Im Kino

Jesusmäßiges Lichtspiel

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
13.01.2010. Der europäische Autorenfilm lebt - in der Türkei: Die Rätselbilder von Semih Kaplanoglus "Süt - Milk" sind der Beweis. Eher ins Register Seelenbildung für Universitätsprofessoren dagegen gehört Thomas McCarthys zweiter Film "Ein Sommer in New York - The Visitor".

Der Prolog, dessen zeitliches und kausales Verhältnis zum restlichen Film im Unklaren bleiben wird: Kopfüber hängt eine Frau am Baum, unter ihr brodelt in einem Kessel eine weiße Flüssigkeit. Ein alter, bärtiger Mann wirft ein dicht beschriebenes Stück Papier in die Milch, die dem Film den Namen gibt. Die Frau windet sich, öffnet den Mund und eine Schlange kommt zum Vorschein. Vorsichtig entfernt der Mann das Tier. Der Film beginnt mit einer Art Exorzismus. Die exorzierte Schlange dringt im Folgenden immer mal wieder in den Film ein, nicht wie ein symbolträchtiges Leitmotiv, sondern wie ein erratisches, unberechenbares Virus.

Der gute alte europäische Autorenfilm lebt noch immer. Nicht in den Filmen seiner zentraleuropäischen Konkursverwalter um Lars von Trier und Michael Haneke, sondern in der Türkei. Seit Mitte der neunziger Jahre arbeiten Regisseure wie Nuri Bilge Ceylan, Zeki Demirkubuz oder eben Semih Kaplanoglu an jeweils sehr unterschiedlichen Projekten. Gemeinsam ist ihnen nicht nur der formale Minimalismus, sondern vor allem die Ernsthaftigkeit, mit dem sie sich Themen und Bildern nähern, die im restlichen Europa nur noch als Klischees gedacht werden zu können scheinen. Kaplanoglu ist der Mystiker des neuen türkischen Kinos und schließt noch deutlicher als seine Kollegen an Traditionslinien des klassischen Kunstkinos von Bergman bis Angelopoulos an. Dazu passend ist sein neuer Film Mittelteil einer konzeptuellen Trilogie: "Honig, Milch und Ei", respektive auf türkisch: "Bal, Süt, Yumurta". Produziert wird die Trilogie in einem Akt autorenfilmerischer Selbstverkomplizierung rückwärts: "Yumurta" (Ei) feierte 2007 Premiere, "Süt "(Milch) 2008 in Venedig, "Bal" (Honig) befindet sich derzeit in der post production und wird demnächst im Wettbewerb der Berlinale zu sehen sein. (Hier ein Interview mit Kaplanoglu.)

Die Hauptfigur aller drei Filme heißt Yusuf. Verkörpert wird sie jeweils von verschiedenen Schauspielern unterschiedlichen Alters. Zumindest nach den ersten beiden Filmen zu schließen, geht es dabei nicht um eine biografische Struktur. Die Yusufs in "Yumurta" und "Süt "sind nicht im strengen Sinne mit sich selbst identisch, sie verkörpern eher unterschiedliche Aspekte eines prekären Verhältnisses zur physikalischen Wirklichkeit. Melih Selcuk verkörpert seinen Yusuf im neuen Film als jungen Erwachsenen. Mundfaul, in schwarzer Lederjacke, steht er zunächst neben seiner Freundin, die sich mehr für ihr Handy als für ihn zu interessieren scheint. Diese Freundin verschwindet nach einem gemeinsamen Ausflug aus seinem Leben oder zumindest aus dem Film - ob die Flüssigkeitstropfen auf seiner Wange bei einer Mofafahrt wenig später von Tränen oder vom Regen rühren, bleibt offen. Statt dessen entwirft der Film im Folgenden ausführlich Yusufs Alltagsleben auf einem Bauernhof gemeinsam mit seiner verwitweten Mutter - der Frau, der ganz am Anfang eine Schlange aus dem Hals entfernt wurde.


Yusuf hat die Eingangsprüfung zur Universität nicht bestanden, arbeitet als Milchmann und sendet Gedichte, die er auf einer alten Schreibmaschine verfasst, an Zeitschriften. Die Mutter schläft derweil auf dem Sofa ein. Sonst passiert nicht viel. Ein langsames Leben in einem Dorf in der Nähe der Großstadt Izmir, ein Leben am Rande der Unschärfe. Diese Unschärfe lauert in vielen Einstellungen und manchmal überschwemmt sie den gesamten Bildkader. Einmal bewegt sich Yusufs Moped auf einer Wiese langsam auf den Schärfebereich zu, aber der Schnitt kommt, bevor Yusuf dort anlangt. Die Bewegung des Films in seiner sonderbaren zweiten Hälfte führt nicht etwa aus der Unschärfe hinaus, sondern mitten in sie hinein.

Langsam schleichen sich Störmomente ein in die Routine der Kleinfamilie. Die Schlange vom Anfang taucht plötzlich in der Küche auf, die Mutter befreit ihre vorher streng geflochtenes Haar, kauft Lackschuhe und bandelt - vielleicht - mit einem Postbeamten an. Yusuf wird währenddessen wider eigenes Erwarten publiziert, erhält einen Einberufungsbefehl und muss zur medizinischen Untersuchung nach Izmir. Als er wieder zurückkommt, desintegriert die Welt des Films, die vorher den Unschärfen zum Trotz noch einige Kohärenz aufgewiesen hat, endgültig. Die Mutter ist weg, Yusuf hat einen Mopedunfall und driftet als Schatten durch eine Kleinstadt oder verfolgt geheimnisvolle Männer im Schilfwald. Einmal wirft er einen Stein auf eine Straßenlaterne und taucht die ganze Leinwand in Dunkelheit. Mehr ist dieser Film nicht als: eine kleine Studie in Dunkelheit und Unschärfe. Mehr will er auch nicht sein und das ist gut so.

Lukas Foerster

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Pianomusik perlt. Mann, nicht mehr jung, spielt Klavier. Lehrerin gibt ihm, wie einem Kind, Handhaltungsinstruktionen. Mann blickt gequält und schickt sie davon. Mild ist das Licht in Connecticut. Elliptisch tun die Einstellungen. Es geht zu einer Konferenz nach New York.

Eine schwarze Frau liegt im Bad im New Yorker Apartment. Der Mann, nicht mehr jung, ist Professor und blickt leicht schockiert. Ein Paar in der Wohnung, die der Mann seit Ewigkeiten nicht besucht. Die Frau des Mannes, Klavierspielerin, ist verstorben. Das Paar in der Wohnung, er aus Syrien, sie aus Ghana, darf bleiben. Sanfte Perkussion auf der Tonspur.

Der Syrer heißt Tarek und trommelt, die Frau aus Ghana heißt Zainab und verkauft auf der Straße selbstgebastelten Schmuck. Der Professor heißt Walter und findet Gefallen am Trommeln. Klaviermusik perlt. Sanfte Perkussion auf der Tonspur. Dann wird Tarek verhaftet, Abschiebung droht. Die Wärter geben dem arabischen Wirt niemals Trinkgeld. Grau ist das Licht vor dem Gefängnis in Queens.

"The Visitor", der zweite Film von Thomas McCarthy, ist ganz ohne Arg. Richard Jenkins, in "Six Feet Under" der ewig wiederkehrende tote Vater, spielt einen Mann, dessen Seele eingefroren war und auftaut. Der trommelnde Mann in der Abschiebehaft, seine schmuckverkaufende Freundin und dann eine auftauchende Vierte im Bunde kommen beim Auftauen recht. Das New Yorker Apartment ist nie leer. Im CD-Player jetzt Fela Kuti, ein interkulturelles Geschenk. Später beim Fensterputzen die Klaviermusik der verstorbenen Frau. Sind so feine Korrespondenzen.

Der Kitsch hat viele Gesichter. Oft bringt gerade allzu guter Geschmack das Verderben. "Sommer in New York - The Visitor" ist ein jesusmäßiges Lichtspiel für schöne Seelen. Mild lächelt Thomas McCarthys Film mit sanftem Augenaufschlag. Nie schießt er über das Ziel, seufzt immer nur still. Zu viel zu tun ist den Darstellern streng verboten. Wie Donnerhall exquisit kleine Gesten. Attraktiv ist die Frau aus dem Osten, aufgetaut der Mann aus dem Westen. Man geht gemeinsam ins Musical in der 42. Straße und speist und trinkt hinterher im warmen Licht des Restaurants nahe den Fifth Avenuen. Der gute Geschmack, der ein höflicher, aber streng blickender Herr ist im Anzug, untersagt ein zu glückliches Ende. Sitzt der Professor am Bahnsteig und trommelt. Fährt eine U-Bahn vorüber. Würden alle Menschen doch Brüder!

Ekkehard Knörer

Süt - Milk. Türkei / Frankreich / Deutschland 2008 - Regie: Semih Kaplanoglu - Darsteller: Melih Selcuk, Basak Köklükaya, Riza Akin, Saadet Isil Aksoy, Tülin Özen, Alev Ucarer, Serif Erol, Tansu Bicer, Orcun Köksal

Sommer in New York - The Visitor. USA 2007 - Originaltitel: The Visitor - Regie: Thomas McCarthy - Darsteller: Richard Jenkins, Hiam Abbass, Haaz Sleiman, Danai Gurira, Marian Seldes, Maggie Moore, Bill McHenry