Magazinrundschau

Schwefelkot von Löwen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.02.2016. Das TLS klärt endgültig über den Unterschied zwischen erotischer und pornografischer Literatur auf. HVG liest mit Imre Kertész das Tagebuch von Sandor Marai. Die New Republic weiß, wo sich Teenager am lustvollsten schämen. Große Dokumentarfilmer verzichten auf Kommentar, insistiert François Margolin in La Règle du Jeu. Der New Yorker transportiert eine ganze Fabrik mit einem Luftschiff. Und Hospodarske noviny hörte zu, wie  Ljudmila Ulitzkaja in Prag in den Samizdat zurückkehrte.

Times Literary Supplement (UK), 22.02.2016

In einem tollen Text erkundet Claire Lowdon die Grenze zwischen erotischer Literatur und Pornografie, wofür sie sich durch einen ganzen Regalmeter Neuerscheinungen gelesen hat: "Gutes Schreiben muss Erregendes nicht ausschließen, doch jede Sex-Szene, die auf abgestandene Phrasen zurückgreift - oder auch nur abgestandene Wörter -, kann literarische Weihen vergessen. Der Einsatz ist hoch: Ein 'bebender Körper' ist nicht nur ein Klischee, es kickt einen Roman sofort ins andere Genre. Auf Nummer sicher gehen funktioniert auch nicht. Erica Jongs 'Fear of Dying' (im letzten Jahr für den Bad Sex Award nominiert) versucht es mit neutraler Präzision und kommt am Schluss mit wenig mehr als nichts heraus: 'Langsam zog er seine Zunge über meine Schamlippen, führte sacht einen Finger ein und ertastete den G-Punkt in meiner feuchten Muschi.' Daran gibt es nichts Anstößiges oder Lächerliches, aber eben auch nichts Lebhaftes. Nichts Sinnlich-Subjektives. Nichts was einen hören, fühlen, sehen, riechen lässt. Wie anders dagegen James Joyce im 'Ulysess', mit dem 'zwiebeligen Schweiß der Achselhöhlen', 'fischleimigen Schleim', und 'Schwefelkot von Löwen'." Lowdons Favorit aus jüngerer Zeit ist übrigens Joanna Walshs Band mit schmutzig-lustigen Sex-Märchen "Grow a Pair": "Er gehört zu der spielerischen Art, die das Alberne am Sex genießt, seine Absurditäten ausstellt und Wortspielereien freien Lauf lässt. Wir sind weit entfernt von subjektiv erfahrener Sinnlichkeit. Hier ist Sex eine Metapher, ein Spiel, eine Komödie."

Guardian (UK), 16.02.2016

In den tausend Jahren seiner Geschichte ging es Polen nie so gut wie heute, doch die PiS-Regierung verbreitet eine giftige Stimmung, als wäre das Land von Deutschen und Sowjets gleichzeitig besetzt. Christian Davies geht diesem Missverhältnis in einer langen historische Analyse nach und wirft der Partei von Jaroslaw Kaczyński vor, ihre Wut auf Polens Liberale in einen "Krieg gegen die liberale Demokratie" münden zu lassen. "Auch wenn die illiberale Wende des Landes meist als Teil einer größeren illiberalen Welle in Mitteleuropa beschrieben wird, hat sie tiefere Ursache; sie reicht zurück zu dem Bürgerkrieg, der unter den Politikern der Solidarnosć in der Stunde ihres Triumphs ausbrach. In ihren Untersuchungen zum Zusammenbruch der Solidarnosć bemerkte die irische Journalisten Jacqueline Hayden 1994, dass seit damals einige glauben, Beschimpfungen und Verleumdungen seien die Norm in der Politik, und wenn man den Giftbecher denen reicht, mit denen man gerade noch gemeinsam unter dem antikommunistischen Banner marschierte, führe das im Ergebnis zu einer phänomenalen Reinigung der politischen Atmosphäre."

Colm Toibin rekonstruiert zu Henry James' hundertstem Todestag, wie die Familie, namentlich Schwägerin Alice und ihr Sohn Harry, alles daran setzten, den Nachlass und vor allem die Briefe vor ihrer Veröffentlichung zu desinfizieren. Trotzdem: "Ein Jahr nach Erscheinen der Edition, schrieb Alice an ihren Sohn Harry: 'Die Leute neigen dazu, seine albernen Briefe an junge Männer auf so niederträchtige Weise zu interpretieren. Armer Onkel Henry.'"

Und der guten alten Zeiten wegen: Roger Lewis liest vergnügt Jeremy Lewis' Biografie des exzentrischen Erben David Astor, der 1948 den Observer übernahm und die Auflage in zehn Jahren prompt verdoppelte: "Vita Sackville-West übermahm die Garten-Kolumne, Kenneth Tynan ging ins Theater. Kim Philby wurde für den Nahen Osten zuständig. 'Er scheint ein extrem zuverlässiger Bursche zu sein, meinte Astor."
Archiv: Guardian

HVG (Ungarn), 20.02.2016

In den kommenden Tagen erscheinen in Ungarn die Aufzeichnungen von Imre Kertész aus den Jahren 1991 bis 2001, dem Jahrzehnt vor dem Nobelpreis für Literatur. Die Wochenzeitschrift HVG veröffentlicht in ihrer aktuellen Ausgabe Auszüge aus dem Tagebuch, in denen er sich auf die Tagebücher Sandor Marais bezieht: "Das späte Tagebuch von Marai ist müde, voll von Verdikten, ein sich langsam entleerendes Schreiben (...). Hie und da ertönt ein Satz über das Alter, doch in diesen Sätzen fehlt das Leben. Ich selbst fürchte das Alter wegen dem, was ich beim späten Márai sehe: der existenzielle Taumel hat ihn verlassen. Er ist nicht mehr um seine Seele besorgt, er bangt nicht mehr wegen seiner Sünden, das schrecklichste Verhängnis hatte ihn erreicht: Alterweisheit."
Archiv: HVG
Stichwörter: Kertesz, Imre, Marai, Sandor, Hvg

New Republic (USA), 17.02.2016

Beeindruckend, welche Parallel-Öffentlichkeiten sich in der nach Soziotopen zusehends ausdifferenzierenden Social-Media-Welt auftun. So widmet sich Elspeeth Reeve in einer epischen Reportage der Tumblr-Community. Galt Tumblr in Pre-Instagram-Zeiten noch als Hipster-Soziotop, hat es sich mittlerweile nicht nur als Entwicklungslabor für Meme etabliert, sondern erfreut sich unter im echten Leben ausgegrenzten Teenager immenser Popularität als anonymer Schutzraum, in dem sich auch ganz eigene Humorformen ausgebildet haben. Was viel mit den Grundmechanismen von Tumblr zu tun hat - und mit den narzisstischen Triggern der anderen sozialen Netzwerke: Denn "jedes soziale Netzwerk entwickelt eine bestimmte Sorte von Teenage-Stars: Diejenigen, die schon frühzeitig mit Attraktivität gesegnet sind, zieht es zu Youtube. Die Modebewussten und dem Anschein nach Wohlhabenden nutzen Instagram [...] 'Die Tumblr-Kultur hat sich in den letzten fünf Jahren so entwickelt, dass sich das kluge, aber sonderbare Kind von der Schule mit allen anderen klugen, aber sonderbaren Kindern von allen anderen Schulen dieser Welt vernetzt hat', meint Danielle Strle von Tumblr. Deren Sorte von Tumblr-Humor konzentriert sich häufig auf etwas, was ich Mikro-Beschämungen nennen möchte. Kurze Momente sozialer Unbeholfenheit, die sich für einen Jugendlichen absolut überwältigend anfühlen können, wenn er gerade noch im Begriff ist, für sich herauszukriegen, wie man in der Welt da draußen eine Person wird. Anonyme Kids mit smarten Nutzernamen wie Larsvontired und Baracknobama posten zugespitzte Einzeiler, in denen sie sich zu ihren verwundbarsten Momente sozialer Demütigung bekennen."
Archiv: New Republic

La regle du jeu (Frankreich), 17.02.2016

Sehr erbost äußert sich der Filmemacher François Margolin im Gespräch mit Félicité Wintenberger über Kritik an seinem Dokumentarfilm "Les Salafistes", der unter 18 Jahren verboten wurde - was die Auswertung des Films in Kino und TV fast unmöglich macht. Vorgeworfen wurde ihm, dass er die islamischen Fundamentalisten kommentarlos reden lasse. Margolin insistiert, dass sich der Standpunkt des Films aus den Fragen ergebe, die er ihnen stelle: "Mit der Idee, dass ein Film Kommentare brauche, fallen wir fünfzig Jahre zurück. Die größten Dokumentarfilmer (Depardon, Lanzman, Frederick Wiseman, Jean Rouch) fügen ihrer Arbeit keinen Kommentar hinzu. Es ist, als hätte das Fernsehen die Köpfe derartig deformiert, dass man es nicht mehr erträgt, wenn der Journalist nicht sagt, was man denken soll. Das ist eine intellektuelle Regression, die mich empört."

Bernard-Henri Lévy setzt sich in La Règle du Jeu außerdem mit Jean Birnbaums Buch "Un silence religieux" auseinander, dessen Kritik an der linken Idee von Religion er teilt - während er Birnbaums Vergleich zwischen den Spanien-Kämpfern von einst und den Jung-Dschihadisten heutiger Tage vehement ablehnt.
Archiv: La regle du jeu

New Yorker (USA), 29.02.2016

Die neue Ausgabe des Magazins geht in die Luft. Und zwar mit einer neuen Generation von Helium-Luftschiffen: "Moderne Luftschiffe können mit der Präzision eines Hubschraubers starten und landen. Sie können ganze Lagerhallen, Bohrstationen oder komplette Fabriken transportieren. Heutige Ingenieure teilen die Vision von der Überführung des LKW-Verkehrs in die Luft: Luftschiff-Konvois, die Holz, Kohle, Turbinen, Fertighäuser und ganze Ernten transportieren, mit 150 Stundenkilometern, hoch über unseren Köpfen … Die größte Herausforderung bei der Leichter-als-Luft-Technik ist nicht das Heben von Gewichten, sondern das Runterkommen. Ein Luftschiff müsste eigentlich Ballast aufnehmen oder mit Seilen am Wegfliegen gehindert werden, um eine einmal abgelieferte Ladung zu kompensieren. Igor Pasternak von Worldwide Aeros hat lange über dieses Problem nachgedacht und die Schwimmblasen von Fischen studiert. Schließlich erfand er COSH ('control of static heaviness'), das auf einem einfachen Prinzip beruht: Ein Helium-Luftschiff steigt auf, also müsste ein luftgefülltes Schiff sinken. Der Trick ist, die beiden Gase nach Bedarf auszutauschen. Mit COSH wird Helium verdichtet und in die Tanks des Luftschiffes verbracht. Um aufzusteigen, lässt der Pilot das Helium in die Hauptkammer des Schiffs. Wird das Helium wieder verdichtet und in die Tanks zurückgepresst, füllt sich die Kammer mit Luft, und das Schiff sinkt."

Außerdem: Dana Goodyear berichtet von den Rivalitäten in der Stammzellenforschung. Joan Acocella stellt den neuen Star-Choreografen Justin Peck vor. Peter Schjeldahl besucht die Ausstellung "Munch and Expressionism" in der Neuen Galerie. Kelefa Sanneh porträtiert den 24-jährigen norwegischen Kygo als derzeit angesagtesten Produzenten elektronischer Musik. Anthony Lane sah im Kino Robert Eggers' Film "The Witch". Und Luke Mogelson schickt eine Kurzgeschichte aus Kabul, in der Menschen und Dinge ins Rutschen kommen.
Archiv: New Yorker

La vie des idees (Frankreich), 22.02.2016

Unter der Überschrift "Vom linguistischen Imperialismus" stellt Emmanuelle Loyer die Studie "La Langue mondiale - Traduction et domination" der Soziologin Pascale Casanova vor. Sie zeigt darin, wie der Gebrauch des Englischen, das im 20. Jahrhundert das Französische als dominierende Weltsprache abgelöst hat, denjenigen, die sie beherrschen, Macht sichert. Andererseits: Was tun, da man nun mal eine Weltsprache braucht, um eine universelle Kommunikation zu erlauben? "Vor allem, antwortet Casanova, müsse man eine atheistische Position einnehmen" und das heißt, "man soll die Weltsprache im Bedarfsfall benutzen aber nicht vergessen, dass eine Sprache begleitet wird von Kategorien, Denkschemata und Sichtweisen, die man unbemerkt übernimmt; und sonst das Prinzip des 'Jeder in seiner Sprache' vorziehen, sofern dies der Verständigung nicht schadet."

Hospodarske noviny (Tschechien), 22.02.2016

Daniel Konrád berichtet von einer Buchvorstellung in Prag, auf der die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja über Samizdat-Zeiten und auch über das heutige Russland sprach. Ihrer Meinung nach hat Russland wegen der nicht stattgefundenen Lustration seine Vergangenheit nicht verarbeitet und neige heute dazu, sie vergessen. "Nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion hätte das Gleiche passieren müssen wie in Deutschland, wo die Nazi-Prominenz bestraft und kollaborierenden Beamten die Möglichkeit entzogen wurde, den Fortgang des Staates zu beeinflussen", so Ulitzkaja. Sie selbst verknüpft die Zukunft Russlands mit nur "vierzehn Prozent der Einwohner", was den Umfragen nach jener Teil Russlands ist, der Putins Regime nicht unterstützt. "Das sind etwa die gleichen vierzehn Prozent, die während des Kommunismus Samizdat-Literatur lasen", meint Ulitzkaja, die wegen ihrer Kritik am Ukrainekrieg in Russland inzwischen als Vaterlandsverräterin gilt.

New York Times (USA), 21.02.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times berichtet Saki Knafo über Edwin Raymond, einem engagierten farbigen Beamten der New Yorker Polizei, der wegen der Verletzung von Diskriminierungsgesetzen gegen seine eigene Behörde klagt und daraufhin auf Eis gelegt wurde. Als Beweismittel dienen ihm versteckte Gesprächsmitschnitte: "Gleich im ersten Mittschnitt wird er gewarnt. Ein Leutnant konfrontiert ihn mit seiner relativ geringen Festnahmequote. Er drückt seine Sympathie mit ihm aus, gibt aber zu bedenken, wie wichtig die Quote ist. Raymond fordert sein Gegenüber heraus. 'Das sind Menschenleben, kein Spiel', sagt er. Auch als seine Einsatzorte und Berufsaussichten immer schlechter werden, ist er sicher, dass er im Recht ist. Er nimmt immer weniger Festnahmen vor, und die Zahl der Verbrechen in seinem Bezirk sinkt. Raymond denkt, wenn er aufsteigt, wird man ihm Recht geben. Er versucht sich um einen höheren Posten zu bewerben … Wenn der Fall Raymond gegen die Stadt New York weitergeht, werden die Mitschnitte wohl berücksichtigt werden. Es könnte Jahre dauern, aber Raymond will nicht aufgeben."

Außerdem: Mattathias Schwartz stellt eine Doku vor, die sich der Rolle bezahlter Quellen bei der nachrichtendienstlichen Terrorbekämpfung widmet. Ian Urbina verfolgt Fischwilderer vor Palau. Susan Burton porträtiert die Romanschriftstellerin Dana Spiotta. Und William Grimes schreibt den Nachruf auf Harper Lee.
Archiv: New York Times