Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2004. Die FAZ bewundert Che Guevaras kompromisslos aufrichtiges Temperament. In der FR zweifelt Michael Walzer am palästinensischen Status des permanenten Opfers. In der taz erklärt Horst-Eberhard Richter, warum er die RAF immer noch verstehen will. Und die SZ beschreibt, wie man auch in der Provinz das Theater mit einem hochkarätigen Ensemble zum Glitzern bringen kann.

FAZ, 27.10.2004

Walter Salles' Film "Die Reise des jungen Che" dreht sich "weder um Che Guevara noch um seine revolutionären Träume", findet Andreas Kilb - und das sei gut so. So könne sich die Schilderung der Motorradreise durch Südamerika, die der junge Ernesto Guevara mit seinem Freund Alberto Granado unternahm, ungestört entfalten und dabei fast nebenbei jenes kompromisslos aufrichtige Temperament offenbaren, das Guevara zum Revolutionär machen sollte. "Einmal treffen Alberto und Ernesto in Patagonien einen deutschstämmigen Farmer. Sie seien junge Mediziner auf der Durchreise, sagen sie, und Von Puttkamer, der Farmer, zeigt ihnen als Antwort eine Beule an seinem Hals. Das sei nichts Schlimmes, mit ein paar Kräuterpackungen leicht zu heilen, flötet Alberto, aber Ernesto befühlt die Schwellung und sagt dann knapp: 'Es ist ein Tumor.' Die Miene des Farmers verdüstert sich, er schickt die beiden aus seinem Garten. Unten am Bergsee, erklärt er, könnten sie zelten. 'Weißt du, was das Problem ist?' fragt Alberto seinen Freund, als sie ihr Nachtlager beziehen: 'Deine blöde Ehrlichkeit!' "

Weitere Artikel: Der Physikprofessor Gregory Benford malt den Teufel an die Wand: Ein erneuter US-Wahl-Skandal sei schon deshalb nicht auszuschließen, weil der binäre Vorgang des Wählens (Ja oder Nein) teilweise immer noch auf einem analogen Medium festgehalten werde, dessen materielle Unsicherheit zu Mischvarianten und dazu zur Ungültigkeit der Stimme führen könne. Für Walter Grasnick, der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Marburg ist, setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenrechtskonvention neue Maßstäbe, weil es den Wechsel vom Gesetzesrecht zum Richterrecht ausspricht. "Deutschland ist wirklich in Gefahr, wenn Baden-Württemberg ausflippt" - Gerhard Stadelmaier zeigt sich einigermaßen verwundert über das schwäbische Schmierentheater, das zum Königsmord an Erwin Teufel geführt hat. Dirk Schümer berichtet, wie James Joyce sich zu einer Art Ehrenbürger von Triest mausert. Aus Aachen berichtet Andreas Rossmann vom Auftakt der Diskussionsreihe "Gehört die Türkei zu Europa?", bei dem die Metapher der Brücke hochgejubelt wurde.

Auf den Spuren von Louis-Ferdinand Celine hat sich Ulf Geyersbach ins brandenburgische Örtchen Kränzlin begeben und festgestellt, dass der in Frankreich als Säulenheiliger gehandelte Literat just in dem Dorf unbekannt ist, das er in seinem düsteren "Norden" literarisch verarbeitet hat. Auf der Medienseite weist Gisa Funck auf den ersten Dokumentarfilm überhaupt hin, der vom dem 1999 verhandelten Prozess im Mordfall Martin Luther King handelt und heute auf arte ausgestrahlt wird. Und sehr schön zu lesen ist schließlich Christian Schwägerls verblüffendes Porträt des Hirnforschers Thomas DeMarse (mehr hier), der bewiesen hat, dass eine Handvoll Rattenhirnzellen in der Lage sind, mithilfe eines Flugsimulators "einen virtuellen F-22-Kampfbomber geradeaus zu lenken, nach weiterem Training sogar dazu, ihn durch einen Hurrikan zu steuern".

Es wird gemeldet, dass das Kulturinstitut Inter Nationes zum 1. April 2005 im Goethe-Institut aufgehen soll, und dass die Preisträger des Polar-Musikpreises der Königlich-Schwedischen Musikakademie Dietrich Fischer-Dieskau und Gilberto Gil heißen.

Besprochen werden die große Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, die Architektur und Skulptur aus der Perspektive des jeweils anderen besieht, eine Ausstellung mit propagandistischen Briefmarkenentwürfen aus der NS-Zeit im Bonner Haus des Bundesumweltministeriums, Mahlers Achte in Boston unter James Levines feurigem Dirigat, das Kölner "Kante"-Konzert mit Jazzkeller-Ambiente und zwei Bücher - Richard Bauschs Roman "Die Kannibalen" und Matthias Hardts Studie über die Schätze europäischer Herrscher.

FR, 27.10.2004

Ulrich Speck befragt den politischen Denker Michael Walzer, was er vom neuen Antisemitismus und der Israelfeindlichkeit des islamischen Fundamentalismus überhaupt hält. Die Selbstdarstellung der Palästinenser als permanente Opfer kommt Walzer jedenfalls fragwürdig vor. "Probieren wir es doch einmal mit einer etwas provokanten Analogie. Stellen wir uns vor, nach dem Zweiten Weltkrieg seien die deutschen Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei und aus Polen dauerhaft in Lagern untergebracht worden, weil man ihnen die Eingliederung verweigert hätte. Wenn diese Flüchtlinge dann über ein halbes Jahrhundert in Lagern gehalten worden wären: Wessen Opfer würden diese Flüchtlinge sein? In welchem Zustand würde sich deutsche Politik heute befinden? Wie wären die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen?"

Weiteres: Christoph Schröder erzählt, was Peter Esterhazy (mehr) auf seiner Lesung im Frankfurter Literaturhaus zu Frauen zu bemerken hatte. "Er wirkte entrückt und wie auf einer höheren Stufe des Lebens", flüstert Jamal Tuschik beim Auftritt Jose Samaragos in Frankfurt, Auftakt für seine deutschlandweite Lesereise. Auf der Medienseite berichtet Tilmann P. Gangloff von den Projekten deutscher Fernsehproduzenten, mit denen sie auch im Ausland reüssieren wollen.

Besprochen werden das zweite Album "Wir sind hier" des Popduos "März" ("Im Fußball spräche man von einer idealen Raumaufteilung", gluckst Klaus Walter), die Pariser Premiere von Jerome Bels neuem Stück "The Show must go on 2" im Centre Pompidou, eine "eingleisige" Ausstellung zu Alexej von Jawlensky und Emilie Ester "Galka" Scheyer in Wiesbaden, das Gastspiel der Berliner Zeitgenössischen Oper in der Komischen Oper mit Hans Zenders "Don Quijote" ("So recht will der Funke nicht überspringen", kommentiert Georg Friedrich-Kühn), die Dramatisierung von Jan Fabres Text "Ich bin Blut" im Wiesbadener Walhalla-Studio, das Abschlusskonzert der Kronberger Cello-Meisterkurse, eine Ausstellung der in Korea geborenen Künstlerin Haegue Yang im Landesmuseum Darmstadt und Volker Brauns Roman "Das unbesetzte Gebiet".

TAZ, 27.10.2004

Horst-Eberhard Richter (mehr) antwortet auf den Vorwurf Jan Philipp Reemtsmas (mehr), er beschönige die Gewalt der RAF und unternehme den Versuch einer "empathischen Eingemeindung der RAF in die Grundintentionen der pazifistischen Linken". Richter betont in seinem Beitrag zur anhaltenden Debatte, das Gespräch mit Beteiligten wie etwa Birgit Hogefeld zu suchen, bedeute keineswegs, ihre Taten schönzufärben. Und das Phänomen RAF müsste sehr wohl in gesellschaftlicher Perspektive gesehen werden. "Ein grundsätzlicher Dissens besteht darin, dass ich im Gegensatz zu Reemtsma den politischen Hintergrund der RAF für wichtig halte. Birgit Hogefeld und ihr Vater sind ein treffendes Beispiel, wie sich psychische Zerstörungen durch die Instrumentalisierung vieler Menschen unter der Hitlerdiktatur fortgeerbt haben, etwa durch unbewusste Übertragung von Hass- und Rachewünschen auf die folgende Generation."

Bernd Pickert bespricht "Verraten und verkauft", das neue Buch von Michael Moore, in dem eine Auswahl an Briefen veröffentlicht, die er von Soldaten erhalten hat. In Erwartung der üblichen Vorwürfe geht Pickert schon mal in Verteidigungsstellung. "Das neue Buch als irgendwie kitschigen Kommerz zu beschreiben, würde viel zu kurz greifen. Solche Briefe haben eine subversive Kraft, sie knüpfen bei den Vietnamveteranen an, die Ende der 60er-Jahre der Regierung ihre Orden um die Ohren warfen. Das Pathos, das in vielen Briefen und auch in Moores Einführung steckt, gehört zum US-amerikanischen Diskurs zwingend dazu."

In der zweiten taz beschreibt Martin Reichert anlässlich des Abgangs von Erwin Teufel die deutsche Variante der politischen Intrige. Henning Kober lässt sich melancholisch durch New Yorker Nächte tragen. Barbara Bollwahn verkündet, wie sie heldenhaft eine champagnergetränkte Promotionsreise an die Cote d'Azur ausschlug. "Fra" bietet Frankreich das Sarland an, um von dem zweiten Streich des "Amelie"-Teams verschont zu bleiben. Besprochen werden eine Ausstellung über echte und fiktive Kommissarinnen im Polizeidienst im Film- und Fernsehmuseum Berlin sowie Deerhoofs neues Album "Milk Man" (das sich für Andreas Merkel "wie schlecht geträumte Geschichten" anhört).

Und Tom.

SZ, 27.10.2004

Uwe Mattheis erklärt, wie man auch heutzutage erfolgreich Theater machen kann: Matthias Fontheim zum Beispiel hat das Theater Graz mit dem Ensemblekonzept aus dem Provinziellen geführt. "Kontinuierlich baute Fontheim ein hochkarätiges Ensemble auf, so dass der Wiener Standard befand, er habe 'Schauspieler wie Edelsteine zusammengetragen' und 'Lokalheroen zum Mitglitzern bewegt'. Statt zu Beginn 15 beschäftigt das Haus nun 27 Schauspieler. Eine solche Entwicklung gegen den Trend schafft für Fontheim langfristig so etwas wie Kundenbindung. Bei weitaus geringerem Budget als bei bundesdeutschen Landeshauptstadtbühnen üblich, rund acht Millionen Euro, macht das Haus aus guter Nachwuchsförderung eine Tugend."

Der Sozialanthropologe William O. Beeman sieht die amerikanischen Wähler in einem alten Dilemma gefangen: entweder werden die USA als einschüchternder Bully wahrgenommen, oder aber man gilt als Feigling. Diejenigen, die Ersteres verhindern wollen, sind gegen Bush. "Diejenigen, die fürchten, dass die USA als Feigling angesehen werden, sind gegen Senator Kerry. Sie halten Vereinbarungen, Koalitionen und Friedensstiftung für ungeeignete Antworten auf die Angriffe des 11. September und fürchten, dass Kerrys Zweifel am jetzigen Einsatz von Gewalt seine Unfähigkeit verbirgt, Gewalt in Zukunft angemessen einzusetzen. Amerikaner sind in ihrem Herzen immer noch Pioniere genug, um zu meinen, dass - wenn es bedrohlich wird - Angreifen dem Gespräch vorzuziehen ist. Erst schießen, dann reden. Und Amerikaner fürchten, dass diejenigen, die lieber Vorsicht walten lassen, das nur tun, weil sie in Wahrheit zu feige sind."

Weitere Artikel: Jürgen Berger spricht mit der Theaterautorin Theresia Walser, deren neues Stück "Wandernutten" in Stuttgart "unter plakativen Bildern erstickt" und deren "Kriegsberichterstatterin" in Konstanz einen Tag vor der Premiere abgesagt wurde. Werner Bloch schildert, wie Tadschikistan und Kirgisistan unter Rückgriff auf alte Musiktraditionen an einer neuen Identität arbeiten. Sonja Zekri preist eine russische Website, auf der der allmächtige Präsident Putin in täglich neuen Folgen als bauernschlauer und meist etwas verwirrter Wladimir Wladimirowitsch karikiert wird. Till Briegleb erklärt, was der russische Künstler Ilja Kabakov mit dem Projekt einer "Utopischen Stadt" für die Essener Zeche Zollverein bezweckt. Arno Orzessek kehrt von einer Neuhardenberger Tagung, die sich mit der Frage nach dem fehlenden Vertrauen in die Wirtschaft beschäftigte, ohne Antworten zurück. "ijo" berichtet von den Reformplänen des Goethe-Instituts, das seine Sprachschulen in Deutschland kundenorientierter gestalten möchte. Alex Rühle grübelt über den Sinn der Öffnung der Mozartschen Familiengruft nach.

Auf der Medienseite schildert Klaus Ott die politisch befeuerte Diskussion um den von einigen als übermäßig kritisierten Sportrechtekauf von ARD und ZDF. Kai-Hinrich Renner erforscht die Rolle von Uly Foerster bei der - Glückwunsch! - zehnjährigen Institution Spiegel-Online.

Besprochen werden Walter Salles Roadmovie "Die Reise des jungen Che" ("Die Aura von Che schließt den Film hermetisch ab", bemängelt Fritz Göttler), die Aufführung der Oper "Vatermord" des taiwanesisch-österreichischen Komponisten Shih in der Berliner Kammeroper, das Filmfest Viennale in Wien ("ein Kinofest des anderen Sehens", jubelt Hans Schifferle), ein Konzert der Geigerin Arabella Steinbacher mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg unter Leitung von Valery Gergiev in der Münchner Philharmonie, und Bücher, darunter Brigitte Oleschinskis Gedichtband "Geisterströmung", Rudolf Sievers' "ratloses" Erinnerungsbuch "1968 - Eine Enzyklopädie" sowie Melania Mazzuccos Roman "Vita", in dem sie von italienischen Auswanderern erzählt (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 27.10.2004

Die Münchner Maximilianstraße umarmt ihr soziogeografisches Gegenstück, den Hasenbergl - Silvia Stammen stellt "Bunnyhill" vor, ein Projekt der Münchner Kammerspiele, das zwei Monate lang als eigenständiger künstlerischer Staat agieren will. Klaus Englert porträtiert die deutsch-afghanische Architektin Zahra Breshna, die das Department for Preservation and Rehabilitation of Urban Heritage in Kabul leitet und sich gegen einen noch aus der Sowjetzeit stammenden und dementsprechend stalinistisch geprägten Masterplan zum Wiederaufbau zur Wehr setzen muss. Und Georges Waser kündigt eine Sotheby's-Spezialauktion an, bei der sogenannte "Oscariana" unter den Hammer kommen, darunter auch das Manuskript des 16. Kapitels von "The Picture of Dorian Gray".

Besprochen werden zweimal zeitgenössisches Musiktheater in Berlin (Kent Naganos und Peter Mussbachs "My Way of Life" an der Staatsoper, die retrospektiv Lebensstationen des verstorbenen Komponisten Toru Takemitsu zeigt, und eine Kurzfassung von Hans Zenders "Don Quijote de la Mancha" an der Komischen Oper), die Ausstellung "Kantormania" im Jüdischen Museum Hohenems und Bücher - Meir Shalevs wundersamer Roman "Fontanelle", der lang erwartete Band 1 von Hans-Albert Walters monumentaler Geschichte der deutschen Exilliteratur, Marcelo Birmajers hanebüchener Roman "Das argentinische Trio", Agota Kristofs autobiografische Exilchronik "L'Analphabete" und Ute Schneiders "Macht der Karten", eine Geschichte der Kartografie vom Mittelalter bis heute.