Im Kino

Welche Ordnung auch?

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
19.08.2015. Peter Bogdanovichs bezaubernde Comeback-Komödie "She's Funny That Way" hebelt die Gesetze der Wahrscheinlichkeit aus. Nicht im Kino, aber vermutlich bald auf vimeo: Isiah Medinas wahnwitziges Kinoexperiment "88:88", das aus allen Rohren Theorie abfeuert.

Der Gelegenheitsschauspieler Peter Bogdanovich, stets selbstironisch distanziert, ist ungebrochen aktiv, von seinen ersten Cameos im ausgehenden New Hollywood bis zur metareflexiven Rolle des Dr. Eliott Kupferberg in den "Sopranos", eines Supervisors, der Tony Sopranos Therapeutin Dr. Melfi therapiert. Um den Filmemacher Peter Bogdanovich hingegen war es (mit Ausnahme einiger Fernseharbeiten und des Whodunnit "The Cat"s Meow" von 2001) still in den letzten zwei Jahrzehnten. Schon davor hatte es der einst gefeierte Regisseur von "Paper Moon" und "The Last Picture Show" schwer, seine Filme finanziert zu bekommen, spätestens seit dem massiven Kassenflop von "They All Laughed", einer (übrigens fantastischen) Screwball-Dekonstruktion, die ihn Anfang der 1980er in den finanziellen Ruin trieb. Wie auch immer es ihm gelungen sein mag, Bogdanovich ist zurück, mit einem Film, der schon im 50er-Jahre-hippen Originaltitel "She"s Funny That Way" von dem Versuch kündet, an die Größe alter Zeiten anzuschließen. Ganz verkehrt liegt allerdings auch der an sich olle deutsche Verleihtitel nicht: "Broadway Therapy" deutet ein sprachliches Register an, das näher bei Woody Allen liegt als bei der klassischen Screwball Comedy. Irgendwo dazwischen liegt Bogdanovichs neuer Film: ein kleines Altersmeisterwerk.
 
Für eine Broadway-Produktion werden Theatermenschen nach New York eingeflogen - ein Regisseur mit Samariterkomplex (Owen Wilson), seine Hauptdarstellerin und Ehefrau (Kathryn Hahn) sowie ein gemeinsamer Schauspielerfreund der beiden (Rhys Ifans als parfümierter Lothario) -, wo sie mit den Einheimischen riskante Verbindungen eingehen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Callgirl Izzy (Imogen Poots), die allen, ohne so recht zu wissen warum, den Kopf verdreht. Um sie herum angeordnet ein ganzer Reigen wunderbarer Schießbudenfiguren: der Dramatiker (Will Forte), die Therapeutin (großartig: Jennifer Anniston), der Detektiv (mit aufgeklebtem Bart), der Richter usw. Verwechslungen werden in Gang gesetzt, dicht gefolgt von Offenbarungen, die stets nur zum Schein die Ordnung wiederherstellen. Welche Ordnung auch? Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit besitzen keine Gültigkeit in der Theaterwelt von "Broadway Therapy", wo man Eichhörnchen ebenso gut verfüttern kann wie Nüsse ("Squirrels to the nuts!": mit diesem Nonsense-Wahlspruch gewinnt Owen Wilsons Theaterregisseur die Herzen gleich mehrerer New Yorker Callgirls, die er nicht für den Sex bezahlt, sondern dafür, den bezahlten Sex ein für allemal sein zu lassen).
 


Im Vergleich zu Bogdanovichs früheren Versuchen im Bereich der Screwball Comedy, den körperkomischen Verrenkungen von "What"s Up, Doc?" (1972) oder den freien Blick- und Bewegungskaskaden von "They All Laughed" (1981), ist "Broadway Therapy" dialogzentriert. Von Woody Allens Ensemblefilmen, die einem manchmal in den Sinn kommen, ist er dennoch weit entfernt, viel zu boulevardtheaterimmanent und unpsychologisch geht es zu. Eine im strengen Sinn unsichtbare, in ihren Wirkungen aber überall erkennbare Hand leitet und lenkt die Geschicke des dutzendköpfigen Cast. Mit den Figuren durch dünne, im Gegenlicht schimmernde Fäden verbunden, schafft die Hand typische Settings und Situationen - Türen, die sich alle auf den selben Hotelkorridor öffnen - und setzt die Figuren in sie hinein. Der Rest läuft wie von selbst, eben: am Schnürchen.
 
Gerahmt ist die intern und extern (in zig Cameos) verweisungsreiche Erzählhandlung von einem Interview mit dem frisch geborenen Starlet Isabella Patterson (née Izzy). Ihrer großäugigen, das eigene Glück gar nicht glauben könnenden Naivität - im dick aufgetragenen Brooklyn-Akzent der britischen Darstellerin Imogen Poots - steht der abgebrühte Zynismus der Interviewerin (mit allen Wassern gewaschen: Illeana Douglas) gegenüber, die ihrerseits nicht glauben kann, als Societyreporterin verendet zu sein. Ironische Grundstimmung hin oder her, welchen dieser beiden Haltungen zum Showbiz Bogdanovichs Sympathie gilt, steht außer Zweifel. Wir verstehen freilich die Konsternation der Fragestellerin über so viel entgeisterte Begeisterung, ergeben uns schließlich aber doch Izzys holprigem Enthusiasmus, zumal dieser, wenn Izzy auf ihre Vorbilder zu Sprechen kommt, mit durchscheinenden Filmtransparenten zugerüstet wird: Stills und Plakate, Einblendungen aus einer anderen Zeit ziehen vor ihrem und unserem geistigen Auge auf. In ihrer krispen Digitalität markieren diese antirealistischen Einblendungen, die ein bisschen aussehen wie die Bildinserts einer Nachrichtensendung, die spezifische Zeitlichkeit dieser Screwball-Komödie als "nach dem Kino", zumindest nach dem des klassischen Hollywood, an das Bogdanovichs frühere Filme noch direkt anzuknüpfen suchten. Die hocherfreuliche Moral dieses äußerst lebendigen Stücks Filmgegenwart: Nach dem Kino ist vor dem Kino.

Nikolaus Perneczky

Broadway Therapy - USA 2014 - OT: She"s Funny That Way - Regie: Peter Bogdanovich - Darsteller: Imogen Poots, Illeana Douglas, Owen Wilson, Debi Mazar, Jennifer Aniston, Richard Lewis, Kathryn Hahn, Sydney Lucas - Laufzeit: 93 Minuten

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Publikumsgespräche mit Filmemachern nach Vorführungen ihrer Filme sind in der Regel nicht allzu interessante Veranstaltungen. Selten kommt es vor, dass die noch halb im eben Gesehenen gefangenen Zuschauer andere als die nächstliegenden Fragen stellen, noch seltener, dass ein Regisseur seinem schließlich ausführlich geplanten und durchdachten Werk ad hoc etwas Überraschendes hinzuzufügen hat. Eine Ausnahme von dieser Regel konnte ich letzte Woche auf dem Internationalen Filmfestival Locarno erleben.

Zuerst sah ich da einen aberwitzigen Film mit dem Titel "88:88", der die Lebenswelt einer Gruppe junger Menschen in einem ein wenig heruntergekommenen Viertel der kanadischen Stadt Winnipeg (wo auch, ganz andere, aber ebenso abseitige Ecke, Guy Maddin seine Filme dreht) in ein Kaleidoskop grell aufplatzender Farben, wild divergierender Bildtexturen, flickerartiger Montagesequenzen, Bild-im-Bild-im-Bild-Verschachtelungen verwandelt. Und dazu auf der Tonspur aus allen Rohren Theoriefragmente abfeuert, die mal der zeitgenössischen französischen Philosophie, mal Denkmodellen der Mathematik entstammen, die dabei nicht einfach nur wiedergegeben, sondern gleich kontextualisiert, interpretiert, kritisiert werden - und die außerdem durchsetzt sind mit Gangsta-Rap-Samples, intimen Schlafzimmergesprächen, Computerspielsoundtracks. Erst im Nachhinein kann man nach ein paar benachbarten Koordinaten in der Filmgeschichte suchen: Sicher, Godards effektbewusstes Diskurskino ist nicht ganz weit weg, die Transformation des eignenen Alltags in eine letztlich unlesbare Abfolge von Mikrosensationen erinnert an amerikanische Avantgardisten wie Stan Brakhage und Jonas Mekas. Aber die manische Energie des Films, und schon auch seine unbedingte Distanz zum Bildungsbürgertum (ohne jedes Außenseiterpathos situiert er sich in einem migrantisch geprägten working-class-Milieu), ist ganz sui generis.

Dann tritt der Regisseur, ein bescheiden, fast schüchtern auftretender Mittzwanziger in weitem T-Shirt namens Isiah Medina vors kräftig durchgeschüttelte, zu guten Teilen euphorisierte Publikum - und legt erst richtig los. Auf vorsichtige Fragen danach, wie ein solcher Film enstehen kann, ob er ständig seinen Alltag filme oder auch inszenierte Szenen einflechte, wie wichtig ihm die musikalische Ebene seines Films ist, antwortet er mit druckreifen Theorieexplikationen, die klarmachen, dass er an sich und seinen Film nur die höchsten Ansprüche stellt: Film ist Philosophie, also audiovisuelles Denken, oder gar nichts.


Im Zentrum seiner Ausführungen steht zumeist der cut, der Filmschnitt; im cut selbst, nicht in den filmischen Bildern, die er gemäß der klassischen Filmtheorie zueinander in Beziehung setzt (Theorien der Montage interessieren Medina eben gerade nicht), identifiziert der Regisseur das radikale Potential des / seines Kinos. Weil nur in der absoluten Negation des cuts Veränderung, echte Differenz gedacht werden kann. Auch der opake Titel will in diesem Sinn gedeutet werden: "88:88" bezieht sich auf eine Zahl, die eigentlich keine ist, weil sie auf einer digitalen Nummernanzeige gerade dann aufleuchtet, wenn sie Daten erhält, die sie nicht bearbeiten kann - zum Beispiel erscheint sie auf dem Display einiger Bankautomaten, wenn eine Kreditkarte nicht angekommen wird. Den Bankrott, den Ausschluss aus der ökonomischen Zirkulationssphäre, begreift Medina als einen notwendigen Nullpunkt, von dem aus ein neues Denken erst möglich wird. (Der Hinweis darauf, dass die Chiffre 88 unter deutschen Neonazis eine ganz andere, weit weniger anregende Bedeutung hat, würde den Regisseur kaum aus dem Konzept bringen, vermutlich würde er ihn problemlos in sein fröhlich wucherndes Theoriemodell integrieren können.)

Wieviel von Medinas Ausführungen jenseits ihrer regelrecht erhabenen Performance in Locarno Hand und Fuß hat, sei dahingestellt. Ich würde zumindest vorsichtig die Frage stellen wollen, ob der gute alte cut, in dem noch die Schere nachklingt, die den analogen Filmstreifen zerschneidet, für ein hochgradig digitales Filmschaffen wie das Medinas eine angemessene Kategorie sein kann. Tatsächlich weiß der Regisseur den schnöden Filmschnitt zwar durchaus effektiv einzusetzen (beziehungsweise, weil der Datenfluss eh immanent bleibt: zu imitieren); noch einmal interessanter ist "88:88" aber, wenn sich die Bilder sozusagen von innen her destabilisieren, weil sie ineinander fließen, sich gegenseitig überlagern, aushöhlen, korrumpieren.

Andererseits: Wenn sich Film und Theorie am Ende als inkompatibel erweisen sollten, müsste das eigentlich ganz im Sinne Medinas sein, der allem, was mit sich selbst identisch sein will, den Kampf angesagt hat. Mich haben jedenfalls sowohl der freundliche Rebell als auch sein bei aller schon ein bisschen nerdigen Smartness zwischendurch ziemlich rührende Film, der selbst dann wunderbar funktioniert, wenn man in ihm nur die impressionistisch-autobiografische Studie einer zugleich intellektuell überdrehten und ökonomisch abgehängten Jugend sehen will, sehr für sich eingenommen. Ich glaube, ich werde nicht der einzige sein. Medina hatte bereits mit seinen Kurzfilmen (die auf vimeo verfügbar sind) eine kleine Fangemeinde hinter sich vereint - "88:88" dürfte den Kult erst so richtig in Gang setzen.

Lukas Foerster

88:88 - Kanada 2015 - Regie: Isiah Medina - Laufzeit: 65 Minuten