Im Kino

Ans Leder wollen

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Nikolaus Perneczky
24.11.2021. Vor den majestätischen Bergen Montanas verstrickt Jane Campion in ihrem finsteren Spätwestern "The Power of the Dog" Kirsten Dunst, Benedict Cumberbatch und Kodi Smit-McPhee in einem Netz fataler Sehnsüchte. Hans Steinbichler erzählt in der Rita-Falk-Verfilmung "Hannes" von einer wildwüchsigen Liebe in Oberbayern.

Jane Campion kehrt nach über einem Jahrzehnt der Kinoabstinenz und des Fernsehexils ("Top of the Lake") mit dem finsteren Spätwestern "The Power of the Dog" zurück, in dem Benedict Cumberbatch als fies-verklemmter Rancher Phil Burbank das Leben seiner Schwägerin Rose (Kirsten Dunst) zur Hölle macht. Genauso abrupt wie Phils einfach gestrickter Bruder George ihr den Antrag macht, findet Rose sich auf dem herrschaftlichen Anwesen wieder, wo Phil und George - umgeben von Kühen, zwei Bediensteten und einem Haufen ledergestiefelter Cowboys - ein ziemlich düsteres Dasein fristen, und stört sofort den repressiven Hausfrieden, den der Bully Phil mit eiserner Hand verwaltet.
 
Aber Phil ist mehr als nur ein Bully. Sein Zorn, so wird sich herausstellen, rührt von einem tief sitzenden Verlust, erschwert noch durch sein Unvermögen, diesen zu betrauern. Der Rest scheint vorprogrammiert: Die Zeichen stehen auf Konfrontation, Eskalation und - wahrscheinlich - Erlösung. Am Ende des Tunnels, wie es im Pressetext einigermaßen missverständlich heißt, erwartet uns "die Möglichkeit von Liebe". Aber das - spoiler alert! - sind alles falsche Fährten. Campions Drehbuch, basierend auf dem gleichnamigen Roman des revisionistischen Westernautors Thomas Savage, zeichnet vom Leben beschädigte Figuren, die unsere Anteilnahme erheischen, ohne unbedingt unsere Sympathie zu wecken. Der Plot spielt ständig mit Erwartungen. Destabilisiert werden neben genrespezifischen Vorannahmen immer auch gesellschaftliche Vorurteile. Die Verteilung von Täter- und Opferschaft etwa wird erst verunklart, dann verkehrt und am Ende womöglich ganz aufgehoben. Was bleibt ist ein düsteres Tableau psychosozialer Verstrickung; Menschen, die nicht aus ihrer Haut können. Nicht umsonst wird das Fell, das Phil und seine Mannen den Rindern buchstäblich über die Ohren ziehen, zu einer zentralen Bildmetapher. In unterschiedlichen Bearbeitungszuständen wandert es sich den Film und wird zuletzt zum Angelpunkt für einen Plot-Twist, der auf keine Kuhhaut geht.


Das angedeutete Dreieck wird bald durch eine vierte Figur entgrenzt. Rose hat einen Sohn namens Peter, er ist der Erzähler des Films, verschwindet aber sogleich aus seiner Erzählung, erst ins Internat und dann ins Studium der Medizin, um jäh wieder aufzutauchen, wenn er der Burbank-Ranch in den Semesterferien einen Besuch abstattet. Kodi Smit-McPhee spielt Peter als ungelenke, exzentrische Bohnenstange, deren weirdness sich in jeder Einstellung vom majestätischen Westernhintergrund abhebt. Prompt wird der schlaksige junge Mann mit den weißen Turnschuhen zum Gespött der harten, ledrigen Männer. Unmöglich nicht Anteil zu nehmen am Geschick dieses sissy boy, unausweichlich der Gedanke, man würde sich vor dem Hintergrund der blauen Berge von Montana (gedreht in Aotearoa-Neuseeland) ebenso lächerlich ausnehmen. Zugleich jedoch verdichten sich Indizien, dass sich unter Peters harmloser Erscheinung noch etwas anderes verbirgt. Ein Hase, den er seiner alkoholkranken Mutter als Gefährten anbietet, landet in der nächsten Szene auf dem Seziertisch. Fürs Studium, sagt er, aber die Beunruhigung über das Chirurgische in Peters Blick auf die Welt bleibt.


Und dann entwickelt sich, wider Erwarten, so etwas wie Freundschaft zwischen dem weirden Medizinstudenten und dem boshaften Rancher: ein rätselhaftes Band, das seine sinnfällige Gestalt in einem Seil findet, welches Phil für Peter aus Lederstreifen anfertigt. Dass Rose diese Entwicklung mit Unbehagen zur Kenntnis nimmt, können wir ihr nicht verübeln: Jonny Greenwoods penetranter Score lässt uns keine Sekunde vergessen, dass es unter der Oberfläche dissonant brodelt. Überwältigende Gefühle, die weder einbekannt noch ausgesprochen werden können, entladen sich in hochtourig geschauspielerten Wutausbrüchen von Benedict Cumberbatch, die nicht immer zu überzeugen wissen, oder werden von Campion in beredte Gesten und taktile Bilder transformiert: Hände, die über lederne Sattel, Riemen und Handschuhe gleiten und das Unsagbare fühlbar machen. Die Flanke eines trabenden Pferds in Großaufnahme wird zum Tastbild eines anders nicht fasslichen Begehrens: "What my fingers knew", wie Vivian Sobchack es in ihrem gleichnamigen Essay über Campions Film "Das Piano"beschrieben hat. In diesen taktilen Passagen bringt Campion die fatale Befangenheit ihrer Westernwelt so wirkungsvoll auf die Leinwand, dass der von langer Hand geplante Plot-Twist, in dem alles kulminieren muss, einen schalen Nachgeschmack hinterlässt: statt des Schreckens ohne Ende, ein Ende mit Schrecken.

Nikolaus Perneczky

The Power of the Dog - GB, Australien 2021 - Regie: Jane Campion - Darsteller: Benedict Cumberbatch, Jesse Plemons, Kodi Smit-McPhee, Kirsten Dunst, Sean Keenan - Laufzeit: 126 Minuten.

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"Du Depp" grummelt Hannes (Johannes Nussbaum). Weil Moritz (Leonard Scheicher) sein Motorrad nicht repariert hat, muss sein bester Freund ihm mal wieder aus der Patsche helfen. Die beiden sind ein eingespieltes Team. Mit einem nachgeschobenen Schmunzeln stellt Hannes klar, dass der Diss nicht so gemeint war. An Moritz' verlegenem Lächeln sehen wir, dass ihm das eh klar ist.

Die beiden 19-jährigen aus Hans Steinbichlers neuem Film sind zwar am selben Tag geboren, könnten ansonsten aber nicht unterschiedlicher sein. Während der blondgelockte Hannes der Hübschere, Beliebtere und Entschlossenere ist, krebst Moritz unsicher und ziellos vor sich hin. Aber das ist egal, weil sich die beiden wie Topf und Deckel ergänzen. Als Hannes jedoch nach einem Motorradunfall, an dem sein Kumpel nicht ganz unschuldig ist, ins Koma fällt, bricht für Moritz eine Welt zusammen. Eng kuschelt er sich im Krankenbett an den Schwerverletzten und lässt erst von ihm ab, als ihn ein jovialer Heiner Lauterbach als Oberarzt ("junger Freund") nach Hause schickt. Dort sieht er sich eine Liebeserklärung an, die Hannes für seine Freundin gefilmt hat, und es wirkt in diesem Augenblick, als wäre sie an Moritz gerichtet.

Basierend auf einem Roman der für ihre Eberhofer-Krimis bekannten Rita Falk erzählt "Hannes" zumindest teilweise eine Liebesgeschichte. Die beiden Jungs sind unzertrennlich, werfen sich ständig lange, durchdringende Blicke zu und träumen von einem gemeinsamen Trip zum Kap Hoorn. So wie sich die beiden in einer Übergangsphase zwischen Jugend und Erwachsensein befinden, so hat ihre Freundschaft etwas Bedingungsloses und Leidenschaftliches, das noch nicht von der Routine des Berufslebens oder heterosexueller Familienplanung gezähmt wurde. Das Schöne an dieser wildwüchsigen Liebe ist, dass sie nicht klar definiert ist.


Getragen wird der Film vor allem von Hauptdarsteller Leonard Scheicher, der häufig aussieht, als würde er mit seinem Körper fremdeln und von der Wucht der eigenen Gefühle überfordert sein. Mal wirkt er fahrig und unbeholfen, dann wieder zerbrechlich und verträumt. Wie mehrere der Darsteller spricht er manchmal ein seltsam überartikuliertes Synchronsprecher-Deutsch, am tollsten ist aber ohnehin die ständige Unruhe in seinem Gesicht. Kaum hat er Hannes jungenhaft triezend den müffelnden Schweiß aus seiner Achsel ins Gesicht gewedelt, wirft er ihm schon wieder einen hoffnungslos ergebenen Blick zu.

Schleicher bringt etwas Spielerisches und Unberechenbares in dieses manchmal etwas glatte und schematische Coming-of-Age-Melodram über Schuldbewältigung und die holprige Suche nach dem eigenen Lebensweg. Mit erbaulicher Musik, smoothen Schärfeverlagerungen und Drohnenaufnahmen monumentaler oberbayerischer Berge gibt sich "Hannes" einem Pathos hin, das gut zum inneren Aufruhr seines romantischen, manchmal vielleicht etwas zu braven Helden passt.

Moritz' Zerrissenheit schlägt sich in der Story nieder. Zwar glaubt der Junge unerschütterlich daran, dass Hannes eines Tages wieder aufwachen wird, beginnt aber gleichzeitig ein anderes Leben. Er schneidet sich die langen Haare ab, übernimmt Hannes' Job in einer katholischen Heilanstalt und wird mit Versuchungen jenseits der bewährten Freundschaft konfrontiert. Der Film zersplittert ins Episodenhafte, entwickelt aber mitunter einen schönen, lustbetonten Drive. Moritz bandelt mit einer Ärztin an (Verena Altenberger als fleischgewordene MILF-Fantasie im hautengen Mini), lässt sich im Tablettenrausch von einer Patientin im Seniorenalter verführen (Hannelore Elsner, gewohnt entrückt, in ihrer letzten Rolle) und träumt sich dann doch wieder zum "schönsten Tag" seines Lebens zurück: einem lässigen Badeausflug, bei dem Hannes mit entblößtem Gemächt zum Zigarettenkaufen nach Italien fährt und einer jungen Tankwartin ein euphorisches "che bello!" entlockt.

Es steckt viel Schönes in solchen impulsiven, frivolen und albernen Momenten. Leider versucht Steinbichler gegen Ende wieder mehr Ordnung ins sympathische Gerümpel zu bringen. Emotionen spitzen sich in lichtdurchfluteten Bildern zu, Konflikte lösen sich in Versöhnlichkeit auf und der Kreislauf des Lebens schließt sich. Dennoch bleibt etwas von der ungebändigten Energie, die den Film in seinen besten Momenten auszeichnet. Moritz verändert sich zwar, wird aber nicht so wie Hannes, kein Macher, der genau weiß was er will und sowieso niemand, dessen Entwicklung schon abgeschlossen ist. Erfahrung, Traurigkeit und Erwartung bringen am Ende einen neuen Menschen hervor, der jedoch, wenn der Abspann einsetzt, noch angenehm unfertig wirkt.

Michael Kienzl

Hannes - Deutschland 2021 - Regie: Hans Steinbichler - Darsteller: Johannes Nussbaum, Verena Altenberger, Hannelore Elsner, Leonard Scheicher, Heiner Lauterbach - Laufzeit: 91 Minuten.