Im Kino

Petroglyphen bei Murmansk

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Michael Kienzl
30.03.2022. In Juho Kuosmanens Film "Abteil Nr. 6" begibt sich eine Archäologin auf eine Zugfahrt nach Murmansk, um prähistorische Felsreliefs zu erkunden, aber auch die Momente des eigenen Lebens. Asghar Farhadi zeigt in "Die verlorene Ehre des Herrn Soltani", dass die Heldenwerdung auch im Kino ein innerer Prozess sein kann.

"Abteil Nr. 6" erzählt die Geschichte einer Zugfahrt und damit eigentlich einer Verbindung. Es scheint absurd, das zu erwähnen, aber dennoch ist es wichtig, denn am zweiten Spielfilm von Juho Kuosmanen ("Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki") wurde kürzlich die aktuell herrschende Unsicherheit im Umgang mit russischen Kulturschaffenden sichtbar. In einem offenen Brief beklagten der Eksystent Filmverleih und die Produktionsfirma Achtung Panda die Hauruck-Entscheidung der CineStar Group, den Film inklusive Premierenveranstaltung wegen der Beteiligung des russischen Hauptdarstellers aus ihrem Programm zu nehmen. Kurz darauf ruderte CineStar zurück, es habe sich lediglich um ein Missverständnis gehandelt.

Es ist also ein doppeltes Glück, dass wir "Abteil Nr. 6" gerade jetzt, bald ein Jahr nach seiner Weltpremiere in Cannes, in den Kinos sehen können. Einen Film, der im Kern auch von Völkerverständigung erzählt, so abgedroschen das klingen mag. Die finnische Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) zweifelt Ende der 1990er Jahre an ihrer Beziehung zur Moskauerin Irina. Eigentlich wollten die beiden gemeinsam verreisen, doch nun ist Irina immerzu beschäftigt, innerlich abwesend. Also steigt Laura mitten im Winter allein in den Zug nach Murmansk, nördlich des Polarkreises, um sich dort die Petroglyphen anzuschauen, prähistorische Felsreliefs.

"Abteil Nr. 6" ist anfangs genauso vage wie Lauras Leben. Unklar, welcher Natur ihre Beziehung zu Irina ist, ob sie eine Zukunft hat und wie überhaupt genau die Gegenwart aussieht. In eine unwirtliche Umgebung geworfen, in ein so riesiges Land, dass es zu seiner eigenen Abstraktion wird, in dem gefühlt einander nur Dunkelheit und Dämmerzustände ablösen. Sie beherrscht die russische Sprache gut, aber auch wieder nicht so fehlerfrei, als dass ihr nicht Nuancen entgingen. Aus diesem Schwebezustand heraus landet Laura unsanft in einer nicht nur handfesten, sondern auch völlig alternativlosen Situation: Wie die Kamera selbst ratternd hin und her geworfen in einem beengten Zugabteil; gemeinsam mit Ljoha (Yuriy Borisov - in seinem körperlich hemdsärmeligen Spiel ist er wie das russische Äquivalent zu Albrecht Schuch), Minenarbeiter, kahl geschoren, stockbetrunken, übergriffig. Da prallen Welten aufeinander, was die beiden aber nicht davon abhält, nach einigen Anlaufschwierigkeiten doch noch so etwas wie Freundschaft zu schließen. Archäologie und Bergbau sind ja im Grunde nicht weit voneinander entfernt.


Laura hat eine Digitalkamera dabei, mit der sie ihre Fahrt dokumentiert und sich immer wieder die Aufnahmen von Moskau und Irina anschaut. Im Verlauf des Filmes kommt ihr die Kamera abhanden und später sitzt sie gemeinsam mit Ljoha ganz hinten im Zug, schaut in die Dunkelheit, auf die kleiner werdenden Lichter und das unter ihnen wie ein Filmstreifen dahin ratternde Gleis, und spricht über ihr Gefühl, mit den Bildern auf dieser Kamera ein ganzes Leben verloren zu haben: Musik, Partys, die schöne Wohnung mit den hohen Decken, Spaziergänge am Wochenende, jeden Abend Gäste. Laura beschreibt einen ganz normalen Alltag, aber die neue Realität, in der täglich Menschen an Gleis 14 des Berliner Hauptbahnhofs ankommen, die all das tatsächlich hinter sich lassen mussten, verleiht diesem Moment der Trauer eine unheimliche Aura, wie eine Vorahnung.

Es geht in "Abteil Nr. 6" nie wirklich um eine Perspektive außerhalb des Hier und Jetzt für Laura und Ljoha, aber gelegentlich lässt Juho Kuosmanen dennoch die Welt in ihr Abteil. Wenn die beiden sich flüchtig über James Camerons "Titanic" unterhalten, der 1997 gerade in den Kinos gestartet war. Die Petroglyphen bei Murmansk wurden ebenfalls erst 1997 entdeckt und so berühren sich in diesem Jahr auf unerwartete Weise Vergangenheit und Gegenwart. 1997 war auch das Jahr, in dem Russland der Osterweiterung der NATO zustimmte. Finnland war 1995 in die EU eingetreten, drauf und dran endlich die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingetretene Wirtschaftskrise zu überwinden. So manifestiert sich subtil, was in "Abteil Nr. 6" nie artikuliert wird, jedoch immer als melancholische Grundstimmung in der Luft hängt: Der Film konserviert einen spezifischen Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte; einen Moment, in dem plötzlich vieles möglich schien, von dem wir heute in unseren finsteren Momenten annehmen müssen, dass er nicht viel mehr war als eine vertane Chance. "Wir müssen wissen, wo unsere Wurzeln sind, um uns besser zu verstehen", versucht Laura einmal ihr Interesse an den Felsbildern zu erklären, weil Ljoha sie mit seinen bezaubernden Dackelaugen voller Unverständnis anschaut. Dass sie damit nur die Worte eines namenlosen Russen wiederholt, der anfangs bei einer Party in Irinas Küche saß, entlarvt den Satz als die Hülse, die er ist.

Katrin Doerksen

Abteil Nr. 6 - Finnland 2021 - Regie: Juho Kuosmanen - Darsteller: Yuriy Borisov, Seidi Haarla, Valeriy Nikolaev, Yuliya Aug, Dinara Drukarova - Laufzeit: 107 Minuten.

***

Rahim (Amir Jadidi) wird von einer sanften, charismatischen Aura umgeben. Der großgewachsene, bärtige Mann mit dem dem offenen Blick wirkt im Umgang höflich, hilfsbereit und konfliktscheu. Nicht nur weil er im Gefängnis sitzt, lässt uns der iranische Regisseur Asghar Farhadi früh an diesem Eindruck zweifeln. Zum Beispiel durch das einnehmende Lächeln Rahims, das sich manchmal irritierenderweise an kein Gegenüber richtet und dadurch wie einstudiert wirkt. Schon zu Beginn spielt die Hauptfigur aus "A Hero" eine Rolle, der sie nicht ganz gewachsen ist.


Es bleibt nicht der einzige Hinweis auf das spätere Schicksal des Protagonisten. Wenn er etwa während eines Freigangs seinen Schwager Hossein (Alireza Jahandideh) auf der monumentalen Ausgrabungsstätte Naqsch-e Rostam besucht und dabei die schier endlosen Stufen eines Baugerüsts erklimmt, deuten sich schon all die Anstrengungen an, die Rahim im Laufe des Films zermürben werden.

Verschleiert wird diese Vorbestimmung wiederum durch demonstrative inszenatorische Beiläufigkeit. Die Szenen entwickeln sich unscheinbar aus dem Alltag der Figuren und vertrauen auf die unmittelbare Wirkung der Handkamera. Erst mit der Zeit zeichnet sich ab, dass Rahim wegen Schulden im Gefängnis sitzt und sich in einer verzwickten Situation befindet: Einerseits fehlen ihm die Mittel, um seinen Gläubiger Bahram (Mohsen Tanabandeh) - den Bruder seiner Ex-Frau - auszuzahlen, andererseits wird er wegen seiner Vorstrafe wohl auch keinen Job finden, um daran etwas ändern zu können.

Eine mit Goldmünzen gefüllte Handtasche, die Rahims Freundin Farkondeh (Sahar Goldust) an einer Bushaltestelle findet, kommt wie ein Geschenk des Himmels. Als Rahim die Besitzerin nach längerem Zögern per Aushang sucht und schließlich auch findet, wird er von allen wegen seiner Aufrichtigkeit gefeiert. Dabei lässt der Film keinen Zweifel daran, dass die Heldenrolle schon zu diesem frühen Zeitpunkt das Resultat einer umfassend konstruierten Fiktion ist. Dabei sind es eigentlich nur Details, die für ein Fernsehteam geglättet werden, wie etwa der Umstand, dass es nicht nicht Rahim war, der die Tasche gefunden hat, sondern Farkondeh.

In Rahims öffentlicher Persona bündeln sich nicht nur gesellschaftliche Sehnsüchte nach dem Guten, sondern auch verschiedene Interessen. Für die Gefängnisleitung ist der Vorfall eine Imagekampagne, um vom Suizid eines Gefangenen abzulenken, für einen Wohltätigkeit-Verein willkommene Werbung, für die Medien einfach eine gute Geschichte und für Rahim ein hoffnungsvoller Ausweg aus seiner misslichen Lage. Den guten Ruf begreift Farhadi als kostbare Währung, die mehrmals im Film berechnend eingesetzt wird. Die Hochzeit mit Farkondeh etwa, die vorher am fehlenden Einverständnis ihres Bruders zu scheitern drohte, ist plötzlich wegen eines wohlwollenden Zeitungsartikels doch möglich.

Der weitere Verlauf von "A Hero" wirkt manchmal wie ein abgekartetes Spiel, weil die Zersetzung der Hauptfigur von Anfang an beschlossene Sache scheint. Als Gerüchte über die angeblich erfundene Geschichte auftauchen und sich der Verdacht erhärtet, dass die wie vom Erdboden verschwundene Besitzerin der Tasche eine Hochstaplerin war, beginnt die Abwärtsspirale. Je vehementer der immer ungehaltene Rahim versucht, an seiner Heldenrolle festzuhalten, desto schlechter spielt er sie. Überhaupt gibt es es in "A Hero" eine Aufteilung zwischen oft leicht erregbaren, wild gestikulierenden Männern und vernunftgeleiteten, vom Rand der Erzählung agierenden Frauen.


Zumindest was die Schuldfrage angeht, bleibt "A Hero" konsequent ein Ensemblestück. Bei einer Vorladung von Rahims zukünftigem Arbeitgeber verkörpert Farkondeh die Verschwundene, während ein wegen seiner eigenen Hafterfahrung solidarischer Taxifahrer ihnen mit den richtigen Lügen zur Seite steht. Farhadi schafft ein nie ganz entwirrbares Knäuel aus unbedachten und bewussten Handlungen, persönlicher Entscheidungsmacht und ungünstigen äußeren Umständen. Doch um diese Ambivalenz zu erreichen, greift er teilweise zu sehr kalkulierten Mitteln. Ähnlich manipulativ und mitleidheischend wie Rahim seinen stotternden Sohn bei einem Charity-Event ins Rampenlicht schiebt, setzt ihn später auch Farhadi ein, um den Film zum emotionalen Höhepunkt zu treiben.

Die Sogkraft, die dieses nuanciert inszenierte Eskalations- und Schauspielerkino entwickelt, lässt sich aber nicht leugnen. Oft sehen wir längere, suspensehaltige Dialogszenen mit unauffälligem Auftakt, in denen Rahim langsam alles entgleitet. Die Schuld ist zwar eine kollektive, aber Sündenbock ist Rahim ganz allein. Vom Helden wird er zu dessen nicht minder von äußeren Projektionen verzerrten Negativbild: dem Betrüger.

Wegen dieser Entwicklung wirkt es konsequent, dass sich die Spannung gegen Ende zunehmend im Gesicht von Hauptdarsteller Amir Jadidi verdichtet. Die Ohnmacht vor dem eigenen Schicksal lässt die freundlichen Züge einfrieren und wandelt sich zur wutverzerrten Fratze. Wenn es doch noch zu einer aufrichtigen und aufopferungsvollen Geste kommt, findet sie bezeichnenderweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Heldenwerdung ist bei Farhadi ein innerer Prozess. Am Schluss blickt uns zwar ein gebrochener Mann an, aber sein Lächeln wirkt diesmal aufrichtig und zufrieden.

Michael Kienzl

A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani - Iran 2021 - Regie: Asghar Farhadi - Darsteller: Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Sahar Goldust, Fereshteh Sadre Orafaiy, Ehsan Goodarzi - Laufzeit: 127 Minuten.