Im Kino

Die Unumkehrbarkeit des Wandels

Die Filmkolumne. Von Jonas Nestroy, Robert Wagner
10.08.2022. Carla Simón arbeitet in ihrem Berlinale-Gewinnerfilm "Alcarràs" ausschließlich mit Laiendarstellern. Geduldig führt sie ein in die ländliche Welt Kataloniens, wo ein Bagger bedrohlichen Wandel bringt: Solarpanels statt Pfirsiche. Im klassischen Sinne dramatisiert wird kaum. Der Kinderfilm  "Der junge Häuptling Winnetou" ergeht sich leider in einer  sehr deutschen Projektion von Weisheit und Naturverbundenheit.
Die Realität schlägt früh zu. Früh in Carla Simóns zweitem Spielfilm "Alcarràs", nämlich schon in der ersten Szene, sobald der Film die Augen aufschlägt und sie auf die im Autowrack spielenden Kinder der katalanischen Familie Solé richtet. Irgendwann erspähen sie einen Bagger, mitten in den großen Pfirsich-Feldern, die seit Jahrzehnten von den Solés beackert werden und rennen zu ihrer Familie, die verzweifelt um einen Tisch sitzt, angesichts einer bevorstehenden Bebauung des Landes mit Solarpanels. Als erste Amtshandlung wird das Autowrack abtransportiert und spätestens hier ist klar, dass die Modernisierung auch bei den Kleinsten der Familie ihre Spuren hinterlässt.

Kinder beim Spielen. Szenenbild aus "Alcarras". 


Simón präsentiert in ihrem Berlinale-Gewinner eine zutiefst entfremdete Welt und das obwohl die Arbeit auf der Plantage noch ganz händisch abläuft, kaum Technologie zwischen Mensch und Natur geschaltet ist. Stattdessen hilft jeder mit, läuft und klettert zwischen den Bäumen umher und pflückt die Früchte um sie direkt zu verkaufen oder Saft daraus zu pressen: Vom Großvater Rogelio und seiner Schwester Pepita, den Männern Quimet und Cisco, den Frauen Dolors, Glòria und Nati, bis zu den Jugendlichen Roger und Mariona und eben den Kindern Iris, Pere, Pau und Teia.

Eine Tätigkeit, in der sich jeder wiedererkennen und bei sich sein könnte, was Simón durch die fast ausschließliche Besetzung ihrer Rollen mit Laiendarstellern aus der katalanischen Landwirtschaft noch unterstreicht. Müssten sie hier eben nicht unter gesellschaftlichem Leistungsdruck stehen, sich mit anderen Plantagen vergleichen, mit Hilfe von prekärer Zeitarbeit gegen etwas ankommen, gegen womöglich gar nicht anzukommen ist. Wie eine fremde Macht wirkt vielleicht nicht das Handwerk selbst, aber doch die Bedingungen unter denen es agiert. Simón findet für dieses Empfinden zu Beginn noch ein weiteres Bild: Nirgendwo ist eine Besitzurkunde zu finden, mit der die Solés die Bagger abwehren könnten, stattdessen erzählt Rogelio, wie seine Familie das Land bis jetzt nur zum Dank beackern durfte, weil sie die Besitzerfamilie Pinyol während des Bürgerkriegs versteckt hielt.

Damit ist die provinzielle Welt der Solés in von Anfang an in ihrem Ende begriffen. Ihr Untergang ist beschlossene Sache, genau wie die Ohnmacht der Familienmitglieder. Bleibt nur die Frage, welcher Umgang damit gefunden wird. Wobei sich auch hier die Unumkehrbarkeit des Wandels verdeutlicht: Quimets Versuche, mit Demonstrationen politisch zu werden, enden in der selbstzerstörerischen Protestform der Vernichtung von Ernte. Cisco lässt sich auf das Angebot ein, die Solarpanels in Zukunft zu warten. Rogelio versucht den Enkel der Pinyols mit Blumen umzustimmen. Roger entflieht der Realität auf Parties und schafft sich mit einer Marihuana-Farm mitten auf der Obstplantage ein kleines, zumindest vorerst unangetastetes, aber letztlich auch verzweifeltes Refugium.

Gar nicht einfach jedenfalls, in so eine großfamiliäre Konstellation geworfen zu werden, sich darin mit der gleichen Selbstverständlichkeit zurechtzufinden, wie die Familienmitglieder es tun. Wobei Simón daraus ihre ästhetische Erfahrung zieht und immer wieder die Perspektiven wechselt, mal die eine mit der anderen Generation zusammenbringt, im Zusammensein der Altersgruppen die Triebfeder ihres Films findet. So springt "Alcarràs" ständig hin und zurück, gerne auch zu den spielenden Kindern: Insofern es möglich ist für eine so junge Regisseurin wie Carla Simón eine Autorensignatur auszumachen, wäre es nicht nur das Thema der Familie, sondern auch die Beobachtung der faszinierenden Dynamik im kindlichen Spiel. Ihr Debüt "Fridas Sommer" gab sich dem ganz hin, ließ sich davon geradezu beseelen. Vielleicht auch weil das Miteinander der Kinder wenigstens noch die Reminiszenz an die Utopie der Freiheit vom realen Zwang mit sich trägt. "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.", schrieb Schiller einmal.

Schiller verstand das Spiel als frei, weil es ganz bei sich ist - kein Spiel "mit etwas", das mehr bräuchte als sich selbst. Wie total jedoch das nötigende Realitätsprinzip bei Simón ausfällt, zeigt sich, wenn die jüngsten Figuren selbst im Spiel nur die gegängelten Erwachsenen mit den ihnen eigenen Mitteln imitieren. Simóns alter Ego Frida spielte in "Fridas Sommer" die früh verstorbene Mutter als Diva mit Zigarette und Sonnenbrille. Iris, Pere, Pau und Teia spielen in "Alcarràs" Bürgerkrieg mit Waffen, Baustelle mit dem Bagger, sind im Autowrack in die Fantasie gekehrt, zur Sonne zu fahren - bis die Vorstellungskraft nicht mehr ausreicht, sich auch einen unendlich vollen Tank auszumalen: "Das Benzin ist alle!"

Dass bei Simón nicht einmal mehr die Zukunft der Familie Hoffnung spendet, ist vielleicht das Dramatischste an "Alcarràs". Wobei sich dieses Drama in den Filmen der katalanischen Regisseurin erst behutsam herausschält, kaum offen hervortritt. Im klassischen Sinne dramatisiert wird kaum: Konflikte laufen meist aneinander vorbei, prallen nicht gewaltsam aufeinander, bleiben unbeantwortet. Den Wandel verkörpert kein rücksichtsloser Industriekapitalist, sondern der Sohn einer befreundeten Familie, der im gesellschaftlichen Wandel auch nicht unter die Räder kommen mag. Der Sommer und die sonnendurchfluteten Bilder des Films suchen keine Extreme, wollen weder mit flirrender Fieberhaftigkeit elektrisieren, noch die hitzebedingte Paralyse der Hundstage beschwören: Kein Überschuss an Bewegung, aber eben auch kein Stillstand. Stattdessen entlässt "Alcarràs" seine Zuschauer mit einem Bild, in dem die Solés zwar voller Tatendrang sind, aber die Welt um sie herum davon unberührt weiter ihren eigenen Gang nimmt.

Jonas Nestroy

"Alcarràs" - Spanien 2022 - Regie: Carla Simón - Darsteller: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset, Albert Bosch, Ainet Jounou - Laufzeit: 120 Minuten.

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Hildegard Schmahl spielt die Schamanin Sikari-zinu. Sie trägt ein weißes Gewand, weiße Ketten und schwarze Federn im schlohweißen Haar. Ihr Lächeln ist gerade im Gegensatz zu den verfaulten Zähnen der Bösewichte strahlend weiß. Entschieden tut sie immer das Richtige. Nachsicht und Trauer zeichnen ihren Blick aus, wenn jemand mit seinen Entscheidungen sich, andere und meist die Natur gleich mit verletzt. In einem anderen Kontext wäre sie buddhistischer Mönch. Wir befinden uns aber in einer in Deutschland viel beliebteren Projektion von Weisheit und Naturverbundenheit - bei den von Karl May erdachten Apachen.
Hildegard Schmahl als Schamanin Sikari-zinu. Szenenbild


Die Verfilmungen seiner Winnetou-Romane gehören zu den großen Erfolgen des deutschen Nachkriegsfilms. Nicht nur in den Kinos, sondern auch als ewige Wiederholungen im Fernsehen. Generationen sind mit ihnen aufgewachsen, weshalb sie inzwischen Ikonen und heilige Kühe sind. Höchstens ironisch ließ sich bisher an sie anknüpfen - in Form von "Der Schuh des Manitu". Möchte jemand aber in einem Film Winnetou sein, wird er zwangsläufig an Pierre Brice gemessen werden, wie jeder Old Shatterhand an Lex Barker und jeder Sam Hawkens an Ralf Wolter gemessen wird. Ob nun Brice seinen Winnetou fürs ZDF aus dem Grab holte oder ob Wotan Wilke Möhring bei RTL Old Shatterhand gab: jeder neue Winnetou-Film bestätige nur die Übermacht der alten Filme.

Mike Marzuk versucht das Problem zu umgehen, indem er statt eines neuen Winnetous diesen als Kind aufbietet. Winnetou (Mika Ullritz) fühlt sich zu Größerem berufen und zieht mit einem jungen Verbrecher und Waisen (Milo Haaf) - oft genug wird dessen Name Tom Silver genannt, als gelte es zu unterstreichen, dass es sich nicht um Old Shatterhand handelt, sondern um eine Art Tom Sawyer - aus, um herauszufinden, wo die Bisonherde abgeblieben ist, von der die Existenz des Apachenstamms abhängt. Die Exposition deutet an, dass Winnetou wichtige Lehren in Richtung Weisheit und Heldentum lernen muss, aber vor allem lassen sich zwei Kinder durch eine Welt treiben, die ihnen immer wieder vermittelt, dass sie noch zu klein sind. Stolz lassen sie sich davon nicht unterkriegen.

Sichtlich orientiert sich der Film an Bekanntem. Es gibt klassische Western-Tropen, wie die Kutsche, die unaufhaltsam auf eine Schlucht zurast. Oder typische May-Elemente, wie die Gangsterbande, die das friedliche Zusammenleben zwischen Ureinwohnern und Siedlern gefährden, oder die alte Stätte der Apachen, in dem die Gierigen keinen Schatz, sondern ihren Untergang finden. Womit "Der junge Häuptling Winnetou" einem Film wie "Der Schuh des Manitu" ähnelt, weil beide wie aus Zitat zusammengesteckt wirken.

Im Unterschied zu Bullys Film wird hier keine ironische Brechung vorgenommen. Die Formel einer May-Verfilmung wird lediglich (klein-)kindgerechter aufbereitet. Die eh nie überkomplexen Plots der Originale werden noch einmal entschlackt, so dass die Geschichte gut und gern in einer Folge "Yakari" gepasst hätte. Und wenn in einem - das lässt sich der Film doch nicht nehmen - Bordell die falsche Tür aufgemacht wird, dann wird dem Bürgermeister in der Wanne dahinter nur der Rücken geschrubbt.

Vor allem aber wird, wenn "Der junge Häuptling Winnetou" witzig sein möchte, auf altbackenes Kasperltheaterrepertoire zurückgegriffen. Ein Hilfssheriff (Axel Schreiber) und die Handlanger (Daniel Christensen und Michael Kranz) des Oberbösewichts Todd Crow (Anatole Taubman) gehören zu der Kategorie, die sich mit der Hand gegen die Seite des Kopfes schlagen, wenn ihnen gesagt wird, dass sie sich ein paar Stunden aufs Ohr hauen sollen. Es ist schwer zu sagen, was trister ist: der ansonsten bierernste Film, dem sichtlich an einer erbaulichen Botschaft um Antirassismus und "die Perspektive der Kinder ist noch nicht gänzlich verdorben" gelegen ist, oder die arg plumpen Dummheiten, wenn es mal kurzzeitig lebendiger werden soll.

Die Liste der Probleme ist lang. Die warmen Instagram-Filter-Bilder sind beliebig. Die Geschichte schleppt sich ohne dramaturgischen Spannungsbogen dahin. Der Schnitt schlingert sowohl in den einzelnen Szenen als auch im großen Ganzen orientierungslos. Die Musik dudelt dahin. Und die Schauspieler füllen kaum die Schablonen von Figuren aus, welche sie darstellen müssen. (Nur Anatole Taubman hat, mit seiner Ansammlung von Ticks und Krähenimitationen, so etwas wie eine nennenswerte Figur geschaffen.) Wenn der junge Sam Hawkens völlig überflüssig noch durch die Westernstadt rumpelt, dann ist deutlich, dass die Nostalgieshow darunter leidet, dass sich schlicht keine Mühe gegeben wird, selbst mehr zu bieten als Wiedererkennung.

Das Einzige, was wirklich gelungen ist, ist Sikari-zinu und ihr weiser, wässriger Blick. "Der junge Häuptling Winnetou" versucht nur selten, Konzepten wie "Kultureller Aneignung" und einem sensitiveren Umgang mit der Geschichte der USA gerecht zu werden. Ganz selbstverständlich werfen sich hier deutsche und türkischstämmige Schauspieler die Apachenkostüme über und tun erst gar nicht so, als ob dies etwas mit einer Realität zu tun hat. An Hildegard Schmahls Kostümierung und Schauspiel ist wunderbar abzulesen, dass dies eine sehr deutsche Projektion von Weisheit und Naturverbundenheit ist. Dass es sich um eine sprechende deutsche Gute-Nacht-Geschichte handelt.

Zudem hilft Hildegard Schmahl dem Zuschauer, eine geeignete Position zu diesem Film zu finden. Denn am besten schauen wir ihn mit einem leicht traurigen Blick, weil wir wissen, dass das alles besser hätte sein können, aber wir fühlen auch mit, weil wir darum wissen, wie schwer es ist, all den Ansprüchen gerecht zu werden.

Robert Wagner

"Der junge Häuptling Winnetou" - Deutschland 2022 - Regie: Mike Marzuk - Darsteller: Mika Ullritz, Milo Haaf, Lola Linnéa Padotzke, Mehmet Kurtulus, Anatole Taubman, Hildegard Schmahl, Axel Schreiber, Daniel Christensen, Michael Kranz - Laufzeit: 103 Minuten.