Heute in den Feuilletons

Gerade süß genug

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2010. In der SZ antwortet  Thomas Ostermeier recht bitter auf Botho Strauß' Motzereien über jüngere Theatermacher. Die SZ stellt auch ein Kunstwerk vor, das Ai Weiwei ins Netz gestellt hat (und auf das wir verlinken). In der FAZ rechnet der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes mit der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung ab. Carta pfeift geistiges Eigentum.

Welt, 26.05.2010

Auf der Forumsseite erklärt Wolf Lepenies, warum das geplante Burka-Verbot in Frankreich auf parteiübergreifende Zustimmung stößt: "In den Beratungsprotokollen der Politikergruppe um den Kommunisten Andre Gerin findet sich eine Feststellung, die das Verbot der Burka wie zwangsläufig nach sich zieht: 'In der Republik zeigt man sein Gesicht.'"

Im Feuilleton macht Marko Martin angesichts der blutigen und "atavistischen Verteilungskämpfe" in Thailand Schluss mit der "schönen Mär von der zivilisierenden Zweckfreiheit des Hedonismus". Rüdiger Sturm beschreibt, wie Hollywood sein Monopol auf internationale Großproduktionen an Konkurrenten wie Frankreichs StudioCanal oder die Alnoor Holding aus Katar verliert. Marc Reichwein stellt das von Klemens Gaida konzipierte Tool Pinbooks vor, mit dem man Schauplätze von Büchern auf einer Google Map eintragen kann. Eckhard Fuhr verabschiedet den "Dirty Harry der deutschen Politik", Roland Koch.

Besprochen werden das Videospiel "Red Dead Redemption" und eine Ausstellung des Fotografen Daniel Josefsohn im Hamburger Kunstverein.

FR, 26.05.2010

Die Goethe-Institute, denen es nach der großen Strukturreform wieder gut ging, müssen jetzt zehn Millionen Euro einsparen, berichtet Harry Nutt. Thomas Winkler bereitet uns auf das Berliner Konzert von Jack Whites Band "Dead Weather" vor. In Times Mager teilt Arno Widmann seine Ängste vor dem Großvaterwerden, das ihm nächsten Dienstag bevorsteht.

Und im Nachruf auf die Sopranistin Anneliese Rothenberger empfiehlt Arno Widmann, sich die Ohren zu putzen und ihre CDs zu hören: "Natürlich ist Anneliese Rothenbergers Martha eine der ergreifendsten Aufnahmen. Nicht nur, weil Fritz Wunderlich ihr Partner ist. Und da haben die Operettenfans von Youtube vollkommen recht, ihr 'Lippen schweigen' aus Lehars 'Lustiger Witwe' mit Nicolai Gedda ist 'the sweetest version'. Das war ein Argument gegen Anneliese Rothenberger. Damals. Aber wir sind alt und friedliebend geworden und liebessehnsüchtig, und da ist uns die süßeste Version gerade süß genug."



Daniel Kothenschulte berichtet online, dass der iranische Filmemacher Jafar Panahi frei ist. Panahi war im März festgenommen worden, weil er einen Film über die grüne Revolutionsbewegung machen wollte. Das Filmfestival in Cannes hatte noch einmal auf sein Schicksal aufmerksam gemacht, indem es ihn zum Mitglied der Jury ernannt hatte und seinen Platz während der Filmfestspiele demonstrativ leer ließ.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Design von Alessi in der Münchner Pinakothek der Moderne, ein Diaghilew-Abend beim Wolfsburger "Movimentos"-Festival und eine Shimon-Peres-Biografie von Tamar Amar-Dahl (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 26.05.2010

Felix Neumann sagt auf Carta in einer Reflexion über ein Urheberrecht, das sich an den Bedürfnissen der Öffentlichkeit orientiert, ein paar einfache Wahrheiten über das, was andere "Geistiges Eigentum" nennen: "Sobald ein Werk in die Öffentlichkeit gegeben wird, kann es keine absolute Werkherrschaft mehr darüber geben. Egal, was das positive Recht sagt: Die Melodien werden gesummt, die Gedichte zitiert. Es passt zur Natur des Immaterialguts und es liegt in der Natur des Menschen, Kontexte und Bezüge herzustellen, darüber zu reden, Kultur nicht nur zu konsumieren, sondern zu produzieren und weiterzuentwickeln. Eine Gesetzeslage, die das verbieten möchte, ist illegitim."

NZZ, 26.05.2010

Dirk Pilz blickt zurück auf das diesjährige Berliner Theatertreffen, welches eine "bemerkenswert beliebige" Auswahl von Stücken zu Finanz-, Wirtschafts- und Wertekrise bot. Meist erging es dem Theaterbesucher so wie in Karin Beiers Kölner Adaption von Ettore Scolas Film "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen": "Der Zuschauer beobachtet 15 als Armutszombies kostümierte Schauspieler hinter dicken Glasscheiben, deren Schreien, Weinen, Lachen man nur hören kann, wenn sie kurzzeitig ihren Verhau verlassen. Der Zuschauer erfährt hier einmal mehr, dass auch in jeder noch so selbstkritischen, vermeintlich aufgeklärten Seele ein Voyeur lauert. Ob damit das verlogene Mitleid mit einer Unterschicht kritisch vorgeführt oder bedient wird, ob hier also Sozialpornografie betrieben oder diese kritisiert wird, bleibt dezidiert offen."

Außerdem: Alfred Zimmerlin berichtet überschwänglich von den Robert Schumann gewidmeten "Ittinger Pfingstkonzerten 2010" mit Heinz Hollinger und Andras Schiff. Marcus Stäbler fragt sich nach der Deutschland-Premiere von Christoph Schlingensiefs Stück "Via Intolleranza II", wann genau er etwas ernst meint - allerdings nicht, ohne sich zu amüsieren. Und Joachim Günter freut sich über die kleine, aber feine Ausstellung "Deutscher Geist. Ein amerikanischer Traum" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach.

Besprochen werden außerdem Bücher, darunter Sabine Mainbergers Studie "Experiment Linie" und Richard Flanagans Tasmanien-Roman "Mathinna" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 26.05.2010

In der Reihe über die Zukunft der Musikkritik erzählt Sonja Eisenmann von ihren Erfahrungen beim Unterrichten von Popkultur: "Neulich wurde ich in einem Proseminar zum Thema 'Third Wave Feminism' von einer Studentin gefragt, was Popkultur denn eigentlich genau sei - vielleicht eine Epoche?"

Besprochen werden Christoph Schlingensiefs in Hamburg aufgeführtes Stück "Via Intolleranza II" über das Scheitern seiner Operndorf-Pläne in Burkina Faso, Sven Johnes fotoliterarische Ausstellung "Berichte zwischen Morgen und Grauen" im Frankfurter Kunstverein und Daniyal Mueenuddins Debütroman (Leseprobe) "Andere Räume, andere Träume" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem: Auf der Meinungsseite hält Ilija Trojanow fest, dass es der deutschen Rüstungsindustrie aufgrund der Waffenexporte nach Griechenland und Südafrika unwahrscheinlich gut geht. In tazzwei berichtet Cigdem Akyol über islamfeindliche Bürgerbewegungen in Deutschland.

Und Tom.

SZ, 26.05.2010

Neulich hat Botho Strauß in einer Laudatio auf Jutta Lampe etwas kraftlos über das jüngere Theater gemotzt - der Text war in der FAZ abgedruckt. Der heutige Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier antwortet in der SZ nicht ohne Bitterkeit: "Das bezeichnende Phänomen ist: Diese Generation hat keine Söhne. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Unmut, den Botho Strauß über die heutige Theaterlandschaft ausgießt, vor allen Dingen die Enkelgeneration betrifft. Die Generation ihrer Söhne haben sie weggebissen, und die Rede von Botho Strauß stellt für mich den verzweifelten Versuch dar, jetzt auch noch in unserer Generation Gift zu verspritzen."

Henrik Bork stellt ein Kunstwerk vor, das Ai Weiwei ins Netz gestellt hat. Eltern verlesen die Namen ihrer Kinder, die beim Erdbeben von 2008 in mangelhaft konstruierten Schulen ums Leben kamen: "Das Verlesen eines Namens, die Aufnahme dieser Lesung auf einem Tonträger, ihre Umwandlung in eine Audiodatei und das Versenden dieser Datei an den Künstler seien ein kleines Stück 'Aktionskunst', auf das die Menschen stolz seien und das sie anrühre, sagt Ai Weiwei."

Weitere Artikel: Volker Breidecker vefolgte ein Symposion über die argentinische Literatur in Brüssel, mit dem der Buchmessenschwerpunkt dieses Jahres vorbereitet wurde. Jens Malte Fischer schreibt zum Tod von Anneliese Rothenberger. Gunnar Herrmann berichtet, dass aus Ingmar Bergmans Anwesen auf der Insel Faro eine Erinnerungsstätte gemacht werden soll.

Bsprochen werden eine Ausstellung des Designers Dieter Rams in Frankfurt, eine "Walküre" in Hannover, Ereignisse der Tage Alter Musik in Regensburg und Bücher, darunter Stefan Rinkes Studie " Revolutionen in Lateinamerika - Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 26.05.2010

Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes rechnet ab mit der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung, die bislang ihre Bankenfreundlichkeit mit Kulturkampfrhetorik zu überspielen verstanden habe. In der Krise gebe Zapatero nun aber jedem Druck nach: "Ihm blieb keine andere Wahl, als dem spanischen Parlament die neue Lage zu verkünden in der Sprache, die die Märkte verstehen: Wie einige Zeitungen schrieben, stellte er Änderungsanträge gegen sein gesamtes Konzept, was nach den Regeln der spanischen Parlamentspolitik einen Misstrauensantrag gegen sich selbst bedeuten würde. Während er sprach, hatte er das traurige Gesicht eines Selbstmörders."

Weitere Artikel: Petra Gehrig beschreibt aus philosophischer Sicht die neuesten Forschungen des Craig Venter: "Venter schafft nicht Leben, sondern etwas Neues, bakterienartige Formen, die es bislang nicht gab." Christian Geyer ruft dem aus seinen Ämtern scheidenden "Hardliner" Roland Koch keine sonderlich freundlichen Worte nach. Vom Machtkampf um die Hoheit über die Intellektuellen-Stammtische zwischen den Philosophen Michel Onfray (mehr) und Bernard-Henri Levy (mehr) berichtet Jürg Altwegg. Martin Otto hat eine Tagung zur Bundespräsenz im geteilten Berlin besucht. In der Glosse plädiert Jürgen Kaube dafür, den neuen HU-Präsidenten Jan-Hendrik Olbertz nicht an seinen sozialistischen Qualifikationsarbeiten, sondern an seinen hochschulpolitischen Taten zu messen. Kaube schreibt auch zum Tod des Autors und "Unterhaltungsmathematikers" Martin Gardner. Der Nachruf auf die Sopranistin Anneliese Rothenberger, die zum Fernsehstar "abstieg", hat Jürgen Kesting verfasst.

Auf der DVD-Seite hat sich Michael Althen das Wiedersehen (auf Blu-Ray) mit "Doktor Schiwago" etwas anders vorgestellt: "Das ist natürlich von einem nicht unbeträchtlichen epischen Atem, aber schon auch von einer bemerkenswerten Schlichtheit." Zum Erweichen von Steinen kann Andreas Platthaus Lasse Hallströms Richard-Gere- und Hunde-Film "Hachiko" warm empfehlen. Ebenfalls gesichtet wurde J.T. Pettys John-Ford-Umkehrung "The Burrowers". Bert Rebhandl blickt zurück auf das bisherige Werk des neuerdings palmengeehrten Apichatpong Weerasethakul.

Besprochen werden das Beethoven-Zyklus-Abschlusskonzert des von Marek Janowski dirigierten Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin ("es wurde gepfiffen, getrampelt, gejohlt", weiß Jan Brachmann aus der Philharmonie zu berichten), Michael Grandages Opern-Inszenierungs-Debüt mit Benjamin Brittens "Billy Budd" in Glyndebourne, die Dieter-Rams-Ausstellung "Less and More" im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, die bei geschlossenen Türen, aber offenen Schaufenstern stattfindende Ausstellung "Wystawa" in Warschau und Bücher, darunter Milena Mosers neuer Roman "Möchtegern" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).