit Öko-Urne oder einer Wunschpflanze, für die der eigene Kadaver die Nährstoffe bereitstellen kann. Der Film nimmt sich enorm viel Zeit dafür, das Programm von Aurora vorzustellen, das schon lange, bevor der Deckel der kompostierbaren Urne geliftet wird, nach Dystopie schreit. Der in den Dienstleistungsmarkt ausgelagerte Suizid dient dem Film dann auch als Grundstruktur, in der Max sich von den Erinnerungen seines Lebens heimsuchen lassen kann.



Während also der, laut Firmenpolitik, finale Luxusressortaufenthalt mit dystopischen Fanfaren anrollt, entpackt der Film in Rückblenden das prosaische und eigentlich gnadenlos lineare, aber dann doch komplett fragmentierte Drama, das mit der tödlichen Erkrankung einhergeht: Erste Symptome, Arztbesuch, Diagnose, Sprachtraining, Verschlechterung und schließlich der Stillstand bei 5/10. Was im Hotel, das all diese Dinge aus dem Bewusstsein zu drücken versucht, fehlt und Max die gleichen Zweifel erleben lässt, die ihm kamen, als er mit Strick um den Hals auf einem Hocker stand, ist die ewig vertagte Aussprache mit Lærke. Der all inclusive-Selbstmord kann den Beistand der Freundin nicht ersetzen, aber dieser Rückweg ist nun auch versperrt.

Was "Suicide Tourist" fehlt, um das Schicksals-Drama zu dem Thriller formen zu können, den Max im Hotel erlebt, als er versucht, den Urlaub zu verkürzen ohne eingeäschert zu werden, ist ein Gespür für Zeit. Bei den ständigen Sprüngen zwischen dem zurückgelassenen Leben und dem sukzessive in die Twilight-Zone abdriftenden Alltag im Aurora-Hotel entkoppelt sich der Film allmählich von der Last der tödlichen Krankheit und der Angst vor dem Verlust des eigenen Wesens. Die Zeit, die mit der Diagnose des tödlichen Tumors noch so unerbittlich voranschritt, wird plötzlich in alle Richtungen aufgespalten. Allein das Hotelpersonal erinnert mal freundlich, mal bestimmt daran, dass Max sich gefälligst bald umzubringen habe. So wirklich einlösen mag der Film seine Schreckensvision, die den würdigen Tod den Schutzräumen des Privaten und Familiären entreißt und sie dem freien Markt übergibt, dann aber doch nicht. Was bleibt also, wenn das Sterbedrama den Tod und der Thriller den Schrecken hinter sich gelassen hat? Eine Flucht in die Vagheit. Ein möglichst undefinierter Mittelweg. Eine Fünf auf einer Skala von Zehn.

Karsten Munt

Suicide Tourist - Es gibt kein Entkommen - Dänemark 2019 - OT: Selvmordsturisten - Regie: Jonas Alexander Arnby. Mit Nikolaj Coster-Waldau, Kate Ashfield, Tuva Novotny, Robert Aramayo, Jan Bijvoet, Sonja Richter - Laufzeit: 90 Minuten