Im Kino

Die Welt, in der das Böse einbricht

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
21.05.2013. Nach Berlin hatte Claude Lanzmann auch in Cannes einen großen Auftritt: allerdings mit einem neuen Film, in dem er - mit Material, das er in den Siebzigern drehte - den Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein porträtiert und die Frage nach der Rolle der Judenräte stellt. Außerdem zeigen die Coen-Brüder den traurigsten (und lustigsten) Loser seit langem und Alex van Warmerdam den Horror als Normalität.
An die vierzig Jahre lagen die Filmaufnahmen irgendwo bei Claude Lanzmann im Schrank. Der Mann kommt auf die Bühne des Salle Débussy in Cannes und es ist faszinierend zu beobachten, wie er sich sogleich dieses Saals bemächtigt. Selbst den nicht eben uneitlen Thierry Frémaux, den Direktor des Festivals stellt Lanzmann erst einmal buchstäblich an den Bühnenrand. Dann sagt Lanzmann, was gesagt werden muss, unter anderem, wie er, älter werdend, zu dem Schluss kam, dass die alten Aufnahmen unbedingt gezeigt werden mussten.

Drei Stunden und 38 Minuten später kann man dem alten Mann (Lanzmann ist 87, kommt aber viril, fast kraftstrotzend daher) nur zustimmen. Gerade hat man sich noch gefragt, wie ein derart präsenter Mensch auch ein so erfolgreicher Interviewer sein kann, einer also, der sich zurücknimmt, zuhört, das Urteil zurückhält. Doch wenn dann Rabbi Benjamin Murmelstein auf der Leinwand erscheint, Lanzmanns Gesprächspartner von 1975, weiß man, dass Lanzmann ein ebenbürtiges Gegenüber gefunden hat. Murmelstein war der Judenälteste im Lager Theresienstadt, er nahm von Adolf Eichmann die Instruktionen entgegen. Nach dem Krieg wurde er als Kollaborateur verurteilt, später zog er sich bis zu seinem Tod 1989 unglücklich nach Rom zurück, weil ihm in Israel, dem Land seiner Träume, die Todesstrafe drohte. Davon, ob Murmelstein ein Judenretter war, ein willfähriges Werkzeug der Nazis beim Holocaust oder einfach nur eine tragische Figur der Weltgeschichte, davon handelt "Les dernier des Injustes", "Der letzte der Ungerechten", Lanzmanns neuer Film, der am Sonntag Abend in Cannes vor erlesenem Publikum außer Konkurrenz Premiere hatte: Kulturministerin Aurélie Filipetti war angereist, Valérie Trierweiler, die Prémière Dame und Lebensgefährtin des Präsidenten sowie die Crème der französischen und internationalen Filmszene.

Lanzmann gelingt es, die Frage zu beantworten, ohne sie eindeutig zu beantworten. Aber erst einmal schaut man atemlos zu, wie sich Murmelstein auf seiner römischen Terrasse mit seiner Mischung aus Eitelkeit, urdeutschem Pflichtbewusstsein, Wiener Geschmeidigkeit und Charme an die Frage annähert, sich von ihr entfernt, wie er verführt, verklärt, reflektiert, redet, wie ein Wasserfall. Überraschenderweise vergleicht sich Murmelstein selbst mit Scheherazade, jener Erzählerin aus 1001 Nacht, die erzählte, um der Vernichtung zu entgehen und ebendies führt er im Interview mit Lanzmann dann vor. Jetzt redet er, um der Vernichtung durch das Urteil Lanzmanns und der Öffentlichkeit zu entgehen. "Ein Judenältester nach dem Krieg ist wie ein Dinosaurus auf der Autobahn", sagt er. Am Ende sieht man Lanzmann den scharfen Inquisitor, den neutralen Befrager, den Anwalt der Öffentlichkeit, wie er Murmelstein vor dem Capitol in Rom umarmt, nicht, als wollte er ihm Absolution geben, aber als wollte er ihm ein wenig von seiner Verstrickung abnehmen.

So viel menschliches Drama, so viel Tragik, solche Unentrinnbarkeit muss einem fiktionalen Film in Cannes erst einmal gelingen. Das Filmfest lässt auch in diesem Jahr wieder erkennen, wie sehr es - ähnlich wie seine Konkurrenten - um seine Stellung und Rolle kämpft. Bizarr ist es zu sehen, wie selbst ein Filmemacher wie Lanzmann im Konkurrenzkampf der Filmfeste eingesetzt wird: Die Berlinale ehrte Lanzmann im Februar mit dem Goldenen Ehrenbären, vielleicht auch in der Hoffnung, den Murmelstein-Film zu bekommen, musste sich dann aber mit einer restaurierten Fassung von Lanzmanns epochemachendem Werk "Shoah" begnügen. Das lässt Frémaux jetzt in Cannes umso mehr auftrumpfen. Lanzmann kann es recht sein, wird er halt zweimal gefeiert. Und Cannes? Mit jedem der großen Namen, die hier versammelt sind - Coen-Brüder, Ozon, Polanski, Soderbergh, Sorrentino, Jarmusch - demonstriert das Festival an der Côte d'Azur seine Überlegenheit, aber ebenso seine Schwäche. Frémaux ist eben darauf angewiesen, dass die Altmeister noch liefern, das Festival hat sich abhängig gemacht vom europäischen Autoren- und amerikanischen Independent-Kino, die beide in der wirtschaftlichen und streckenweise auch künstlerischen Krise stecken. Das Wettbewerbsprogramm ist vollgestopft mit französischen und amerikanischen Produktionen. Filme aus Osteuropa, Südamerika, abgesehen von Ausnahmen auch Asien: Fehlanzeige. Und das sind die Weltregionen, in denen auch im Kino Neues passiert.

Vorerst aber liefern die Altmeister, jedenfalls, soweit es sich um die Coen-Brüder handelt. Das Regieduo ("True Grit") erschafft in "Inside Llewyn Davis" den zugleich sympathischsten und hoffnungslosesten Loser der jüngeren Filmgeschichte und ein Lehrstück darüber, wie unergründlich die Faktoren für künstlerischen Erfolg sind. Teenieschwarm Justin Timberlake, im Film in einer tragenden Nebenrolle zu sehen, fasst es in der Pressekonferenz so: "Ich war oft am richtigen Ort mit den falschen Leuten und ebenso oft am falschen Ort mit den richtigen Leuten". Das zweite sei für seinen Durchbruch definitiv nützlicher gewesen. Mit anderen Worten: Man weiß es nicht. Nichts scheint das Drama des Llewyn Davis auf den ersten Blick mit dem des Benjamin Murmelstein zu tun zu haben - denkt man, bis auf der Pressekonferenz ein deutscher Fernsehjournalist aufsteht und fragt, ob es sich bei dem Coen-Film nicht um jenen jüdischen Humor handelt, der mit dem Holocaust verschwunden sei. "Ich weiß nicht, wie ich da jetzt rauskomme", stöhnt Joel Coen. Dann übernimmt der Musikproduzent T Bone Burnett, der die atmosphärisch-dichten Folk-Klänge im Coen-Film verantwortet. "Solche Sachen macht Ihr in Deutschland, Tagungen über jüdischen Humor?," fragt er verwundert. Das sei doch eine schöne Sache. Das hat zwar nichts mehr mit dem Film zu tun, aber man wird daran denken, als Murmelstein auf der Leinwand erscheint, ein Mann, der eine echte Lücke spürt. "So wirkt sich das Fehlen des Ostjudentums auf der ganzen Welt klimatisch aus", beschreibt er es. Der Humor der Coens dagegen, ist einfach Humor, der gar nicht die Frage aufwirft, warum derlei sonst fehlt.




Auch Alex van Warmerdam, der holländische Theater- und Filmregisseur, der vor über zwanzig Jahren mit "Noorderlingen" von sich reden machte, wollte eine humorvolle Geschichte erzählen. Es ist dann aber doch eher ein Horrorfilm der subtilen Art geworden, als sei der Holländer der sanftmütige Bruder von Lars von Trier. Cannes-Stammgast von Trier darf ja seit seinen Nazi-Provokationen vor zwei Jahren nicht mehr an die Côte d'Azur (sonst wäre er womöglich mit seinem neuen Werk "Nymphomatic" mit Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle gekommen). Aber in van Warmerdam hat das Festival fast interessanteren Ersatz gefunden. Er zeigt, wie sich langsam und freundlich das Böse in das Mittelschichtidyll von Richard und Marina einnistet und zwar in Form des sympathischen und geschäftigen Camiel, der den Schrecken organisiert wie eine mittelständische Firma. "Ich wollte das Böse in Form von normalen Menschen zeigen, nicht irgendwelche Zombies oder abseitige Figuren, sondern Leute, die man im Supermarkt trifft". Ohne jedes Schreckensbild zeigt der Holländer den Horror als untergründigen Bewohner der normalen Umwelt. Dabei zuzusehen verlangt schon deshalb atemlose Aufmerksamkeit, weil die Welt, in der das Böse einbricht, so streng und gerade gebaut ist, dass man ihren Zusammenbruch fast wünscht. "Borgman" hat hier kaum Chancen auf einen Preis, zeigt aber, dass auch unter widrigen Umständen noch Neues um die Ecke kommen kann.

Ansonsten stützt sich Cannes auf die Filmikonen oder andersherum. Das wird manchmal tatsächlich greifbar: Als Claude Lanzmann die Bühne verlässt, will Festivalchef Frémaux den alten Herrn geleiten und bietet seinen Arm. Lanzmann lehnt ab, begibt sich hinter Frémaux und lehnt sich auf dessen Schultern, als dieser die Treppe herunterschreitet. Beide grinsen, aber der Regisseur etwas mehr.

Lutz Meier