Im Kino

Männer, in Ehrfurcht erstarrt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
07.06.2018. Diese Woche kommen mit  Eiichi Yamamotos "Animerama"-Trilogie drei Klassiker des japanischen Animationsfilms in die Kinos.  In "A Thousand & One Nights" zelebriert Yamamoto die weltverändernde Kraft weiblicher Sexualität.  "Cleopatra" dagegen lässt Nonsensattacken und Experimentierfreude ungebremsten Lauf.












Eine Texteinblendung ziemlich genau in der Mitte des Films: "15 Jahre später". Direkt darauf ist ein grünes, männliches Alien zu sehen, das auf einem fliegenden Teppich sitzt und sich ein Spiegelei brät. Mit so etwas muss man stets rechnen in "A Thousand & One Nights". Das Alien war bisher noch gar nicht aufgetaucht in der Geschichte, aber jetzt sind mit einem Schlag fünzehn Jahre vergangen und es ist eben da. Verschwunden ist dafür vorläufig die Hauptfigur des Films, Aladdin, ein Rumtreiber, der gerade noch von Abenteuer zu Abenteuer gestolpert war: Erst hatte er bei einer Sklavenauktion eine der dort dargebotenen Frauen entführt, dann mit ihr ein Kind gezeugt, später plündert er eine Räuberhöhle und lernt eine rothaarige Diebin kennen, mit der er - unter den vielen Highlights des Films zweifellos das größte - auf einer Insel voller Schlangenfrauen landet. Eine weitere Insel, die er eher im Vorübergehen besucht, beherbergt ein menschenfressendes Monster…

Und dann taucht eben das grüne, männliche Alien auf, außerdem gleich noch ein rotes, weibliches, mit - das ist das hervorragende Merkmal aller weiblichen Figuren des Films - großen, nackten Brüsten. Freilich sind die beiden Aliens gar keine Aliens, sondern Gestaltwandler. Wobei nur die weibliche Gestaltwandlerin tatsächlich ihre Gestalt wandelt. Das ist ein weiteres Kennzeichen der weiblichen Figuren in "A Thousand & One Nights": Während die Männer vergleichsweise statisch bleiben, sind die Frauen flexibel und fluide, sie transformieren sich in Spinnen, Schlangen, Pferde, Löwinnen. Zumeist behalten sie dabei allerdings ihre großen Brüste. Eine Männerfantasie? Ja, vielleicht, vermutlich sogar, aber nicht unbedingt eine bösartige. Furcht vor und Bewunderung für Frauen halten sich ungefähr die Waage und jedenfalls ist es schon bemerkenswert, dass nur die weiblichen Figuren das fantasmagorische Potential des Animationsfilms (schließlich sind alle Zeichentrickgeschöpfe qua Medium potentielle Gestaltwandler) ausschöpfen, während die männlichen in den Linien, als die sie gezeichnet sind, weitgehend gefangen bleiben.

Männer, in Ehrfurcht erstarrt ob der weltverändernden Kraft weiblicher Sexualität - das ist schon fast ein Leitmotiv des Films. Zum ersten Mal taucht es bereits während der Sklavenauktion auf: Eine der zu versteigernden Frauen wird entkleidet, man sieht ihre nackte Rückansicht, den akzentuierten Schwung ihrer Hüfte - und im Hintergrund ein Meer von gaffenden, unbewegten Männergesichtern. Die erwähnte Schlangensequenz ist die logische Fortsetzung: entindividualisierte, raubtierhafte Weiblichkeit, fleischliche Rundungen und Öffnungen, die ineinander fließen, die sich zu einer amorphen, begehrenden Biomasse fügen, vor der der vereinzelte, hilflose Mann höchstens noch, wenn er Glück hat, die Flucht ergreifen kann. Wie gesagt, eine Männerfantasie - aber verglichen mit "A Thousand & One Nights" haben so ziemlich alle größeren Animationsfilme der letzten Jahre schlichtweg gar keine Fantasie.












"A Thousand & One Nights" war 1969 der erste Teil der Animerama-Trilogie, die von Tezuka Osamu erdacht und (weitgehend) von Eiichi Yamamoto inszeniert wurde. Ziel war, Zeichentrickfilme für ein erwachsenes Publikum zu produzieren, mit erotischen Inhalten und wagemutiger Ästhetik. Gleich der erste Film ist ein Volltreffer - und zwar nicht zuletzt, weil er noch viel von dem enthält, wovon er sich absetzen will: Die Zeichnung insbesondere der Figuren erinnert an die naiven Comicfiguren, die in den 1960er Jahren die Leinwände und Bildschirme bevölkerten. Grafisch nicht mehr ganz so simpel wie Osamus Astroboy (interessant sind besonders die teils an Holzschnitzungen erinnernden Gesichtszüge), aber noch deutlich derselben minimalistischen Tradition entstammend. Und genau diese Figuren werden jetzt einerseits mit psychosexuellen Abgründen konfrontiert, die ihren Vorgängern (nicht nur in Japan; deutlich erkennbar ist, insbesondere in den Tierzeichnungen, auch der Einfluss der Disney-Linie) erspart geblieben waren; und andererseits kultivieren die Filme auch stilistisch eine vorher im Genre weitgehend unbekannte Freiheit. Immer wieder brechen statische Comicpanel in die bewegte Animation ein, gelegentlich degenieren die Figuren zu bloßen Strichmännchen und in den Sexszenen schwingt sich Yamamoto zu psychedelischen Höhen auf, die bereits eine Vorahnung geben auf sein vier Jahre später entstandenes erotomanes Meisterwerk "Belladonna of Sadness". Dazu passt auch der phänomenale Soundtrack von Isao Tomita: ein unverschämt groovendes Monument des drogenverhangenen Space Rock.

"A Thousand & One Nights" ist viel mehr als nur "Mickey und Donald schlagen über die Stränge". Der Tonfall ist keineswegs bierernst, aber die Handlung (die sich höchstens sehr vage an Motive aus der berühmten Märchensammlung anlehnt) ist, allen bizarren Abzweigungen zum Trotz, ambitioniert und komplex. Was zunächst wie eine bloße Nummernrevue der fröhlichen Obszönitäten ausschaut, entpuppt sich bald als ein extensiver, sexualisierter Abenteuerfilm, voller faszinierend bizarrer Nebenfiguren (die erwähnte rothaarige, gazellenhaft geschmeidige Diebin vor allem bleibt, mit ihrem vernarbten Gesicht und ihrem Hang zur melancholischen Einsamkeit, bis zum Schluss ein Mysterium), inzestuösen Liebesgeschichten und politischen Intrigen. Auch Aladdin taucht, nach dem Gestaltwandlerintermezzo, wieder auf, allerdings nennt er sich inzwischen Sindbad, ist stinkreich, und will König von Bagdad werden. Der Film selbst bleibt seinem anarchischen, rumtreiberischen Spirit jedoch bis zum Schluss treu und so ahnt man schnell, dass diese Wendung in Richtung distinguierter Seßhaftigkeit noch nicht das Ende vom Lied sein kann.

Lukas Foerster

A Thousand & One Nights - Japan 1969 - Regie: Eiichi Yamamoto - Laufzeit: 128 Minuten.

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Mit ihrem fülligen Gesicht und den großen Sommersprossen entspricht die zukünftige Pharaonin Cleopatra nicht gerade dem herrschenden Schönheitsideal. Damit sie Caesar verführen kann - um ihn schließlich zu töten und damit die Ägypter von der Herrschaft der Römer zu befreien - muss sie erst einmal zu einem schamanischen Beauty-Doc. Und der knetet sie in einem abenteuerlichen Ritual solange durch, bis sie wie eine Pin-Up-Version ihrer selbst aussieht.

Frauen genießen in dem unter der Regie von Eiichi Yamamoto und Osamu Tezuka entstandenen, erotischen Animationsfilm "Cleopatra" (1970) - dem zweiten Teil der Animerama-Trilogie - vor allem dann Ansehen, wenn sie attraktiv sind. Das macht sie allerdings auch automatisch zu Objekten ungestümer männlicher Lust, was der Film immer wieder in kleine Slapstick-Miniaturen verpackt. Die Herrenwelt ist sexuell notorisch unterversorgt und verwandelt sich beim kleinsten Aufblitzen einer Brust in einen Haufen würdeloser Lustmolche. Den Damen wiederum verleiht diese Schwäche eine ungemeine Macht zur Manipulation. Cleopatra allerdings verliert die Kontrolle über diese Macht, weil sie dem Charme von Kraftprotz Caesar doch noch erliegt. Der Film löst sich zu diesem Zeitpunkt zwar nicht von seinen Blödeleien, aber er konzentriert sich stärker auf den dramatischen, besonders im japanischen Kino weit verbreiten Konflikt zwischen giro (Pflicht) und ninjo (Gefühl); der durch den Widerspruch zwischen Cleopatras idealisierter Hülle und ihrer brüchigen Seele zusätzlich betont wird.

Cleopatras Verwandlung durch die Hände des Magiers zeigt jedoch nicht nur, dass es erst die Künstlichkeit, also das Trugbild ist, das sie für ihr Umfeld anziehend macht, sondern auch, dass Geschichte mindestens ebenso konstruiert ist wie Schönheit. Wenn der Magier den von ihm vollzogenen Nose-Job mit den Worten "Nur eine spitze Nase kann den Lauf der Geschichte ändern" kommentiert, wird klar, dass man Fakten manchmal zuspitzen und aufhübschen muss, damit sie sich einprägen. Yamamoto und Tezuka wiederum nehmen die historische Erzählung und eignen sie sich mit einem Film an, der ganz Ausdruck seiner eigenen Zeit ist; von der psychedelischen, durch grelle Farben geprägten Ästhetik über die neu gewonnene Freizügigkeit bis zur vermutlich zumindest ein bisschen antiimperialistisch zu verstehenden Erzählung über den Widerstandskampf ägyptischer "Guerilla".












Im Film wimmelt es vor Respektlosigkeiten, die meist auf der Konfrontation von Gegensätzen basieren. Der erste Clash erfolgt schon in der Rahmenhandlung, wo eine Forschergruppe aus der Zukunft ins alte Ägypten reist. Dort soll sie herausfinden, um was es sich bei der sogenannten Cleopatra-Strategie handelt, mit der Aliens ihren Planeten kolonialisieren wollen. Kaum sind sie in der Vergangenheit angekommen, taucht dort für kurze Pointen vieles auf, was da eigentlich nicht hingehört - vor allem immer wieder Figuren aus anderen Universen wie die Peanuts, Frankensteins Monster oder Tezukas populärste Schöpfung, der Android Astroboy. Auch ansonsten bricht "Cleopatra" immer wieder die geschlossene Erzählwelt auf und begibt sich auf eine Meta-Ebene, etwa wenn während eines Gesprächs, das wegen eines Sturms nicht zu hören ist, plötzlich Sprechblasen einsetzen.

Derlei Nonsensattacken und selbstreferentiellen Albereien werden zwar mitunter etwas überstrapaziert, sie tun dem spielerischen Charme des Films aber keinen Abbruch. Was "Cleopatra" auch heute noch, trotz ein wenig Post-68er-Patina, unbedingt sehenswert macht, ist eine ungebremste Experimentierfreude, die sich in hemmungslosem Low-Brow-Humor ebenso niederschlägt wie in der künstlerisch ambitionierten Bildgestaltung - die von recht trashig wirkenden Symbiosen aus Realfilm und Animation bis zu fast abstrakten Sexszenen reicht, in denen die nackten Körper lediglich durch einige geschwungene Linien erahnt werden können.

Das bestimmende Element der Inszenierung ist ohnehin ihre Vielgestaltigkeit. Wild zitieren sich die Regisseure durch die Kunst- und Kulturgeschichte, lassen Edgar Degas' Ballerinas oder Eugène Delacroix' barbusige Allegorie der Freiheit in eine römische Arena marschieren oder stellen den Mord an Caesar in der stilisierten Ästhetik der japanischen Theaterform Kabuki dar. Obwohl der Film oft auf solche Nummern setzt, zerfällt er nicht in Einzelepisoden. Seine Geschichte erzählt er stringent genug, um den in alle Richtungen ragenden Ideenreichtum wieder einzuschnüren. Aber es ist auch die unermüdliche Bereitschaft zum Herumalbern und Ausprobieren, die "Cleopatra" einen unberechenbar anarchischen Flow verleiht, wie man ihn heute nicht mehr oft zu sehen bekommt.

Michael Kienzl

Cleopatra - Japan 1970 - Regie: Osamu Tezuka, Eiichi Yamamoto - Laufzeit: 112 Minuten.

Hier finden Sie einen Text von Thomas Groh über "Belladonna of Sadness", den dritten Animerama-Film, der diese Woche ebenfalls noch einmal die deutschen Kinos erreicht.

Einen Überblick über alle Kinoeinsätze der Animerama-Filme finden Sie hier.