Im Kino

Lässiger Ausnahmezustand

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
31.03.2016. Eine Revolution als Mogelpackung rekonstruiert Sergei Loznitsa in seinem Found-Footage-Dokumentarfilm "The Event". Regisseur Dan Trachtenberg und Produzent J.J. Abrams konfrontieren in "10 Cloverfield Lane" Mary Elizabeth Winstead mit einer grundlegend instabilen Welt.


Mit ihrem Film "Videogramme einer Revolution" belehrten Harun Farocki und Andrei Ujica den Sänger Gil Scott-Heron ("The Revolution Will Not Be Televised") eines Besseren: Das Ende der Diktatur von Nicolae Ceaușescu rekonstruierten sie teilweise mit Archivmaterial, das 1989 aus einem von Demonstranten besetzten Studio des rumänischen Fernsehens gesendet wurde. Anders verlief der Fall des Eisernen Vorhangs zwei Jahre später in Russland: Während dort das Volk durch die Straßen zog und seinem Unmut über den dilettantischen Putschversuch einiger ewiggestriger Funktionäre Ausdruck verlieh, flackerte nur eine Aufführung des Bolschoi Balletts von Tschaikowskis "Schwanensee" über die heimischen Bildschirme. Was war geschehen? Während der sowjetische Staatspräsident Gorbatschow im August ein paar Tage auf der Krim weilte, wollten seine reaktionären Kollegen das Land wieder in den Kommunismus treiben. Nach nur drei Tagen war der Aufstand beendet, die ohnehin schon angeschlagene Sowjetunion am Ende und Boris Jelzin - der sich während des Putsches geschickt ins Rampenlicht spielte - der erste Präsident Russlands.

Zwar wurde die Revolution in diesem Fall nicht öffentlich übertragen, aufgezeichnet wurde sie aber sehr wohl. Während die Tänzer im Fernsehen ihre Pirouetten drehten, begaben sich einige furchtlose Kameramänner des St. Petersburger Dokumentarfilmstudios auf die wuselnden Straßen, um die Stimmung einzufangen. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa hat aus diesem Material nun einen Film montiert, der die Geschehnisse distanziert beobachtet und auf einen erklärenden Voice Over ebenso verzichtet wie auf Interviews (dafür aber immer wieder augenzwinkernd einige Takte aus "Schwanensee" unterlegt). Dabei mag es Zufall sein, dass wir keine Aufnahmen aus Moskau (wo der Putsch stattfand) sehen, sondern nur aus dem damaligen Leningrad. Im Hinblick auf Loznitsas bedächtige und ambivalente Herangehensweise ist es jedoch ein bezeichnender Zufall. Denn "The Event" findet seine interessantesten Attraktionen an Nebenschauplätzen. Zwar spielt sich das Finale auf dem symbolträchtigen Palastplatz (auf dem schon die Oktoberrevolution stattfand) ab, lässt wütende Verteter des Volkes ebenso ausführlich auf der Tribüne zu Wort kommen wie den rhetorisch geschulten Bürgermeister und sorgt mit seinen Bildern einer scheinbar endlosen Menschenmenge in aufgebrachter Umsturz-Laune für überwältigende Momente, doch die meiste Zeit versucht Loznitsa das Pathos, das bei Nacherzählungen historischer Schlüsselmomente häufig aufkommt, zu vermeiden.

Stattdessen fängt "The Event" einen eher lässigen Ausnahmezustand ein, der einen zwar den Ernst der Lage spüren lässt, zugleich aber von einem beschwingten Anarchismus geprägt ist, der mitunter wirkt, als würde man sich auf einer Veranstaltung wie der Love Parade befinden. Dann hangeln sich etwa junge Menschen an Straßenlaternen entlang oder lümmeln auf den Dächern klassizistischer Prachtbauten herum, die sie zuvor, vermutlich nicht auf legalem Wege, bestiegen haben. Was sich in den Gesichtern der Passanten abzeichnet, ist weniger Kampfgeist als Planlosigkeit, die im besten Fall offen und neugierig wirkt. Meistens sieht man die Menschen orientierungslos herumstehen, Löcher in die Luft starren, mal kurz mit anderen quatschen oder ein Flugblatt studieren, das ihnen gerade in die Hand gedrückt wurde.



Loznitsa findet einen angemessenen Weg, sich den Leuten auf der Straße zu nähern. Er solidarisiert sich zwar gewissermaßen mit ihnen, aber nicht in Form einer plumpen Anbiederung an den "kleinen Mann". Er will kein Psychogramm der krisengebeutelten russischen Bevölkerung schaffen, sondern ihre Überforderung nachvollziehen. Viele Szenen wirken fragmentarisch und unvollständig. Einmal meint eine Rentnerin mit Kopftuch "Er tut das Richtige", aber wer dieser "Er" ist, erfahren wir nicht. Ein anderes Mal hören wir, wie ein Mann vor dem Chaos warnt, das eine weitere Herrschaft der Kommunisten bringen wird, aber wem die Stimme gehört, bleibt ein Geheimnis. Im Prinzip haben wir es mit dem Gegenteil von den möglichst nahen, unmittelbaren, zugleich aber auch allwissenden Bildern der Nachrichten zu tun (nicht nur in dieser Hinsicht wirkt "The Event" wie ein konsequenter Nachfolger von Loznitsas bewusst zurückhaltend inszeniertem Dokumentarfilm "Maidan" über die Bürgerproteste in Kiew). Der gesamte Überblick wird uns als Zuschauern verwehrt und damit auch die Illusion einer homogenen, in sich schlüssigen Geschichte, die kein Bewusstsein dafür hat, dass sie aus einem Durcheinander unzähliger individueller, oft nicht miteinander kompatibler Erzählungen besteht.

Neben der Skepsis gegenüber klassischen Revolutions-Erzählungen gibt es in "The Event" auch eine Skepsis gegenüber der Revolution an sich. Denn der Film lässt sich zwar auch als Dokument für die Kraft des Volkes verstehen, verbringt aber mehr Zeit damit, diese Kraft in Frage zu stellen. Der Putsch stellt nie eine wirkliche Gefahr dar und das Volk wirkt eher passiv als aktivistisch. Wenn die Menge am Schluss "Nieder mit der Junta" brüllt, gibt sie nur das wieder, was ihnen zuvor mehrmals von Politikern eingebläut wurde. Letztlich scheint es, als hätten wir es weniger mit einem Aufruhr der Unzufriedenen zu tun, als mit dem geschickten Manöver einer Elite, das eigene Machtstreben als Volksaufstand zu verkaufen.

In einer der ersten Einstellungen sehen wir eine abgenutzte Sowjetflagge wenig majestätisch im Wind flattern; fast, als wüsste sie bereits, dass ihre Tage gezählt sind. Am Ende des Films wird auf dem Palastplatz die Russlandfahne gehisst. Was zwischen diesen beiden Bildern geschieht, kann man mit bedeutungsschweren Worten als Zusammenbruch der Sowjetunion oder Wiedergeburt eines Russlands vor 1917 beschreiben. Dass sich aber die beiden Flaggen in den Schwarzweiß-Bildern von "The Event" nur bedingt unterscheiden, passt sehr gut zu den Zweifeln, die der Film streut. Wenn die letzten Aufnahmen zeigen, wie die Akten der Kommunistischen Partei gesichert werden, wirkt das zunächst wie der Beginn einer großen Aufarbeitung. Doch die Schlusstitel schaffen Klarheit: Die von der Regierung während der Sowjetzeit begangenen Verbrechen blieben ungesühnt und viele Machthaber auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Amt. Spätestens hier ereilt einen die Gewissheit, dass diese Revolution eine Mogelpackung war.

Michael Kienzl

The Event - Niederlande / Belgien 2015 - Originaltitel: Sobytie - Regie: Sergei Loznitsa - Laufzeit: 74 Minuten.

Das Berliner Kino Arsenal zeigt "The Event" am 01.04. Um 21.30 Uhr im Rahmen der Reihe "The Revolution That Wasn't - Russische Dokumentarfilme 1991-2015". Der Regisseur ist zu Gast. Mehr Informationen hier.

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Aus dem Gleichgewicht geraten ist die Welt des Films von Beginn an. Schon als Michelle (Mary Elizabeth Winstead) in der ersten Szene eilig ihre Sachen packt und die Wohnung, in der sie gemeinsam mit ihrem Freund zu wohnen scheint, verlässt, bebt die Erde, dräut die flächige Musik, schmiegt sich die der in den Anfangsminuten der atmosphärischen Unschärfe zuneigende Kamera etwas zu intim an den Körper der jungen Frau. Irgendwo gibt es einen Stromausfall, sagt das Autoradio. Eine irgendwie sedierte Anmutung zieht sich durch die ersten Filmminuten; wie, wenn man eine heraufziehende Krankheit mit Schmerzmitteln von sich fernzuhalten versucht.

Dann kracht es und das Licht geht aus. Anschließend baut der Film eine neue, deutlich kleinere, aber wie man bald merkt noch einmal gründlich instabilere Welt auf: Michelle erwacht in einem kahlen, fensterlosen Raum, medizinisch versorgt, aber angekettet auf einer jämmerlichen Pritsche. Als dann auch noch ein rauhbeiniger, unangenehmer Typ auftaucht und ihr zwar eine Mahlzeit vorsetzt, aber gleichzeitig unmissverständlich klarstellt, dass er nicht daran denkt, sie freizulassen, scheint klar zu sein, in welche Richtung es geht: Michelle hat im Folgenden die Aufgabe, Schritt für Schritt ihren Handlungsspielraum zu erweitern, gegen menschliche und andere Widerstände.

Tatsächlich macht sie sich sofort an die Arbeit, zielstrebig und analytisch, ihre Umgebung als Material verwendend. Die Krücken, die ihr der Mann dagelassen hat, arbeitet sie zur Waffe um und die Bettwäsche verbrennt sie im Lüftungsschacht. Nützt alles nichts, ihr Bewacher, der Howard heißt und von John Goodman im massivsten Wortsinn verkörpert wird, hat die physikalischen Gesetze auf seiner Seite. Da kommt sie einfach nicht vorbei. Dennoch erweitert sich ihre Welt: Im Raum nebenan trifft sie auf Emmett (John Gallagher Jr.), einen etwas tumben Mitgefangenen, der wenig Interesse daran zu haben scheint, sich zu befreien.



Howard erklärt wenig später, warum das so ist: Keineswegs wolle er ihr, Michelle, schaden; ganz im Gegenteil habe er ihr Leben gerettet, weil er sie vor einer mysteriösen kriegerischen Attacke möglicherweise außerirdischen Ursprungs in Sicherheit gebracht habe, die die Außenwelt und insbesondere auch die natürliche Atmosphäre zerstört habe. So beengt sie sich momentan auch fühle, sein Bunker sei doch der einzige Ort weit und brei, der ihr Sicherheit und lebensnotwendige Rohstoffe biete. Michelle glaubt ihm selbstverständlich erst einmal kein Wort - entdeckt dann aber nur zu bald, dass draussen tatsächlich einiges nicht mit rechten Dingen zu geht. Und so sieht sie sich gezwungen, sich zumindest vorläufig mit der Situation zu arrangieren: Sie und die beiden Männer in einem Bunker, der außer ihrem Pritschenzimmer noch einige weitere Räume umfasst, unter anderem einen Wohnbereich, dessen heimelige Verkramt- und spießbürgerliche Verkframpftheit fast noch klaustrophobischer anmutet als das Folterkellerambiente, das Michelle zuerst kennenlernte.

Michelle muss sich also durch eine Welt navigieren, die von einer zweifache Unsicherheit gekennzeichnet ist: Draußen lauern vorläufig noch namenlose Schrecken; und drinnen bleibt die Stimmung ebenfalls hochgradig angespannt, trotz gelegentlich eingestreuter Retrohits aus der Jukebox. Denn dem zu allem Überfluss auch noch fürchterlich jähzornigen Howard ist, trotz seiner Beteuerungen, dass er allen nur das Beste wolle und auch dann kein Perversling sei, wenn er darauf besteht, die Benutzung der Toilette durch die geöffnete Badezimmertür hindurch zu überwachen, selbstverständlich keinen Meter weit über den Weg zu trauen.

Dem Regiedebütanten Dan Trachtenberg gelingt es über weite Strecken ziemlich gut, dieses double bind der Weltverunsicherung in einen kleinen, gut geölten, kammerspielförmigen Thriller zu übersetzen; der freilich gelegentlich den Willen zur konsequenten Zuspitzung vermissen lässt: Alle eigentlich naheliegenden Abzweigungen in exploitativere Gewässer werden jeweils weiträumig umfahren, wahrscheinlich auch, um in den USA das lukrative PG-13-Rating nicht zu gefährden. Insbesondere achtet der Film darauf, seiner Protagonistin stets ausreichend Handlungsoptionen zur Verfügung zu stellen; rein passive Hilflosigkeit, jenes implizit masochistische Ausgeliefertsein, das erst hektischen Thrill in genuinen Terror verwandelt, wird ihr nicht zugemutet. (Freilich macht Winstead gerade als stetig Aufmerksame, stetig nach Bewegungspotentialen Ausschau haltende, als mit jeder Faser ihres schlanken, durchtrainierten Leibs Handelnde eine ausgezeichnet Figur).

Fürs Finale wechselt der Film komplett nicht nur das Genre, sondern auch die Tonlage, und baut einfach noch ein weiteres Mal eine komplett neue, auf wieder ganz andere Art instabile Welt auf. Das ist einerseits wagemutig, entspringt andererseits ökonomischem Kalkül: Denn erst die letzten zehn Filmminuten ordnen den Film in jene Filmserie ein, dem er seinem Titel zufolge zugehört. Schlicht "Cloverfield" hieß vor mittlweile acht Jahren ein gleichfalls vergleichsweise kleiner, gleichwohl ziemlich wuchtiger Monsterfilm aus der Schmiede des Erfolgsproduzenten J.J. Abrams. "10 Cloverfield Lane" hat mit dem älteren Film über weite Strecken schlicht gar nichts zu tun, und basiert in der Tat auf einem Drehbuch, das unabhängig von diesem entstanden war. Dass es ihm gelungen ist, einen kleinen und trotz allem ziemlich bösartigen Thriller zu einem Mainstream-Kassenerfolg zu machen, und zwar ausgerechnet mithilfe jener in Hollywood derzeit fast alternativlosen Franchiselogik, die Filmen dieser Art sonst kaum Luft zum Atmen lässt: Dafür darf man Abrams, diesen zuletzt nicht immer allzu treffsicheren obersten Nerd Hollywoods, endlich wieder vorbehaltlos lieben.

Lukas Foerster

10 Cloverfield Lane - USA 2016 - Regie: Dan Trachtenberg - Darsteller: Mary Elizabeth Winstead, John Goodman, John Gallagher Jr. - Laufzeit: 103 Minuten.