Im Kino

Andere Bilder gibt es immer

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
20.05.2015. Gleich zweimal erinnert sich das Kino diese Woche an die alte Bundesrepublik: Jean-Gabriel Périots "Une jeunesse allemande" sucht nach filmischen Spuren von Studentenprotesten und linksradikalem Terror, "B-Movie" von Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange rekonstruiert subkulturelle Szenen der 1980er.

"Ist es möglich, heutzutage in Deutschland Filme zu machen?" - Das ist eine außergewöhnliche Eingangsfrage für einen Film, der sich mit der linksradikalen Studentenbewegung der 1960er und deren terroristischen Ausläufern in den 1970ern beschäftigt. Naheliegend ist sie allerdings schon deshalb, weil Jean-Gabriel Périot seinen Film "Une jeunesse allemande" komplett aus vorgefundenem Material und hauptsächlich aus westdeutschen Filmen und Fernsehbeiträgen der 1960er und 1970er Jahre montiert. Die Eingangsfrage wird zum Beispiel von Jean-Luc Godard gestellt, in einem Ausschnitt aus Hellmuth Costards "Der Kleine Godard an das Kuratorium Junger Deutscher Film". Eine weitere Rechtfertigung erhält sie dadurch, dass die 1965 gegründete Berliner Filmhochschule dffb, wo der erhoffte Aufstand gegen Staat und Kapital schon einmal im Aufstand gegen die Studienleitung erprobt wurde, in den ersten Jahren ihres Bestehens zu einem Sammelbecken linker Aktivisten wurde. Ein paar Jahre lang erkundeten die kleinen, westdeutschen Godards Möglichkeiten und Grenzen des politischen Kinos, bevor sich zwei von ihnen - Holger Meins und Philip Werner Sauber - terroristischen Gruppen im Untergrund anschlossen.

Une jeunesse allemande - wenn damit nicht nur eine aus allen Bildern synthetisierte überindividuelle, sondern auch eine einzelne, individuelle deutsche Jugend gemeint ist, dann die Ulrike Meinhofs. Den ersten Teil des Films dominieren - neben schönen Ausschnitten aus frühen dffb-Filmen wie Carlos Bustamantes grandios radikalem "Green Beret" - Meinhofs Arbeiten fürs Fernsehen, zum einen ihre kurzen Reportagen etwa über Arbeitsschutz, zum anderen ihre Auftritte in Talkshows. Da legt sie geduldig und nicht ohne Humor ihre Positionen dar, in Gesprächen, die nicht unbedingt "auf Augenhöhe" geführt werden (worauf sie selbst mehrmals hinweist), aber die doch immerhin ein wechselseitiges Interesse der Gesprächspartner aneinander beweisen, einen kommunikativen Raum, und damit einen demokratischen Diskurs hervor bringen. In diesen Archivbildern kann man nachfühlen, was für eine wichtige Figur Meinhof damals war, weil es ihr gelungen war, sich als emanzipatorisch-aufgeklärte Linke, aber auch als junge Frau in den sonst eher bürokratisch Thema nach Thema abarbeitenden öffentlich-rechtlichen Männerrunden Gehör zu verschaffen.

Meinhof bricht das Gespräch, dessen wichtiger Teil sie ist, schließlich von sich aus ab, verzichtet selbst auf ihr Rederecht im öffentlichen Gespräch (eine Spur, die sich leider, in Périots Film wie in der historischen Wirklichkeit, im Nichts verliert, stellt ihr Fernsehfilm "Bambule" dar, den man als ihren Versuch betrachten kann, ihre Stimme weiterzugeben, an andere Frauen, die nicht so geschliffen wie sie, aber dafür in rauhem Berliner Dialekt, die Welt und die Männer herausfordern). Meinhofs Weg in den Untergrund wird durch ein Schwarzbild und einen längeren Monolog aus dem Off markiert. Im restlichen Film gibt es nur noch die monoton und in jeder Hinsicht isoliert vor sich hin dozierende Meinhof-Stimme auf der einen und den auf Fahndungsplakaten und in sensationalistischen Fernsehreportagen objektivierten Meinhof-Körper auf der anderen Seite. Eine zweite biografische Spur durch den Film legt Horst Mahler, ein anderer, deutlich opportunistischerer Medienprofi, der die Öffentlichkeit von Anfang an eher instrumentalisiert, als dass er sich auf sie einlassen würde.


Das alles ist natürlich zuerst einmal nur Périots Rekonstruktion; was aber lediglich heißt: es hätte auch andere Bilder gegeben. Zum Beispiel hätte es Bilder der Opfer der Terroristen gegeben, oder, auf der anderen Seite, Bilder jener polizieilichen Repression und sozialen Missstände, auf die Meinhof in ihren journalistischen Arbeiten hinwies. Aber ein solcher Vorwurf führt nicht weit: Andere Bilder gibt es immer. Man kann Périot in jedem Fall zugute halten, dass seine Montage (in die gelegentlich auch nicht ganz so naheliegendes Material einfließt, aus Aktenzeichen XY beispielsweise, oder aus Antonionis "Zabriskie Point") alle denunziatorischen Tricks, wie überhaupt alles billig Rhetorische vermeidet. Es geht ihm nicht um nachträgliche Schuldzuweisungen, ums Nachtreten, noch weniger ums nachträgliche Idealisieren oder Entschuldigen, sondern darum, die verstreuten Zeugnissen lesbar zu machen als Gesellschaftsbilder, die auf etwas Gemeinsames bezogen sind. (Und natürlich geht es auch um die Schönheit von Archivmaterial, um jenen Moment in Renate Samis "Es stirbt allerdings ein jeder" zum Beispiel, in dem Günter Peter Straschek seinen Erinnerungsmonolog kurz unterbricht, um auf die Katze hinzuweisen, die sich auf seinem Gartentisch niedergelassen hat. Oder auch um die Schönheit von historischen Sendelogos und Talkshow-Intros.)

Das Gemeinsame, das Périot findet, ist nicht Protest und Terror, sondern der Begriff von Öffentlichkeit, der sich im Umgang mit Protest und Terror schärft. In den spielerischen Erstlingswerken der jungen dffb-Regisseure, in Meinhofs aufklärerischem Ethos, aber auch in den entschleunigten, unaufgeregten Talk-Formaten des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens der 1960er Jahre beginnt eine junge, fast direkt aus der Barbarei heraus gegründete Demokratie mit erstaunlicher Offenheit über sich selbst nachzudenken; diese dialogischen und wenigstens einigermaßen pluralistischen Reflexionsprozesse reduzieren sich nach "68 in Windeseile auf polizeistaatliche Verlautbarungen (als besonders stählern erweist sich in der historischen Rückschau Helmut Schmidt) auf der einen und die empathiebefreiten Automatismen der Militanz auf der anderen Seite. Kommunikation gibt es höchstens noch im Sinne von: Franz-Josef Strauss poltert - der CSU-Parteitag applaudiert. Geschichte reduziert sich (auch in Périots immer atemloserer Montage) auf Ereignisgeschichte, auf Aktion und Reaktion. Ganz am Ende öffnet sich, in zwei Ausschnitten aus Rainer Werner Fassbinders Beitrag zum Omnibusfilm "Deutschland im Herbst", doch noch einmal ein Reflektionsraum, der freilich nicht mehr um eine Gruppe widerständiger, kreativer Citoyens herum strukturiert ist, sondern um ein vereinzeltes, nackt seinen Fernseher anschreiendes Künstlersubjekt.

Lukas Foerster

Une jeunesse allemande - Eine deutsche Jugend - Schweiz, Frankreich, Deutschland 2015 - Regie: Jean-Gabriel Périot - Laufzeit: 92 Minuten.

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Die von Punk, Industrial und artverwandten Spielarten geprägte Subkultur der 1980er Jahre bleibt auch weiterhin ein ertragreicher Nährboden - nicht nur für die damaligen Protagonisten, die von ihrem biografischen Kapital bis heute mal mehr, mal weniger zehren, sondern auch für die Zweitauswertung dieser in der alten BRD wichtigen und transformierenden Phase der Popkultur in Form zahlreicher Bücher, Radiohörspiele und -features, Spielfilme und Dokumentationen. Auch der zum großen Teil ziemlich ungebrochen nostalgisch schwelgende Dokumentarfilm "B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989" reiht sich in diese Reihe von Rückschauen ein, besticht aber durch seine strikt subjektive Perspektive, die das Geschehen von vornherein ins sanft Exotische schiebt: Denn Mark Reeder, um dessen Erfahrungen es geht, ist nicht nur ein vom Punk her kommender Uniformfetischist, sondern auch Brite, der im Manchester der 70er mit Krautrock und der "Kosmischen Musik" in Berührung kommt und sich in diesen Sounds ein fantastisches Abbruch-Deutschland erträumt, das er schließlich im abrissreifen Kreuzberg der späten 70er und 80er Jahre auch tatsächlich findet, sodass er kurzerhand einfach dableibt: Die apokalyptisch-nihilistische, aber keineswegs spaßbefreite Subkultur als von Ferne erträumtes Fantasieland, das auf Jahre hin nichts als Abenteuer, Spaß und zynischen Humor verspricht.

In diesem Ruinenparadies ist Reeder fortan Szenegänger: Er treibt sich bei Blixa Bargeld im "Risiko" genauso herum, wie er später in den Splatterfilmen von Jörg Buttgereit als Darsteller auftaucht, geht in Norbert "Der wahre Heino" Hähnels "Scheißladen" Tapes kaufen, holt Joy Division nach Berlin, erlebt im SO36 ausufernde Konzerte, während in der Nachbarschaft heute als Kult gehandelte Filme entstehen (ob nun Carl Schenkels "Kalt wie Eis" oder Andrzej Żuławskis "Possession"), managt und produziert Bands, fährt seine Uniformen durch Kreuzberg auf dem Rad spazieren, zieht mit britischen Fernsehteams durchs West-Berliner Nachtleben, besucht Ost-Berlin ("ein Disneyland für Depressive", wie er schwärmt) und tanzt 1989 auf der allerersten, nur von ein paar verstrahlten Verpeilos besuchten Loveparade, die in Gestus und Ästhetik den dadaistischeren Spielarten des Punk-Undergrounds noch näher steht als dem heutigen Hochleistungs-Rave der McFit-Generation. Als die Mauer bröckelt und Kreuzberg mit einem Mal nicht mehr vergessen am Stadtrand liegt, sondern mitten im Stadtzentrum, gründet er das Trance-Label MFS - da mündet die in den alten unsanierten Freiräumen zwischen Nonsense, Weltuntergang und fröhlicher Drastik munter experimentierende Subkultur ein ins Partyjahrzehnt der 90er, dem kurzen Sommer der Post-Histoire. Zu den bizarrsten Artefakten, die "B-Movie" im reichen Angebot hat, zählt ein früher Auftritt des Ex-Punks und späteren Techno-Superstars Westbam an genau dieser subkulturellen Scharnierstelle.


Irgendeine Kamera lief offenbar immer mit, sodass Reeder aus einem reichhaltigen audiovisuellen Archiv schöpfen kann (fiktionale Szenen etwa aus Buttgereits "Nekromantik 2" werden nonchalant biografisch inkorporiert), das er hier mit einem manchmal vielleicht etwas zu sehr auf beschaulich getrimmten Voiceover verdichtet. Schon wegen der Überfülle an Material lohnt der Film, aber eben auch wegen des subjektiven Zugriffs auf eine Zeit, die - das belegt "B-Movie" eindrucksvoll - eben tatsächlich nach Strich und Faden verloren und vergangen ist: Nicht nur ist Kreuzberg heute längst ein durchsaniertes, sonniges Latte-Macchiato-Paradies für Besserverdienende, auch bilden die heutigen Partyexzesse der Easy-Jet-Raver im Kiez zwischen Falckenstein- und Warschauer Straße kaum noch Momente widerständiger Kultur, sondern sind ein in der Wirtschaftsbilanz der Stadt fest einkalkulierter Faktor.

Schön an "B-Movie" ist der strikt hedonistische Gestus: Mensch, war das toll, war das frei. Hier erinnert sich einer an die tollste Zeit seines Lebens - sicher mit ein bisschen Verklärung, aber doch, anders als die meisten Rückblicke dieser Art, ohne die nervige "naja, wir waren halt die coolsten"-Rhetorik, die aus dem Mund heutiger Kulturbetriebs-Etablierter rasch dünkelhaft wirkt. Hier erzählt nicht Opa vom Krieg oder der guten alten Zeit - vielmehr ist der Lebensfreude dieses Films stets anzumerken, dass die Person dahinter eigentlich jedem Menschen wünscht, selbst einmal ein solches lebensweltliches High zu erleben. Sehr sympathisch.

Schön ist der Film auch wegen einer zweiten Facette: Manchester, von wo aus die Reise nach Berlin geht, ist Ende der 70er die vielleicht hässlichste Stadt der Welt. Der kaputte Osten des alten West-Berlins steht dem kaum nach. Es ist vielleicht gerade diese Tristesse - neben den günstigen Mieten und den letzten Geschenken eines umhegenden Sozialstaats kurz vor dessen Abglimmphase -, die die Leute zur anarchischen, mit viel Lebens- und Spielfreude über alle Stränge schlagenden Kunst treibt. Gegen bessere Wohnverhältnisse ist wenig zu sagen, aber man wird doch den Gedanken nicht los, dass der satte neo-kleinbürgerliche Bionade-Biedermeier, der sich heute hinter lachsfarben gestrichenen Fassaden eingerichtet hat, schlicht keine Substanz mehr für große Sprünge bietet.

Thomas Groh

B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979-1989 - Deutschland 2015 - Regie: Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck, Heiko Lange - Laufzeit: 91 Minuten.

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Außerdem diese Woche neu: "Güeros" von Alonso Ruizpalacios. Hier unsere Kritik von der Berlinale 2014.