Magazinrundschau

Spezialisten fürs Denken

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.02.2011. Die LRB untersucht die Strukturen des Mubarak-Regimes. In World Affairs erklärt Vaclav Havel das Absurde. In ResetDoc überlegt Tariq Ramadan, welche Rolle die Muslimbrüder in einem demokratisch regierten Ägpten oder Tunesien spielen würden. Himal widmet sich der klassischen indischen Musik. Vanity Fair reist nach Irland und findet Hanoi, ungefähr 1950.

London Review of Books (UK), 17.02.2011

In einer Art Online-Vorauskopplung aus der kommenden Ausgabe erklären Adam Shatz und Issandr El Amrani Hintergründe und Voraussetzungen der Revolte in Ägypten. Mit Stand 4. Februar (lange her, will einem bei der Lektüre scheinen) fragt sich Shatz, was "Nach Mubarak" kommt, gelangt aber über die Spekulationen aktueller Fernsehtalkshows kaum hinaus. Interessanter ist El Amranis Text, der über Einzelheiten und Strukturen des Mubarak-Regimes informiert, die ein Licht auch auf das, was vielleicht kommt, werfen: "Ein Sicherheitsdienst-Establishment, das nach Schätzung von Informanten bis zu zwei Millionen Menschen beschäftigt, bildete eine Parallelregierung und sorgte für die Entschärfung lokaler Konflikte. [...] Ägypter auf herausgehobener Position - Politiker, Geschäftsleute, Journalisten - hatten einen speziellen Betreuer, eine Beziehung, die zur Einschüchterung, Belohnung und Anleitung genutzt werden konnte. Das Ergebnis war ein politisches Ökosystem von deutlich größerer Flexibilität im Vergleich zum Tunesien Ben-Alis. Diese Flexibilität hatte ihre Grenzen, und das System erwies sich als erstaunlich unfähig zur Reaktion, als es auf eine führerlose Protestbewegung stieß. Es stellte sich heraus, dass die größte Schwäche der Opposition - ihre Unfähigkeit, einen charismatischen Anführer mit großer Publikumswirkung hervorzubringen - zugleich ihre Stärke war."

World Affairs (USA), 01.03.2011

2007 hat Vaclav Havel ein Theaterstück über einen Staatsmann geschrieben, der sein Amt abgeben muss. Jetzt hat er es selbst verfilmt, erzählt der tschechische Botschafter in Großbritannien Michael Zantovsky, der eine kleine Nebenrolle als Paparazzo hatte. Zantovsky war etwas unbehaglich mit dem Stück. Politik werde hier als absurde Farce gezeichnet. Was sagt das über Havel, den ehemaligen Präsidenten der Tschechischen Republik? "Havel tut die Frage nicht ab, aber überlegt sie gründlich ud ernsthaft: 'Ich weiß nicht, ob man wirklich über Absurdität nachdenken kann ohne einen starken Begriff von Sinn. Absurdität wirkt überhaupt nur vor einem Sinnzusammenhang. Tiefere Bedeutung wirft Licht auf das Absurde."
Archiv: World Affairs
Stichwörter: Havel, Vaclav

ResetDoc (Italien), 25.01.2011

Welche Rolle werden die Muslimbrüder in Tunesien und Ägypten spielen, wird Tariq Ramadan gefragt. In Tunesien haben die Islamisten beim Aufstand gar keine Rolle gespielt, meint er. In Ägypten sei das zwar etwas anders, aber dabei "geht es nicht um Trends, es ist eine Generationenfrage. Bei den ägyptischen Muslimbrüdern heißt 'jünger sein' sechzig sein! In den vierziger Jahren war das anders. Es gibt einen internen Kampf zwischen den Generationen. Ich glaube nicht, dass es eine monolithische Realität des heutigen Islamismus gibt. Wenn man die zwei Länder vergleicht, stellt man fest, dass Tunesien viel fortschrittlicher ist was Demokratie und die Gleichberechtigung der Frauen angeht. Das ist sehr wichtig. Eine Bewegung wie Kefaya wäre vor zwanzig Jahren in Ägypten undenkbar gewesen. Die Muslimbrüder hätten sich geweigert, mit anderen politischen Gruppen - Kommunisten, Linke, Atheisten - zusammenzuarbeiten. Aber sie haben sich verändert, weil sie verstanden haben, dass sie die Diktatur Mubaraks nicht allein stürzen können."
Archiv: ResetDoc

Financial Times (UK), 04.02.2011

Nach der Plünderung des Ägyptischen Museums denkt der Kunsthistoriker Simon Schama über die Bedeutung des Kulturerbes in Zeiten der Revolution nach. "Paradoxerweise sind die Altertümer - überflüssig oder unentbehrlich für die Zukunft? - in Zeiten revolutionären Aufruhrs am heftigsten umkämpft. Zum einen liegt das daran, dass mit der Auflösung ziviler Autoritäten die Versuchung zu plündern unwiderstehlich ist. Zum anderen haben fast alle Revolutionen einen Hang zur Bilderstümerei. Die Freude an der Schändung, am Zerschmettern der Tabus ist Teil des Adrenalinstoßes, den andere Arten der Befreiungen auslösen. Die einzige Frage ist dann, ob nur die Bilder zerstört werden, die Symbole des verhassten Herrschers sind, oder ob das ganze Repertoire der Erinnerungsfetische, die vor den Paroxysmen der Freiheit noch Ehrfurcht geboten - Grabsteine und Porträts, Throne und Statuen -, ebenfalls im Namen der Säuberung zerstört werden."
Archiv: Financial Times
Stichwörter: Kulturerbe, Plünderung

Outlook India (Indien), 14.02.2011

Das britische Außenministerium spart - und darum macht das BBC-Hindi-Programm nach siebzig Jahren dicht. Das Entsetzen unter vielen gebildeten Indern ist groß, der Sender hatte treue Fans, die ihn für seine Verlässlichkeit verehrten. Namrati Joshi hat einen regelmäßig sich treffenden 200-köpfigen Zuhörerclub getroffen: "Die Mitglieder wollen ans britische Außenministerium schreiben und manche planen eine öffentliche Verbrennung von Bildnissen David Camerons... Derart tief empfundene Reaktionen gegenüber etwas so Profanem wie einem Radiosender mögen den Fernseh- und Internet-gewohnten Kids von heute seltsam vorkommen, nicht jedoch ihren Mittelschicht-Eltern, die mit BBC Hindi aufwuchsen... Der TV-Produzent Sonal Joshi erinnert sich daran, wie der verstorbene Hindi-Dichter Bhawani Prasad Mishra, ein Freund der Familie, dem Sender lauschte. 'Wir waren sieben oder acht und mussten mucksmäuschenstill sein, wenn er die Nachrichten hörte.' Der Softwareprogrammierer Anurag Narayan konstatiert, dass BBC Hindi für die Erwachsenen in seiner Familie so etwas wie die Bibel war. 'Ich erinnere mich, wie mir mein Großvater versicherte, dass alles, was die BBC sagte, korrekt sein musste. Er stellte sogar seine Uhr nach den BBC-Nachrichten."
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Cameron, David, Mittelschicht

n+1 (USA), 26.01.2011

Das interessanteste an Gabriel Josipovicis Buch "What Ever Happened to Modernism?" ist die Tatsache, dass er die Moderne nicht als vergangene Periode beschreibt, sondern als lebendiges, nie abgeschlossenes Projekt, meint Amelia Atlas. Der Absolutheitsanspruch Josipovicis, nur im Geist der Moderne könne wahre Kunst geschaffen werden, erscheint ihr allerdings etwas steril: "Kierkegaard erkennt, dass die Autorität des Künstlers keine andere Quelle hat als den Künstler selbst und dass dieser Verlust einer objektiven Realität, einmal erkannt, niemals rückgängig gemacht werden kann. 'Dieser dialektische Moment', schreibt Josipovici zustimmend, 'ist typisch für Kierkegaard und die Moderne.' In einem Zeitalter der Ernüchterung 'können sich nur die, die nicht verstanden haben, was passiert ist, vorstellen, dass sie ihrem Leben (und ihrer Arbeit) eine Form und damit eine Bedeutung vom Ende her geben können.' Es gibt eine Spannung in Josipovicis zeitlicher Logik, die er niemals löst. Er scheint - paradoxerweise - auf beidem zu bestehen: der Notwendigkeit der Dialektik und der Realität ihres Endes in Form des Modernismus'. Ist das alles, was Romanen bleibt: das Alarmglöckchen ihrer eigenen Fabriziertheit zu schlagen?"

Wenn man auf Amelia Atlas' verlinkten Namen klickt, findet man noch einen zweiten lesenswerten Artikel über drei Berlin-Romane: Chloe Aridjis' "Book of Clouds", Anna Wingers' "This Must Be the Place" und Iris Hanikas "Treffen sich zwei". Und hier noch ihr Blog, in dem sie u.a. auf David Mendelsohns"Mad Man"-Kritik in der NYRB antwortet.
Archiv: n+1
Stichwörter: Chloe, Hanika, Iris, Clouds

Himal (Nepal), 08.02.2011

Himal widmet der klassischen indischen Musik einen umfangreichen Schwerpunkt. Vorgestellt werden Musiktraditionen und ihre heutigen Ausläufer in Pakistan, Burma, Nepal und natürlich Indien selbst. Einen Eindruck von den Schwierigkeiten, auf die man beim Versuch der historischen Erfassung dieser Musik stößt, vermittelt Namita Devidayal: "Sangit Mahabharati, ein Musiker und Gelehrter, der die letzten zwanzig Jahre mit dem Versuch verbrachte, eine Enzyklopädie der indischen Musik zusammenzustellen (in diesem Jahr wurde sie endlich veröffentlicht), stieß ständig auf das Problem, dass es kaum verlässliche Fakten gibt. Ist die Sitar eine Erfindung des persischen Poeten Amir Khusro oder hat sie Wurzeln im Subkontinent? Was ist der Ursprung des Wortes aalaap, das die langsamen Kadenzen bezeichnet, mit dem ein Musiker die Raga-Struktur entwirft? Manche Muslime beharren darauf, dass der Ausdruck vom Begriff 'Allah aap' (Allah, den wir verehren) stammt. Hindus verfolgen ihn andererseits zurück zur Tradition des Dhrupad Dhamar, einer Form der klassischen Musik, die sich im 15. Jahrhundert entwickelt haben soll, unter Radscha Mansingh Tomar in Gwalior. Und stammt ein spezieller Rage aus der Region des damaligen Persien - was naheliegt, weil dieselbe melodische Grundstruktur im Subkontinent zu existieren scheint, wenngleich unter einem anderen Namen? So oft hört man ein Konzert eines iranischen Musikers und findet die verblüffendsten Ähnlichkeiten zur Musik Indiens."
Archiv: Himal

Vanity Fair (USA), 01.03.2011

Michael Lewis schickt eine seiner grandiosen Reportagen über heruntergewirtschaftete Länder. Diesmal ist Irland dran, das Anfang 2000 eines der reichsten Länder der Welt war und heute in der Kreditwürdigkeit zwischen Venezuela und dem Irak rangiert. "Irland war das erste europäische Land, das erlebte, wie sein gesamtes Bankensystem zusammenbrach, trotzdem ist seine wirtschaftsfreundliche konservative Partei Fianna Fail bis 2011 im Amt geblieben. Es gab keine Tea Party, keinen Glenn Beck, keinerlei ernstzunehmenden Protest. Die offensichtlichste Veränderung in der Politik des Landes betrifft die Rolle, die Ausländer jetzt spielen. In den irischen Ministerien und Banken wimmelt es von amerikanischen Investmentbankern, australischen Betratern und gesichtslosen Euro-Beamten, die im Finanzministerium nur 'die Deutschen' genannt werden. Geht man nachts durch die Straßen, sieht man durch die Restaurantfenster lauter wichtig aussehende Männer in Anzügen, sie essen allein und studieren dabei wichtig aussehende Dokumente. Auf neue und seltsame Art ist Dublin jetzt eine besetzte Stadt: Hanoi, ungefähr 1950."

Bryan Burrough kann aus eigenem Erleben die Rückkehr eines großen Produzenten nach Hollywood annocieren. "Er wirft mir einen Blick zu, ein Grinsen, das alles sagt: Nach all den schlechten Filmen, den schlechten Entscheidung und dem ganzen schlechten Rest der vergangenen fünf Jahre, ist Harvey Weinstein zurück."
Archiv: Vanity Fair

Eurozine (Österreich), 03.02.2011

Im Jahr 2050 ist ganz Europa ein Zoo, den alle Welt nur besucht, um mal so eine richtig anachronistische Gesellschaftsform zu bestaunen. So jedenfalls malt Slavenka Drakulic sich das aus und erzählt auch, wie es dazu kam: "Spezialisten fürs Denken, man nannte sie Intellektuelle, starben, weil sie überflüssig wurden, zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus. Ein paar wenige überlebten in einem abgelegenen Teil Frankreichs, einem Land, das sich einst durch eine Kombination von sozialem Bewusstsein und superbem Hedonismus ausgezeichnet hatte. Einer von ihnen kam auf die brillante Idee, wie Europa überleben könnte, und zwar unter Beibehaltung der Lebensverhältnisse, ja, sogar mit Zusatzprofit! Nach einem Besuch in Stockholms Open-Air-Museum Skansen kam er nach Frankreich zurück und dachte: 'Unser Kontinent ist klein und seine Bevölkerung alt und im Schwinden - warum sollten wir nicht ganz Europa in Skansen transformieren? Dann könnte die ganze Welt hierherkommen und unsere außergewöhnliche Lebensweise studieren..."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Drakulic, Slavenka, Ska, Skater

New York Review of Books (USA), 24.02.2011

Nach Ende der vierten Staffel versteht der Essayist und Autor Daniel Mendelsohn überhaupt nicht, warum alle Welt so begeistert von "Mad Men" ist: Die Serie habe nur doppelte Böden, keine Tiefe: "Wenn die Kamera über Joans gigantischen Busen und ihre Stundenglas-Hüften gleitet, wenn sie träge den Wirbeln des Zigarettenrauchs an die Decke folgt und das Klirren der Eiswürfel in einem mittäglichen Whiskeyglas in Szene setzt, kann man nicht anders als denken, dass die Schöpfer der Serie einem dramatischen Beides-auf-einmal-haben-Wollen frönen: Sie wollen, dass wir von dem, was wir sehen, geschockt sind (in einer beliebten Szene zündet sich die hochschwangere Betty im Auto eine Zigarette an), zugleich erotisieren sie das, was sie uns zeigen. Dass ein Drama (oder ein Buch oder was auch immer) sein Publikum ermuntert, sich einer weniger aufgeklärten Gesellschaft überlegen zu fühlen, es aber zugleich mit den damit verbundenen regressiven Trieben kitzelt, halte ich für das schlimmste Vergehen, das ein in die Vergangenheit verlegtes Werk begehen kann. Es ist verächtlich und ranschmeißerisch zugleich. Und es lähmt die Fähigkeit, uns irgendetwas wirklich Substanzielles über die Welt, die es darstellt, zu erzählen."

Außerdem stellt Diane Johnson T.C. Boyles neuen Roman "When the Killing's Done" vor, der von ökologischen Verheerungen auf den kalifornischen Kanalinseln erzählt. In einem Parforceritt betrachtet William Pfaff die Revolutionen von Tunis bis Cairo, ohne dabei den Machtkampf an der Elfenbeinküste zu vergessern. David Shulman bespricht neue Bücher zum Nahost-Konflikt von Sari Nusseibeh ("What is a Palastinian State Worth?") und der Initiative Breaking the Silence ("Israeli Soldier Testimonies").