Im Kino

Märchenlogik

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
22.01.2015. Asia Argento erzählt in ihrem autobiografisch inspirierten dritten Spielfilm "Incompresa" vom einsamsten Mädchen in Rom. "Remedy" von Cheyenne Picardo ist ein Film über Sexarbeit, der ohne finstere Geheimnisse auskommt.


Die neunjährige Aria (Giulia Salerno) wächst im Rom der achtziger Jahre auf. Ihr Vater (Gabriel Garko), ein berühmter Schauspieler, ist abergläubisch und cholerisch, ihre Mutter (Charlotte Gainsbourg), eine weniger erfolgreiche Pianistin, passiv-aggressiv und dem Alkohol zugeneigt. Aus früheren Beziehungen haben ihre Eltern jeweils eigene Töchter in die dysfunktionale Patchworkfamilie eingebracht. Dazwischen steht Aria, die, obwohl als einziges Kind mit beiden Elternteilen leiblich verwandt, keinem der beiden so richtig anzugehören scheint. Von den Geschwistern gepiesackt und den zumeist mit sich selbst beschäftigten Eltern ignoriert, fühlt sich Aria als das einsamste Mädchen von Rom.
 
Aria, das ist Asia Argentos eingetragener Vorname (die römischen Behörden wollten den ungebräuchlichen Wunschnamen nicht anerkennen), und natürlich lässt sich "Incompresa", Argentos dritter Spielfilm, als eine Art autobiografische Beichte lesen. Tatsächlich begibt sich Aria in einer Szene in einen Beichtstuhl, um für ihre zahlreichen Vergehen um Vergebung zu bitten: "Ich habe meiner Mutter Widerworte gegeben. Ich habe Schimpfworte benutzt..." Zugleich aber verfremdet und beschleunigt Argento die autobiografischen Versatzstücke derart, dass für Rückschau und Introspektion im eigentlichen Sinn weder Raum noch Zeit bleiben. Wie ein Wirbelwind zieht "Incompresa" am Zuschauer vorüber. Eine Szene verschwimmt in die nächste, fast durchgehend unterspült von melancholischem Pop und (Post-)Punk. Ungezählte Songs werden angespielt und auf halber Strecke wieder heruntergepegelt, um dem nächsten Track Platz zu machen. Der Schnitt funktioniert ähnlich, als hätte man eine zwar stotternde, aber durchgehende Montagesequenz vor sich.
 


Außerhalb des Elternhauses dreht sich das Mädchenleben um vorpubertäre Sexualität, für deren gefühlte Intensitäten Argento bestechende und oft abgründige Bilder findet - wie das Puppenspiel mit Barbie und Ken, das sich qua Stop-Motion-Verfahren verselbständigt und in einer Vergewaltigung eskaliert. Als sich ihre Eltern scheiden lassen, gerät Arias Welt vollends aus den Fugen. Sie wird zwischen den beiden hin und her gereicht, keiner will sie wirklich bei sich behalten. Über eine Nacht, die sie mit einer streunenden schwarzen Katze und ein paar Junkies auf der Straße verbringt, weil sie zuhause unerwünscht ist, wird Aria später einen Schulaufsatz schreiben, der einen Preis gewinnt. Davon abgesehen hält auch die Schule nichts als Erniedrigungen für sie bereit. Ein erster Selbstmordversuch verläuft glimpflich.

Dennoch: Der Ernst und die Schwere, die man angesichts solch traumatischer Umstände erwarten würde, bleiben weitgehend aus. Die seelischen Verheerungen, die Aria entstehen müssten, wenn "Incompresa" ein realistischer Film wäre, scheinen in der jeweils nächsten Szene bereits vergessen. So wie Argentos tolle Hauptdarstellerin die Rolle anlegt, nämlich als sich selbst völlig durchsichtige Figur, läuft unsere Teilhabe an ihrem Leben nicht auf Anteilnahme hinaus. Wir mögen uns punktuell in ihr wiedererkennen, aber diese Punkte verdichten sich zu keiner nachvollziehbaren Entwicklung, zu keinem Pre-teen-Bildungsroman. Angetrieben von kindlicher Fabulierlust folgt "Incompresa" vielmehr einer Märchenlogik, die reales Leid ins Groteske überträgt und übersteigert.
 


Mehr als über Mode oder Einrichtungsgegenstände signalisiert "Incompresa" seine historische Situiertheit durch monochromatisches Lichtdesign und andere ästhetische Markierungen, die uns "die Achtziger" zu verstehen geben, ohne dass wir sie glauben müssen. Der Wille, eine vergangene Epoche in wiedererkennbarer Weise nachzustellen, reicht nie so weit, dass Argento dafür eines der skurrilen Details opfern würde, die ihr offensichtlich ein Herzensanliegen sind. Wie das Einklebebuch, das Aria in der Titelsequenz mit Herzchen, Stickern und Englischübungen füllt, ist "Incompresa" aus nur halbwegs passenden Teilen so zusammengesetzt, dass die Klebespuren sichtbar bleiben. Auch wenn man sich von diesem Film keine neuen Einsichten in starbiografisch einschlägige Mädchenwelten versprechen sollte: seinem Charme - und seiner Unverschämtheit - kann man sich schlecht entziehen.

Nikolaus Perneczky

Incompresa - Missverstanden - Italien 2014 - Regie: Asia Argento - Darsteller: Giulia Salerno, Charlotte Gainsbourg, Gabriel Garko, Carolina Poccioni - Laufzeit: 103 Minuten.

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In diesen Tagen, wo sich lange Schatten in 50 Grautönen anschicken, den Sadomasochismus nicht nur in die Hausfrauenliteratur, sondern auch noch in das Blockbusterkino einzuführen, kommt an der Peripherie des Hypes ein wesentlich roherer, ungeschliffenerer Film in die deutschen Kinos. Die amerikanische Regiedebütantin Cheyenne Picardo ist mit der Materie, von der sie erzählt, vertraut, verarbeitet sie für die Erzählung von "Remedy" doch ihre eigene Geschichte. Wie ihre Protagonistin, die sich "Mistress Remedy" nennt, war Picardo 18 Monate lang - während ihres Filmstudiums - als Sexarbeiterin in einem sadomasochistischen Bordell tätig, und entgegen allen Klischees, die die filmische Aufarbeitung von Prostitutionsgeschichten bis heute hartnäckig begleiten, ist dafür kein finsteres, im Hintergrund lauerndes Geheimnis vonnöten. Einmal wird Remedy gefragt, was sie auf die Idee gebracht habe, und sie antwortet schlicht: Jemand habe gesagt, sie würde sich das nie trauen.

Ein schlichter, ein banaler Grund, sich temporär für den Beruf der Prostitution zu entscheiden, aber genau das ist der Punkt daran, und in Zeiten, in denen weiterhin gerne die PorNo!-Kampagnen aus der Mottenkiste gezogen und die Menschenrechte von Sexarbeiterinnen mit munterer Überheblichkeit mit Füßen getreten werden, ist dies ein wichtiger Punkt. Sexarbeit als Dienstleistungsberuf, mit Licht- und (keineswegs unter den Teppich gekehrten) Schattenseiten, aber nicht als eine die ganze Biografie überschattende Tragödie - diese Geschichte erzählt Picardo in "Remedy" mit der ganzen Gravität gelebter Erfahrung.



Das bedeutet keineswegs, dass es sich bei "Remedy" um ein formal analphabetisches Stück Bekenntniskino handelt. Zwar sieht man Picardos Debüt an, dass es mit seinem unter anderem per Crowdfunding zusammengekratzten Budget im eher prekären Spektrum entstanden ist - tatsächlich ist "Remedy" nahezu ein Ein-Frau-Unternehmen: Picardo führte Regie, produzierte, schrieb das Drehbuch, schnitt den Film und sang sogar den Vorspannsong selbst ein. Ihre gehobene Ambition als Filmemacherin schreibt sich jedoch fortwährend in Struktur und Formgebung ein. "Remedy" ist strukturiert als eine Abfolge von SM-Sessions, die das gesamte Spektrum ihres beruflichen Alltags abbilden: von skurril-komischen Episoden, wie sie jüngst in Lene Bergs großartigem Sexwork-Dokumentarfilm "Kopfkino" in den Fokus drängten, über Begegnungen, die echte persönliche Zuneigung und romantische Potenziale bergen - bis hin zu sexuellen Machtspielen, die allmählich und scheinbar unaufhaltsam in Situationen echter Bedrohung kippen.

Die Entscheidung, diese Sessions nicht als Beiwerk zu einer nebenher arrangierten psychologischen Entwicklungsgeschichte zu begreifen, sondern als wesentliches narratives Instrument, hat weitreichende Konsequenzen für die innere Spannung des Films. Es ist nicht nur ein Film, der von Sex erzählt und diesen aus dieser Motivation heraus ins Bild rückt - und schon gar nicht ist es ein Film, der seinen sexuellen Content als bloß dekoratives Element nutzt. Statt dessen legt es Cheyenne Picardo darauf an, die unterschiedlichen sexuellen Konstellationen selbst zum Medium des Erzählens zu machen. In die Aufeinanderfolge der Freier und der von Remedy als dominanter oder submissiver Part durchlebten Sessions schreibt sich eine eindeutige Entwicklung ein. Eine solche Narrativierung des Sexaktes ist die Königsdisziplin des Sexfilms, und über weite Strecken gelingt Picardo dieser Drahtseilakt ausnehmend gut.



Zugegeben: Einige Straffungen im Mittelteil hätten dem zweistündigen Film vielleicht gut zu Gesicht gestanden. Selbst das wird jedoch oft dadurch relativiert, dass Picardos Inszenierung nicht nur atmosphärische, sondern auch abwechslungs- und variantenreiche Bilder sucht und findet, inklusive eines Hangs zu Splitscreen-Mosaiken. Und außerdem gehört das Warten, die nur scheinbar tote Zeit, das Ausharren in Ungewissheit und das Aushalten von Wiederholung, Stille und Bewegungslosigkeit wesentlich zu jeder guten sadomasochistischen Performance, deren Rhythmus sich in die Tiefenstruktur von "Remedy" einprägt.

Jochen Werner

Remedy - USA 2013 - Regie: Cheyenne Picardo - Darsteller: Kira Davies, Ashlie Atkinson, Julia Ubrankovics, Melissa Roth, Rachel Soll, Jennifer Laine Williams - Laufzeit: 120 Minuten.