Im Kino

Die nächste Machtlosigkeit

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Fabian Tietke
05.08.2020. Man hätte sich im unterhaltsamen Trott von Jon Stewarts politischer Komödie "Irresistible" etwas mehr zielstrebigen Humor gewünscht. Aber man wird durch einen unerwarteten Perspektivwechsel entschädigt. Nicht nur die Gefühle sind ankerlos, sondern auch die Menschen:  Anna Sofie Hartmann zeigt in ihrem Film "Giraffe", was Kapitalismus, Neoliberailsmus und die Fehmarnbeltquerung in den Menschen anrichten.
Steve Carell and Chris Cooper in "Irresistible" (2020)



"Es ist leicht, charakterstark zu sein in guten Zeiten. Der Test kommt in schlechten Zeiten. Wenn man dann nicht zu seinen Prinzipien stehen kann, nun, dann sind es keine Prinzipien, sondern nur Hobbies." Der Auftritt eines Veteranen bei einer Stadtratssitzung in Deerlaken, Wisconsin, scheint der Rettungsanker zu sein, den die Vorsehung Gary Zimmer, dem Wahlkampfmanager der Demokraten, nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 2016 zuwirft. Jack Hastings, der energische ältere Mann mit den starken Worten und dem Bekenntnis zum Glauben an Gott, scheint genau das zu sein, was Zimmer braucht, um sich zu rehabilitieren; scheint genau das, was die Demokraten brauchen, um unter weißen Wählern im Mittleren Westen wieder einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Bleibt nur noch, Hastings davon zu überzeugen, dass er als Kandidat für die Demokraten gegen den republikanischen Amtsinhaber antreten will.

Jon Stewart wirft Steve Carell als Spin Doctor Gary Zimmer in "Irresistible" mitten hinein in das Schlamassel der US-Politik zwischen Polarisierung der politischen Lager und Gleichgültigkeit gegenüber dem ländlichen Raum. Zimmer lässt seinen Tesla in Washington und fliegt nach Deerlaken, um sich Hastings anzudienen und in der Kleinstadt stellvertretend für das ganze Land die Republikaner in die Schranken zu verweisen. Auf dem Flug frischt er schnell den Wikipedia-Eintrag zu Wisconsin auf. Vom Flughafen fährt er schnurstracks in die örtliche Bar, ordert entschieden volksnah einen Burger und ein Budweiser, überwindet heroisch den ungewohnten Verschluss der Bierflasche und schleppt sein Gepäck fluchend die Treppe hinauf, um ein Zimmer über der Bar zu beziehen. Am nächsten Morgen fährt er hinaus zu Jack Hastings Farm. Einen Tag lang wird Zimmer von Hastings für die Arbeit auf der Farm eingespannt. Während der Arbeit entlädt er einen Phrasenhagel auf Hastings, um ihn zu überzeugen, als Bürgermeister anzutreten. Hastings werkelt unbeeindruckt vor sich hin. Am Abend fährt Zimmer schließlich allen Pathos auf, der ihm zur Verfügung steht, und appelliert an Hastings Verpflichtung, etwas für seine Heimatstadt zu tun.

Hastings willigt zögernd ein, und die Farce nimmt ihren Lauf. Zimmer organisiert professionell und effizient die Wahlkampfkampagne, heuert Helfer_innen an und lässt diese Geld und Unterstützung einwerben. Nach einiger Zeit zeigt sich, dass die Republikaner den Köder geschluckt haben und ihrerseits ihre Wahlkampfmanagerin und Zimmers Erzrivalin Faith Brewster (Rose Byrne) ins Rennen schicken. Die Umfragewerte der beiden Kandidaten nähern sich auf dem Whiteboard immer weiter an, bis die Wahl nahezu unentschieden ist und die Zeit gekommen ist für einige Plottwists, die den Film an sein unerwartetes Ende bringen und "Irresistible" über die lieblich-harmlose Politkomödie hinaus katapultieren.

Stewarts Film zeigt Potenzial und Grenzen von Steve Carell, dem man zuletzt leidend in der Dödelsatire "Space Force" zusehen musste. Carrells sympathische, oft etwas manische Einfaltspinsel in gehobenen Positionen leben mehr vom Stolpern über die eigenen Füße als von Subtilität. So auch in "Irresistible". Für eine Politsatire gibt es zwei Handvoll generisch-schlichte Witzchen zu viel, so etwa wenn Hastings Hunde Zimmer zunächst zurück ins Auto jagen. Aber vermutlich zielte Stewart ohnehin eher in Richtung Politkomödie. Das Problem ist denn auch nicht die geringe Komplexität sondern die bisweilen unterausgeprägte Präzision der Witze. Stewarts sarkastisches Porträt der demokratischen Parteizentrale, in der eine weiße Parteivorsitzende paternalistischen Liberalismus pflegt, ist ähnlich schlicht und doch recht treffend. Nach getroffener Entscheidung alles beim alten zu lassen, greift man sich bei den Händen und beschwört die eigene Verlogenheit mit einem herzhaften "Si, se puede". Man hätte sich im unterhaltsamen Trott von "Irresistible" mehr derart zielstrebigen Humor gewünscht.

Immerhin: Für den berechenbaren Trott wird man am Ende durch die Haken, die die Erzählung schlägt, entschädigt. Ein unerwarteter Perspektivwechsel hebt den Film in eine politische Relevanz, die ihm vorher im humorvollen Abklappern von Gemeinplätzen abging. Diese Relevanz entstammt nicht zuletzt der Entlarvung der doppelten Selbstverliebtheit der Figur Gary Zimmer: als Repräsentant des politischen status quo und als Mann in einer fragilen Machtposition. Geschickt stellt Stewart das Verhältnis zwischen dem Zunutzemachen eines politischen Systems für die eigenen Zwecke und dem Ausnutzen zwischenmenschlicher Beziehungen vom Kopf auf die Füße und verwebt es zugleich mit dem Dilemma politischer Spielfilme, systemische Konstellationen in Personen und konventionellen Erzählstrukturen zu verdichten. Gar nicht so schlecht für einen Film, der anfangs als schlichtes Komödchen daher kommt. Unwiderstehlich bleibt aber anders.

Fabian Tietke

"Irresistible" - USA 2020 - Regie: Jon Stewart - Darsteller: Steve Carell, Rose Byrne, Chris Cooper, Brent Sexton, Will Sasso - Laufzeit: 101 Minuten.

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Szene aus "Giraffe". © Iris Janke - Komplizen Film




Auf der einen Seite kann man behaupten, dass das Kino sich heute kaum mehr an große Schilderungen einer conditio humana heranwagt, auf der anderen Seite bemerkt man häufig eine Vorliebe für diskursive Gemeinplätze, die den Blick auf lokale oder schlicht menschliche Details vermissen lassen. "Giraffe", der zweite Film der gebürtigen Dänin Anna Sofie Hartmann, widerspricht beiden diesen Thesen und verharrt dennoch im filmgrammatikalischen Modus des zeitgenössischen Festivalkinos: lange Einstellungen, in denen angeblich genau beobachtete Figuren nur als Vorwand herhalten, um Orte zu filmen. Das Bild regiert über den Menschen, jede Bewegung führt zur nächsten bedeutungsschweren Einstellung.
 
Dass der Film sein eigenes Vorgehen dennoch rechtfertigt, liegt an zwei Dingen. Zum einen geht es um eine Art Archäologie des Verschwindens, in der die fotografierende Ethnologin Dara genau wie die Filmemacherin eine von Enteignungen und den Bruchstücken des Kapitalismus übersäte Landschaft dokumentiert. Die geplante feste Fehmarnbeltquerung zwischen den Inseln Fehmarn und Lolland wirft ihre Schatten voraus, alles was im Film zu sehen ist, ist vom Aussterben bedroht. Dass die Figuren sich ständig am Rand des Bildes aufhalten und begleitet von sich abwendenden Schwenks unter Auflösungserscheinungen leiden, ist nur konsequent.
 
Zum anderen erzeugt Hartmann viele gleichzeitige Gefühle, von einer ständigen Ohnmacht in Zeiten des globalen Fortschritts über hilflose Sehnsucht, Einsamkeit bis zu einer Art allgemeinen Trauerzustand. Dara, gespielt von einer gleichzeitig in sich ruhenden und aufgewühlten Lisa Loven Kongsli, versucht nicht nur ihrer Arbeit nachzugehen, sie beginnt eine Affäre mit Lucek, einem deutlich jüngeren polnischen Migranten, der auf einer Baustelle bereits an der kommenden Vernichtung einer Landschaft arbeitet. Doch nicht nur die Gefühle sind ankerlos, sondern auch die Menschen.
 
"Giraffe" macht sicht- und noch viel mehr spürbar, dass die an sich vorbei driftenden Bewegungen einer Gesellschaft, die feinen Netze, die alles Leben verbinden, letztlich keinen vorbestimmten oder planbaren Wegen mehr folgen. Der Zufall, der alles verändern könnte, führt nur in die nächste Machtlosigkeit. Die ökonomische Planungssicherheit, die die Fehmarnbeltquerung der Wirtschaft bringt, findet einen harschen Gegensatz in einer sich verflüchtigenden Welt. Der Film beschränkt sich auf eine Schilderung dieser Welt, ein Ausweg wird nicht gezeigt, einen Ausweg gibt es nicht?
 
Hartmann zeigt bewegende Bilder leerstehender Häuser und berührende Gespräche mit betroffenen Menschen. Es hilft, dass sie viel mit Laien gearbeitet hat, die Geschichten des Verlusts erzählen sich bereits in ihren Gesichtern. Dieser, wenn man so möchte, essayistische Anteil des Films vermischt sich mit fiktionalen Bewegungen rund um die mögliche oder unmögliche Liebesgeschichte und einem in seiner Nüchternheit aufwühlenden Voice-Over-Monolog der auf einer Fähre arbeitenden Käthe (gespielt von Maren Eggert), die die Wege der Passagiere, ihr Kommen und Gehen erahnt und beschreibt. Es entsteht eine Landkarte zwischen den Inseln und am Ufer des Meeres, auf der es keine feststehenden Punkte mehr gibt. Stattdessen gibt es nur noch kurze Blicke und Berührungen und die Erinnerung an das, was einmal da war. Alles bleibt immer in Bewegung, aber die Bewegung kommt wie aus sich selbst. Sie ist das System, der Kapitalismus, der Neoliberalismus, der Fortschritt, das Leben…man kann es sich aussuchen.
 
Für einen Film über eine kollektive Ohnmacht ist die Bildsprache ziemlich kontrolliert. In einer eigentlich verspielten Szene zwischen Dara und Lucek am Strand bewegen sich die Darsteller beständig so, dass sie sich vor der Kamera liegend nicht gegenseitig verdecken, ein andermal verschwindet Lucek links aus dem Bild, sodass es für einige Momente so aussieht, als würde Dara mit ihrem eigenen Spiegelbild sprechen. In solchen Szenen zeigt sich die problematische Beziehung, die das Kino derzeit zur Realität hat. Ein Blick auf das Meer ist hier eben immer etwas anderes als ein Blick auf das Meer.
 
"Giraffe" ist ein Film, der Bilder festhalten will, weil die Welt verschwindet. In den Bildern kann man aber das Verschwinden nicht sehen, also helfen viele Filmemacher nach und machen paradoxerweise sichtbar, was verschwindet. In dieser Spannung verlieren sie dann den Bezug zwischen Bild und Welt und die Bilder vertreten nur mehr Ideen, sodass die Welt tatsächlich verschwindet. Es ist nicht so, dass sich Hartmann an jenem Realitätsverlust des an der Realität interessierten Kinos schuldig machen würde, sie findet aber auch keinen Ausweg aus dem Dilemma. Man mag entgegen, dass das Kino nie einfach Bilder der Realität reproduziert. Aber vor langer, langer Zeit hat es Filme gegeben, die unsere Beziehung zur Welt intensivierten statt weitere Abstraktionen zwischenzuschalten.
 
In mancher Hinsicht wirkt der Film wie ein Geschwister von Jia Zhang-kes Still Life, der ein ähnlich ohnmächtiges Umherirren bereits 2006 im Bezug zum chinesischen Drei-Schluchten-Damm verfilmte. Wie Jia Zhang-ke bringt Hartmann ein surreal anmutendes Bild in ihren Film, aber statt eines UFOs ist es hier die titelgebende Giraffe, die zu Beginn des Films in die Kamera blickt. Das durch dieses Tier vermittelte Gefühl, schwankend zwischen Ratlosigkeit und einer für das zeitgenössische Bildungsbürgertum charakterisierenden Schuld, trägt sich beinahe wie ein spirituelles Mantra durch den Film. Vielleicht ist diese Giraffe das Bild unserer Zeit, vielleicht ist es aber auch die fast völlige Dunkelheit, die Hartmann am Ende auf die Leinwand wirft.

Patrick Holzapfel

"Giraffe" - Deutschland, Dänemark 2020 - Regie: Anna Sofie Hartmann - Darsteller: Lisa Loven Kongsli, Jakub Gierszal, Maren Eggert - Laufzeit: 82 Minuten.