Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2004. Die Zeit sucht Sinn und Ökonomie nach fünfzehn Jahren deutscher Uneinheit. Der ukrainische Schriftsteller Andrij Bondar erklärt in der FAZ, warum seine Regierung panische Angst vor ihrem Volk hat. Die FR würde gern mal einen guten Film zum Untergang der alten Bundesrepublik sehen. Die taz beobachtet fassungslos fassungslose Amerikaner. Und die NZZ feiert den theologischer Liberalismus des John Locke.

Zeit, 28.10.2004

Wir haben heute nur wenige Artikel online gefunden. Liegt es an uns oder wird die Zeit knauserig?

Thomas E. Schmid macht sich fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall und im Jahr eins der ernsthaften Sozialstaatsreform auf die Such nach Sinn und Ökonomie in Deutschland: "Henry Kissinger hat einmal die alte Bundesrepublik 'eine Ökonomie auf der Suche nach einem Sinn' genannt. Man könnte rückschauend die DDR als einen Sinn auf der Suche nach einer Ökonomie bezeichnen. Vielleicht muss man diese Epoche des Herumsuchens in Erinnerung rufen, um sich die Schwierigkeiten heute vor Augen zu führen. Mit der Einheit wurde nämlich nichts 'gefunden'."

Weiteres: "Der 'Faust' ist zurück. Das beste Stück der Nation", jubelt Elisabeth von Thadden über die Inszenierungen von Jan Bosse und Michael Thalheimer. Christian Staats hat das Tagebucharchiv im baden- württembergischen Emmendingen besucht, das mehr als tausend Tagebücher, Memoiren und Briefwechsel aus ganz Deutschland aufbewahrt. Thomas Assheuer präsentiert in der Reihe "Rätselhaftes Amerika" all die selbstkritischen Intellektuellen, gegen die Michael Moore ein Waisenknabe ist. Der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal beschreibt seinen amerikanischen Albtraum so: "Die blutrünstigste Spielkarte in Alices Wunderland ist die Herzkönigin, die bei dem kleinsten Anzeichen von Ungehorsam gleich 'Runter mit dem Kopf!' ruft. Bush ist tief im Wunderland unterwegs, und die Königin ist sein Vorbild, denn er ruft unablässig: 'Ich will ihn, tot oder lebendig. Ich bin ein Cowboy und ein Kriegspräsident!'"

Claudia Herstatt berichtet, dass viele Antiquare nicht nachvollziehen können, mit welchem Aufwand die zerstörten oder beschädigten Bücher der Anna-Amalia-Bibliothek restauriert werden. "Es ist doch Schwachsinn, Bücher für den zehnfachen Preis dessen schlecht und recht herzurichten, für die man sie im Handel beschaffen kann", zitiert Herstatt etwa den Berliner Antiquar Wolfgang Braecklein. Ze do Rock findet übrigens "pizza" das "shönste wort von deutshe sprache".

Besprochen werden Walter Salles' Guevara-Film "Die Reise des jungen Che" ("Tolle Landschaften!") und eine großartigen Raffael-Ausstellung in der Londoner National Gallery.

Im Literaturteil spricht Gisela Dachs mit Amos Oz über seinen neuen Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", über die Technik, die eigenen Gene zu konsultieren, und über die Tragikomödie, voller Hoffnung in ein gelobtes Land einzuwandern: "Bald kommt Nostalgie auf für die alte Heimat, diese Gefühle werden zensiert. Die Menschen entdecken, dass die neue Heimat kein Paradies ist, und laden all ihr Gepäck auf die Schultern der nächsten Generation. Die Familie wird zum Cap Canaveral, das Kind die Rakete, die den Ehrgeiz der Familie zum Himmel tragen soll."

FAZ, 28.10.2004

"Jawohl, ich bin chronisch voreingenommen und nicht objektiv." Der ukrainische Schriftsteller Andrij Bondar erklärt, warum der Adrenalinspiegel in der Ukraine täglich ansteigt: Bald ist Wahl, und der Staat Angst hat vor seinen Bürgern. "Die Behörden haben Angst wie nie zuvor. Sie fürchten Menschen mit Transparenten, fürchten die 'Kastanienrevolution' (die Kastanie ist Kiews Wahrzeichen), fürchten freie und unabhängige Bürger. Sie fürchten Menschen, die keine Angst davor haben, frei zu sein. Die unterschwellige Angst des regimetreuen Kandidaten verriet sich in der unübertrefflichen Phrase: 'Ich glaube, kräftige und gesunde Menschen gibt es viel mehr als diese Ziegenböcke, die uns das Leben schwermachen!' Die Regierung erlaubt es sich, Millionen Angehörige des eigenen Volkes als 'Ziegenböcke' zu bezeichnen. Das bedeutet nur eins: Das Regime hat panische Angst vor den Menschen."

Katja Gelinski weist darauf hin, dass die anstehende Präsidentschaftswahl die politische Orientierung der USA weit über eine Amtszeit hinaus prägen wird. In der Tat seien einige der - auf Lebenszeit ernannten - Richter des Obersten US-Gerichtshofs sehr alt. Im Falle ihres Ablebens jedoch sei es Aufgabe des Präsidenten, einen Nachfolger zu bestimmen - der eigenen politischen Couleur, versteht sich.

Weitere Artikel: Nicht sonderlich erfreut zeigt sich "rtg" angesichts der Einbeziehung biometrischer Daten in den Reisepass. In seinem Nachruf würdigt Wolfgang Sandner den englischen Musikermacher John Peel als den Mann mit dem doppelten Prophetenbonus. Jörg Becker entdeckt auf einer Konferenz in Singapur die große weite Welt der asiatischen Comic-Kunst. Radovan Karadzic zeigt einmal mehr Massenwirkung: Sein jüngster Roman ist in Serbien heiß begehrt und die erste Auflage schon vergriffen, so die Meldung von "tens".

Filmisches: Andreas Kilb stellt fest, dass die Digitalisierung des Meinens auch die Meinungsbildung des Kinopublikums verändert. Der Erfolg von Webseiten wie rottentomatoes macht es deutlich: Nicht mehr die einzelne Filmkritik ist für den Kinogänger ausschlaggebend, sondern die Masse und ihr durchschnittliches Urteil. Hans-Jörg Rother beobachtet mit Bedauern, dass es mit den großen politischen Stoffen auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig vorbei zu sein scheint. "Du heißt doch Laurel?" "Ja, aber nur mütterlicherseits" - Entzückt meldet Jürgen Kaube den historischen Fund von "The Laurel-Hardy Murder Case", der erste von mindestens drei auf Deutsch gedrehten Stan-und-Ollie-Filmen. Und "kil" feiert das Erscheinen von Lars von Triers "Dogville" auf DVD.

Auf der letzten Seite schildert Zhou Derong Taiwans Erschütterung darüber, dass die USA eine jahrzehntelangen Politik der Ambiguität in den Wind geschlagen haben, indem sie China gegenüber erklärten, dass sie die taiwanesischen Unabhängigkeitsbestrebungen nicht unterstützen. Michael Gassmann porträtiert Bischof Renato Boccardo, den Reisemarschall des Papstes. Und Christian Schwägerl macht zwei Tendenzen im Streit um die Stammzellenforschung aus: "Eine begreift den technisch isolierten Embryo als eine kompakte Wissensquelle, die andere ihn als Rohstoff und mehr", als sogenannte "Plattformtechnologie".

Auf der Medienseite: Wie Nina Rehfeld berichtet, musste die Sinclair Broadcast Group aufgrund von massiven Protesten die Ausstrahlung einer Anti-Kerry-Dokumentation zurückziehen. Vera Görgen stellt die links-alternative Zeitschrift "Mother Jones" und ihren von den Mächtigen ungeliebten Enthüllungsjournalismus vor. Schließlich fesselt uns Melanie Mühl auf das Sofa, damit wir uns Nadya Derados Film "Yugotrip" ansehen.

Besprochen werden der Film "American Splendor", Shari Springer Bermans und Robert Pulcinis gewitztes filmisches Spiegelkabinett um Harvey Pekar als Kultfigur und Comic-Autor, eine Ausstellung der Karikaturen von Vater und Sohn Tiepolo in Venedig, die Ausstellung "Zukunft von Anfang an", mit der sich die Freie Universität Berlin als freidenkerische Avantgarde in Szene setzt, Siegfried Wagners Turbo-Oper "Der Heidenkönig" in Solingen, Paul Wellers großartiges Konzert im Kölner E-Werk, Pavel Brailas phantastische Video-Installtion "Barons' hill" in Regensburg, die mit "kleinen und kleinsten Effekte jenseits allen Geschmacks, vor allem des guten" aufwartet, und Bücher - Swetlana Geiers Auswahl russischer Literatur in sechs Bänden ("Russland lesen") und John Griesemers Roman "Niemand denkt an Grönland".

FR, 28.10.2004

"Die Ästhetisierung des Dritten Reiches kommt mal als große Oper, mal als böses Fernsehmärchen daher, zuletzt gar von der Sekretärin erzählt", schreibt Richard Wagner in einem klugen und fälligen Essay zur Lage der Nation. "Die DDR hingegen erscheint uns immerzu als Klamotte von Thomas Brussig und Leander Haussmann. Good bye ruft man ihr nach und hält es für einen Witz. Was aber ist mit der Bundesrepublik? Wenn es einen Untergang gibt, der unser Leben aus dem Lot bringen kann, dann doch wohl das Verschwinden der alten Bundesrepublik... Die Krise in der Autoindustrie vor Augen, das plötzliche Infragestellen des Kaufhauses rütteln wohl mehr an unserem Horizont als wir es zugeben wollen. Mit dem drohenden Verschwinden der Institutionen der Bundesrepublik sind wir, jenseits von Utopie und Anti-Utopie, zur einfachen Frage vorgestoßen: Wie kann es weiter gehen? Was werden die Kinder und Enkel der Geschlagenen aus der deutschen Gesellschaft diesseits von Staatsträumen machen, was können sie daraus machen?"

Weiteres: Burkhard Müller-Ullrich lästert über die Wahlhilfsversuche vergleichsweise junger europäischer Demokratien wie Deutschland oder Italien für die bereits seit über zweihundert Jahren demokratisch regierte USA. Christoph Schröder sinnt über die Geheimnisse des Erfolgs des Frankfurter Verlags Schöffling & Co. Adam Olschweski teilt uns schließlich in der Kolumne Times Mager mit, dass der Liedermacher an sich die Modeindustrie fertig und kaputt macht, weil ihm der Stil abhanden gekommen ist.

Besprochen werden die Ausstellung mit den Bewerbungen für den Turner-Preis in der Tate Britain, die Ausstellung "Im Garten von Max Liebermann" in der Alten Nationalgalerie Berlin, eine konzertante Aufführung der Oper "Der Heidenkönig" des als Komponist verkannten Wagner-Sohns Siegfried in Solingen, eins Corrs-Konzert in der Frankfurter Festhalle, das Tanzstück "Duos pour corps et instruments" der kanadischen Choreografin Daniele Desnoyers im Frankfurter Mousonturm und Bücher, darunter Enrique Vila-Matas' Roman "Risiken & Nebenwirkungen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 28.10.2004

Als Geschenk zum 300. Todestag beraubt Uwe Justus Wenzel den Philosophen John Locke einiger lästiger Etiketten. So sei Locke weder ein Prediger des bürgerlichen Verstands noch ein Denker des "Besitzindividualismus". Wirklich bedeutsam jedoch sei Lockes theologischer Liberalismus in der Form einer "paradox anmutenden Befreiung der Menschen, die sich ihrer Gotteskindschaft verdanke: Indem der Mensch Gott gehört, gehört er sich selbst; er kann und darf niemand anderem zu eigen sein, dem Staat nicht, der Krone nicht und auch einer absolutistisch sich gebärdenden Kirche nicht."

Desweiteren begrüßt Hanspeter Künzler die Neueinschätzung, die dem nigerianischen Saxophonisten Fela Kuti - der ein afrikanischer Bob Marley hätte werden können - zuteil wird. Und Christoph Fellmann amüsiert sich ein wenig über den "politischen Konsens in der amerikanischen Popszene". Denn: "Besteht die Pop-Dissidenz nicht eigentlich darin, den Chor der vielen zu meiden? In diesem Falle: die Welle des Protests lautstark zu ignorieren?"

Besprochen werden die Versailler Ausstellung des "Prinzen" der Pastellmalerei und "Seelendiebes" Maurice Quentin de La Tour (mehr hier), eine Ausstellung in Hamburg zum 75. Geburtstag von Peter Rühmkorf, zweimal Ernst Augustin, dessen Roman "Raumlicht: Der Fall Evelyne B." und Glossenband "Der Künzler und sein Werk" nahelegen, dass nomen omen ist, Hans Küngs erzieherische Geschichte des Islams und Gabriel Garcia Marquez' Schilderung einer Art mystischen Vereinigung im Bordell, "Memoria de mis putas tristes".

TAZ, 28.10.2004

Sebastian Moll schreibt von der Fassungslosigkeit us-amerikanischer Intellektueller über die politische Entwicklung der letzten vier Jahre. "Alarmierender und deprimierender als die mögliche Wiederwahl von George Bush sind für die amerikanische Intelligenz die kulturellen Prozesse, die das Phänomen Bush möglich gemacht haben. Amerika sei schon immer eine unsokratische, antiintellektuelle Kultur gewesen, sagt (der Bürgerrechtler Cornel) West, und habe sich vor jedweder selbstreflexiver Aktivität gescheut, die aufrüttelt und verstört. Es gebe kein Klima klarer politischer und sozialer Analyse, dafür jedoch eine Kultur der Verleugnung. Und die beute Bush schamlos aus: Bush kann ungestraft die bitteren wirtschaftlichen und sozialen Realitäten des Landes sowie die Realität seiner Außenpolitik verleugnen: 'Wo ist der Diskurs? Wo ist die Empörung?', fragt West. 'Sind wir eine Nation von Schlafwandlern geworden?'"

Weiteres: Thomas Winkler schreibt einen Nachruf auf den legendären Radio-DJ John Peel. Jan Brandt hat mit der Autorin Malin Schwerdtfeger über ihren neuen Roman "Delphi" gesprochen.

Besprochen werden Karim Ainouz Spielfilm "Madame Sata" und Walter Salles' Guevara-Film "Die Reise des jungen Che". In der tazzwei gibt es dazu ein langes Gespräch mit Salles.

Und wie immer Tom.



SZ, 28.10.2004

Die Aufregung um Äußerungen des designierten EU-Kommissars Rocco Buttiglione zu Homosexualität und der Rolle der Frau in der Ehe beleuchtet für den Münchner Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin einen Konflikt zweier normativer Ordnungen, nämlich der säkularen politischen Sphäre einerseits und der klerikalen spirituellen Sphäre andererseits: "Man kann für oder wider die Erlaubnis von islamisch motivierten Kopftüchern an öffentlichen Schulen sein, aber man kann Kopftücher nicht verbieten und dann unter Verweis auf die christliche Prägung unserer Kultur Nonnen in ihrer christlich motivierten Kleidung an öffentlichen Schulen unterrichten lassen. Die liberale Rechts- und Staatsordnung steht und fällt mit ihrer Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen. Zugleich verliert sie dort ihre Neutralität, wo ihre fundamentalen Normen mit weltanschaulich oder religiösen Normen kollidieren, wie etwa mit der katholischen Schulmeinung zu Ehe und Homosexualität."

Weiteres: Angela Köckritz schickt einen Bericht von der Architekturbiennale in Peking. Tobias Kniebe fasst anlässlich des Guevara-Filmes "Die Reise des jungen Che" Erinnerungen von Tochter Aleida an ihren Vater zusammen. "midt" hat sich ins Zauberreich jener semantischen Rätsel begeben, die uns die Service-Sprache der Deutschen Bundesbahn und anderer einschlägiger Unternehmen aufgibt, und sich an deren "künstlichen, im Labor erzeugten Pulveraromen eines gefriergetrockneten Erlebnisdeutschs" gelabt. Karl Bruckmeier verabschiedet den legendären BBC-DJ John Peel.

Lothar Müller berichtet, dass der Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner den ursprünglich eingeladenen französischen Bischof Jacques Gaillot die Teilnahme an einer Podiumsdiskussion zum Thema "Christsein im 3. Jahrtausend" verweigert hat, weil dieser zu Abtreibung, Homosexualität und Aids-Prävention Auffassungen vertritt, die von der Lehre der katholischen Kirche abweichen. Kim Basinger hat mit Patrick Roth über ihren neuen Film "The Door in the Floor" gesprochen. Mit kritischem Unterton geben Claudia Tieschky und Hans-Jürgen Jakobs auf der Medienseite zu Protokoll, wie sang- und klanglos die neue Eigentümerin der Frankfurter Rundschau, die SPD-Medienholding DDVG, in der Geschäftsführungen mit Jens Berendsen einen eigenen Mann installiert hat.

Besprochen werden eine Egon-Eiermann-Schau in der Städtischen Galerie Karlsruhe, Chantal Akermans Film "Demain on demenage", der neue Otto-Nina-Hagen-Film "7 Zwerge - Männer allein im Wald" ("wer sich nicht auskennt im deutschen Fernsehcomedy-Universum sollte davon unbedingt die Finger lassen" warnt Kritikerin Susan Vahabzadeh), Jessy Terreros Hip-Hop-Soul-Film "Soul Plane" und Bücher, darunter "Dr. Ankowitschs kleines Konversations-Lexikon" von Christian Ankowitsch (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).