Im Kino

Individuelle Wahnhaftigkeiten

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Jochen Werner
26.06.2014. Da das Kinoprogramm derzeit von der Fußballkonkurrenz gründlich ausgedünnt wird, werfen wir statt dessen zwei Blicke ins DVD-Regal. Den ersten auf "I Am Divine", einen anrührenden Dokumentarfilm. Und den zweiten auf "Das Grauen kommt nachts", einen deliranten Serienkillerfilm aus den 1970er Jahren.

Die im ersten Moment vielleicht langweiligste, aber doch unerlässlichste Art, sich der legendären Dragqueen Divine zu erinnern, führt über deren lustvollen Verzehr von Hundekot. Eine gezielt provokative, buchstäblich für den besonderen Nachgeschmack dargereichte Szene war das, im späteren Kultklassiker "Pink Flamingos". Der Film, eine bei aller queeren Anstößigkeit und Freude an Tabubrüchen höchst liebenswürdige Komödie, verhalf der glorios-vulgären Travestiekünstlerin 1972 zum Durchbruch. Die einzigartige Karriere der filthiest person alive, bürgerlich Harris Glenn Milstead, ist deshalb eng mit dem Regisseur des Films John Waters (unter anderem auch "Hairspray") verknüpft: Er taufte seinen 150 Kilo schweren Star auf den Namen Divine und besetzte ihn in einer Reihe vergnüglicher Independent-Produktionen als hysterische Jackie Kennedy, geisteskranke Serienmörderin oder auch unbefriedigte Hausfrau.

Das "Königspaar des Schmutzes", wie Waters die Arbeitsbeziehung mit seinem Jugendfreund charmant umschreibt, galt fortan als Aushängeschild des Mitternachtskinos der 1970er, das nicht nur den filmischen Mainstream ästhetisch sabotierte, sondern sich auch als Gegenkultur zur Elterngeneration verstand - notfalls mit ein wenig Kotnascherei. Ein Dokumentarfilm wie "I am Divine" hat daher die schwierige Aufgabe zu bewältigen, das Phänomen einer über derartige Performances zum Underground- und später gar Dancefloor-Star avancierten Drag-Ikone nachzuvollziehen, ohne entsprechende filmhistorische und subkulturelle Kontexte außer Acht zu lassen. Letzteres gelingt dem von Jeffrey Schwartz mühsam - und über gleich zwei Crowdfunding-Aktionen in Folge - finanzierten Erinnerungsstück nur unzureichend, allerdings scheint es daran auch gar nicht interessiert.

Methodisch wenig ambitioniert rekonstruiert der Film Divines Aufstieg vom schikanierten Außenseiter zur internationalen Popfigur anhand biografischer Wegstationen, die mit unerfüllter Jugendzeit in Baltimore beginnen und einem plötzlichen Herztod 1988 enden. Das ist in Form zügig montierter und anekdotenreicher Interviews vieler Wegbegleiter (von John Waters bis Tab Hunter) anschaulich, mit Zwischenanimationen sowie Film- und Bühnenausschnitten auch hübsch abgerundet. Aber es wirkt der verhandelten (oder eher: behandelten) Ausnahmeerscheinung gegenüber doch seltsam ungerecht: Divine, die in ihrem notwendigerweise aggressiven Exzess aus Bürgerschrecksaktionismus, dauerhaftem Drogenmissbrauch und medialer Gender-Verunsicherung vor allem als ein Störenfried des US-amerikanischen Starsystems auftrat, ist schwer konventionell ehrbar. Die überraschend anständige Machart des Films irritiert. Sie verhindert mitunter tiefere Einblicke, verweigert sich aber vor allem formal wünschenswerter Umwege - obwohl Jeffrey Schwartz "I am Divine" als ein Projekt von und für Fans ankündigt hatte.


Dass dem Film dennoch eine überaus sehenswerte, sogar höchst anrührende Hommage an Divine gelingt, ist so gesehen ein Kunststück (und vielleicht eines, das die gar nicht recht in Erzählform zu bringende Dragqueen vor allem selbst in ihr dokumentarisches Vermächtnis trägt). So gelingt es Schwartz etwa, Divines medienscheue Mutter Frances Milstead vor die Kamera zu holen und ihr - nur kurze Zeit, bevor sie 2009 verstarb - persönliche Details über das schwierige Verhältnis zum Sohn abzugewinnen. Eine Schulfreundin wiederum, die mit dem Anfang der sechziger Jahre noch inner- und außerfamiliär zur Heterosexualität gezwungenen Teenager eine Beziehung führte, kratzt rückblickend am soziokulturellen Image der sittenstrengen Heimatstadt Baltimore. Und Pat Moran, Urmitglied der als "Dreamlanders" firmierenden Crew aller Waters-Filme, nennt Divine schmeichelhaft (und sehr treffend) einen "cinematic terrorist".

Solche Momente gestatten einen Blick hinter die kampflustige (Selbst-)Inszenierung als queere Glamour-Größe. Der besonders durch eine stilwidrig-schwule Liebe zu Elizabeth Taylor inspirierte Traum von Ruhm und Reichtum schien für Divine immer dort zu scheitern, wo sich ihr selbst geschaffener Mythos nicht mit den Normen des Film- und Musikgeschäfts vereinbaren ließ. Werbeauftritte zum erfolglosen Camp-Western "Lust in the Dust" absolvierte Divine als Harris Glenn Milstead vor einem Publikum, das sie nur kostümiert akzeptierte, ansonsten blieben Rollenangebote in Hollywood fast völlig aus. Sie sei es leid gewesen, erzählt Divine in einem archivierten Fernsehinterview, auch viele Jahre nach "Pink Flamingos" noch auf Krabbenkleid und Hundekot angesprochen - und damit auf den unterhaltsamen Freak reduziert - zu werden. Ihre 1988 jäh beendete Karriere bleibt nicht zuletzt als ein Ringen um die Konditionen des Mainstreams erinnerungswürdig. Geschmacksbrüche duldet dieser offenbar nur so lange, wie von ihnen keine ernstzunehmende Gefahr auszugehen droht. An den öden Grenzen der Popkultur hatte Divine sich 1988 dann wohl einfach satt gefressen.

Rajko Burchardt

I Am Divine - USA 2013 - Regie: Jeffrey Schwartz - Laufzeit: 90 Minuten.

"I Am Divine" ist im Mai bei Pro-Fun Media auf DVD erschienen.


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Das schöne Mädchen, das sich, während der Vorspann läuft, an der Jukebox zu schaffen macht, wird nicht mehr lange leben. Sie drückt ein paar Knöpfe, dann beginnt die Musik zu spielen, sie zu tanzen. Und sein Blick heftet sich auf sie. Dieser Mann, an der Theke, dem das Manische schon aus den Augen springt. Dieser Mann, der ihr letzter Begleiter sein wird. Der ihr, in einem schönen, schrecklichen Bild, vom springenden Strom eines kleinen Wasserfalls umflossen, die Kleider vom Leib reißen und sie dann erwürgen wird. Der böse Mann, der in Nachtclubs schönen, naiven Mädchen auflauert. Die ihre Saumseligkeit nur lang genug überleben werden, um sich vielleicht kurz zu wünschen, sie wären schon tot.

Der Film hat ein paar dieser zauberhaften, schauderhaften Bilder. Und dann noch eine ganze Menge, die ziemlich ungerichtet sind - und es wird nie so ganz klar, welche von ihnen eigentlich die schöneren sind. Zusammen ergeben sie jedenfalls: etwas ziemlich Einzigartiges. Der Schöpfer dieser Bilder ist der italienische (mindestens) B-Movie-Auteur Renato Polselli, "Das Grauen kommt nachts", heißt sein Film, "Delirio caldo" in der italienischen Originalfassung. Heißes Delirium. Und delirant, im Taumel begriffen, scheint die Welt, in der dieser Film spielt, von Anfang an. Auf den Kopf gestellt. Und dann rotierend, immer tiefer in einen ureigenen Abwärtsstrudel gerissen. Denn nachdem wir dem Killer beim Töten seines Opfers zugesehen haben, begegnen wir ihm alsbald wieder - und erfahren, dass Dr. Herbert Lyutak Polizeipsychologe ist. Ein (anscheinend? scheinbar?) allwissender Profiler, auf der Jagd nach - sich selbst?

Oder ist da noch mehr? Noch ein Killer, noch ein Geheimnis, von dem wir nichts wissen? Und weiß Dr. Lyutak davon, oder tappt er ebenso im Dunkel wie wir? Bald jedenfalls kommt ein zweiter Mörder ins Spiel - der exakt in dem Moment zuschlägt, in dem Lyutak sich seinem nächsten, vielleicht letzten Opfer bedrohlich nähert. Gegen letzteren gibt es, im Grunde den ganzen Film über, erdrückende Indizien, für die sich aber schlichtweg niemand zu interessieren scheint - Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger? Oder einfach nur: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein? Oder, die schlimmste, aber hartnäckig dräuende Ahnung: Ist es im Grunde einfach egal?


Denn je länger "Das Grauen kommt nachts" vor sich hinmäandert, desto deutlicher wird, dass der Wahnsinn an jeder Ecke lauert, aus allen Augen funkelt. Dass es nicht den einen Mörder gibt, dass vielleicht gar niemand wirklich dingfest gemacht werden kann. Weil das Netz all dieser idiosynkratischen Psychopathologien viel zu eng ineinander geknüpft ist, um auf einen einzelnen Knotenpunkt rückführbar zu sein. Das titelgebende Delirium ist nur die finale Eskalationsstufe jeweils individueller Wahnhaftigkeiten, und je länger der Film dauert, desto absurder scheint die Idee einer Außenposition dazu. Wozu auch? Was macht es noch für einen Sinn, einen wahnsinnigen Mörder zu stellen, wenn es niemanden da draußen mehr gibt, der weniger seinem persönlichen Wahn verhaftet wäre?

Renato Polselli war kein großer Handwerker, sondern eher ein großer Improvisator mit geringsten Mitteln. Und das kommt seinen Filmen, seinen Visionen zugute. Durch die vermeintlichen oder tatsächlichen inszenatorischen Mängel seiner Filme öffnen sich Lücken, in denen der Wahnsinn selbst sich Raum schaffen kann. Durch diese Lücken haben Polsellis Filme die Möglichkeit, als lebende, atmende, fragile und stets von Zusammenbruch oder Neuanordnung bedrohte Konstrukte erfahren zu werden. Renato Polselli ist ein großer, kleiner und ganz entschieden idiosynkratischer Frontkämpfer eines billigen, lustvoll überambitionierten und tief im Genre freien Kinos. Bis weit ins Manische hinein leidenschaftlich, für den Körper, für das Kino.

Jochen Werner

Das Grauen kommt nachts - Italien 1972 - Originaltitel: Delirio Caldo - Regie: Renato Polselli - Darsteller: Mickey Hargitay, Rita Calderoni, Raul Lovecchio, Carmen Young, Christa Barrymore, Tano Cimarosa - Laufzeit: 102 Minuten.

"Das Grauen kommt nachts" ist als Teil der FilmArt Giallo Edition auf DVD erhältlich.