Im Kino

Diese fast manische Energie

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti
01.03.2018. Nicht die Reinheit des Genres zählt im Hongkongkino, sondern dessen lustvolle Überschreitung. Das kann man ab sofort im Berliner Arsenal Kino überprüfen, wo heute abend mit Li Han Hsiangs Opernfilm "The Love Eterne" die Filmreihe "Splendid Isolation: Hong Kong Cinema 1949-1997" eröffnet. Eine kleine Einführung des Kuratorenteams "The Canine Condition".

Intimate Confessions of a Chinese Courtesan, 1972

Die Reihe zum Hongkongkino war für uns schon lange, bevor wir die Möglichkeit erhalten haben, sie zu realisieren, ein Traumprojekt. Uns war von Anfang an klar, dass es, wenn man versucht, fünf Jahrzehnte Filmgeschichte Hongkongs in einer einzigen Filmreihe unterzubringen, nicht um Vollständigkeit in auch nur irgendeinem Sinn gehen kann. Wir haben denn auch gar nicht erst versucht, alle Aspekte dieses Kinos in unserer Auswahl unterzubringen. Kenner werden schon gemerkt haben, dass einige sehr bekannte Namen fehlen. Wichtig war uns stattdessen, dass in der Auswahl der Filme das sichtbar wird, was uns und viele andere am Hongkongkino begeistert: das Überbordende, Spektakuläre, Exzessive an ihm, die unglaubliche, fast manische Energie, die diese Filme zu durchströmen scheint. Und zwar nicht nur einige wenige, herausragende Leuchttürme, sondern wirklich fast die gesamte Produktion. Unsere Reihe will nicht einfach nur ein Stück Filmgeschichte rekonstruieren, sondern auch noch einmal die Euphorie nachfühlen lassen, die in den 1990er Jahren eine VHS-Kassette von einem Film wie Ringo Lams "Full Contact" oder Benny Chans "A Moment of Romance" auslösen konnte. Jetzt haben wir und ab heute auch Sie die Möglichkeit, diese Filme und viele mehr im Berliner Arsenal Kino auf der großen Leinwand zu sehen, allesamt als 35mm-Kopien, die wir aus Archiven in aller Welt eingeflogen haben.

Das Hongkongkino als etwas unverwechselbar Eigenes entsteht in den 1950er und 1960er Jahren. Ein einschneidendes Ereignis ist das Ende des chinesischen Bürgerkriegs und die Gründung der Volksrepublik China 1949. Unter den zahlreichen Flüchtlingen und Migranten, die in dieser Zeit aus dem Mainland ausreisen und in der britischen Kronkolonie Unterschlupf suchen, sind auch viele jener Regisseure, die das Hongkongkino später entscheidend prägen werden, wie etwa King Hu, Chang Cheh oder Li Han Hsiang. Gleichzeitig entsteht, vor allem in den 1960er Jahren, im Zuge eines wirtschaftlichen Aufschwungs eine eigenständige kulturelle Identität, die mit den britischen Kolonialherren genauso wenig zu tun haben möchte wie mit dem kommunistischen Experiment im Nachbarland. Das Kino hat daran einen wesentlichen Anteil.


Full Contact, 1992

Viele der Geschichten, die das Hongkongkino erzählt, entstammen chinesischen Erzähltraditionen wie der Wuxia-Literatur oder der Huangmei-Oper. Der Film des heutigen Abends zum Beispiel beruht auf der Erzählung "Schmetterlingsliebe", einem Klassiker der chinesischen Literatur. Der Unternehmergeist von Produzenten wie den legendären Shaw Brothers sorgt jedoch dafür, dass diese Stoffe an die Bedürfnisse eines modernen Massenpublikums angepasst werden: Nicht nationale, sondern popkulturelle Mythen sind Währung des Hongkongkinos. In vergleichsweise kurzer Zeit entsteht in der Stadt eine der vitalsten und produktivsten Filmindustrien der Welt. Die Studios können ihre Filme direkt vor Ort, am heimischen Markt testen, und anschließend ins Ausland verkaufen, vor allem nach Südostasien, wo die Hongkong-Produktionen sich immenser Beliebtheit erfreuen. Insbesondere in den frühen 1990ern kennt der Filmboom keine Grenzen, pro Jahr entstehen über 200 Filme, das sind drei- bis viermal so viel wie damals in Deutschland gedreht wurden. Das beste daran: Fast alle sind super.

Unsere Reihe endet Mitte der 1990er Jahre. Die Übergabe Hongkongs an China im Jahr 1997 hat sich rückblickend auch filmhistorisch als ein entscheidender Einschnitt erwiesen. Nicht, weil heute in Hongkong keine interessanten Filme mehr entstehen würden - wenn auch in weitaus geringerer Anzahl als in den 1980er und 1990er Jahren. Sondern weil das Hongkongkino seine doppelte Autonomie, gegenüber dem Einfluss Chinas und gegenüber dem von Hollywood dominierten Rest der Kulturindustrie, aufgeben musste. Inzwischen ist es weitgehend in einem panchinesischen Kino aufgegangen, in dem sich nicht nur ideologische, sondern auch ästhetische Verhärtungen breitmachen.


Dreadnaught, 1981

Also noch einmal zurück zu den goldenen Jahren. Ein Anliegen der Reihe ist es, die Vielseitigkeit dieses Kinos abzubilden, von dem in Europa, wenn überhaupt, immer nur Ausschnitte wahrgenommen werden. Und zwar konzentriert sich der Kult ums Hongkongkino, so er denn noch existiert, vor allem auf Actionfilme, ob nun wuxia, Kung Fu oder heroic bloodshed. Weil die Dynamik, filmtechnische Finesse und emotionale Wucht des Hongkong-Bewegungskinos in der Tat weltweit seinesgleichen sucht, nimmt es auch in unserer Auswahl einen großen Raum ein: Ungefähr die Hälfte der Filme, die Sie in den nächsten Wochen sehen können, sind, im engeren oder weiteren Sinne, Actionfilme. Das Spektrum reicht von den klassischen Wuxia-Epen King Hus und Chang Chehs über die atemberaubende Körperakrobatik in Kung-Fu-Meisterwerken wie "Dirty Ho" und "Dreadnaught" bis hin zu Filmen wie "Long Arm of the Law" oder "Full Contact", die sich mit Haut und Haaren in die Asozialität der rauhen Großstadtgegenwart stürzen. Besonders angetan haben es uns bei den Sichtungen die zahlreichen wagemutigen Frauen in diesen Filmen. Zu einer Zeit, da Frauen in westlichen Actionfilmen selten mehr waren als schmückendes Beiwerk und love interest, gehörten Schauspielerinnen wie Cheng Pei Pei und Lily Ho in Hongkong ganz selbstverständlich zu den größten Actionstars im Filmgeschäft.


Szene aus Li Han Hsiangs "The Love Eterne", mit dem die Filmreihe heute abend eröffnet

Daneben können Sie in den nächsten Wochen aber auch ganz andere Filme entdecken: Musikfilme, Melodramen, Komödien und Horrorfilme sind ebenfalls seit Jahrzehnten integraler Teil des Hongkongkinos. Unsere Reihe zeigt nicht nur herausragende Produktionen aus allen diesen Genres, sie lässt vor allem auch nachvollziehen, dass das Entscheidende im Hongkongkino nicht die Reinheit des Genres ist, sondern dessen lustvolle Überschreitung. Nicht nur das Hongkongkino selbst ist vielfältig, jeder einzelne Film trägt in sich ganz unterschiedliche Tonarten und Stimmungen, die sich oft im Minutentakt abwechseln. Das zeigt auch der Film, mit dem die Reihe heute abend eröffnet: Li Han Hsiangs "The Love Eterne", ein Opernfilm, gefilmt in den Studios der Shaw Brothers, mit wundervollem Produktionsdesign, der als genderfluide Komödie beginnt und als weltverschlingendes Melodram endet. So etwas ist, wie sie in den kommenden Wochen hier im Arsenal sehen können, im Hongkongkino nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

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Die Reihe "Splendid Isolation - Hong Kong Cinema 1949-1997" läuft vom 1. bis 28. März im Berliner Kino Arsenal. Die Reihe wurde kuratiert von der Gruppe "The Canine Condition" (Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke und Cecilia Valenti) in Zusammenarbeit mit Lorenzo Berardelli. Sie wird präsentiert in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen und gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds und das Hong Kong Economic and Trade Office in Berlin.