Im Kino

Ein dreifacher Wirbelwind

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
01.08.2012. Im Animationsfilm "Merida - Legende der Highlands" von Brenda Chapman und Mark Andrews sieht nicht nur der rote Haarschopf der Hauptfigur atemberaubend gut aus. In Gérald Hustache-Mathieus "Who killed Marilyn?" beginnt ein Schriftsteller im kältesten Dorf Frankreichs eine Romanze mit einer Toten.

Da hat (mindestens) ein CGI-Künstler sein Meisterwerk geschaffen: Der rote Haarschopf von Prinzessin Merida, der Hauptfigur des neuen Pixar-Animationsfilms "Merida - Legende der Highlands", ist eine wahre Augenweide. Hunderte knallrote, gelockte Stähnen, eine widerborstiger als die nächste, legen sich um das freche, jugendliche Gesicht und fügen sich zu einer voluminösen, kaum zu bändigenden Mähne, die in ständiger Transformation begriffen ist, von jeder Bewegung durchschüttelt, vom Wind durchwühlt wird.

Das rote Haarwunder ist nur eine unter zahllosen visuellen Attraktionen, die der Film bereit hält. "Merida" sieht selbst für Pixar-Verhältnisse atemberaubend gut aus, von den vielseitigen Naturpanoramen bis zu den kleinsten Details in der Einrichtung des mittelalterlichen Schlosses (angesiedelt ist der Film in Schottland, sieht man "Merida" in der Originalfassung, kann man auch den entsprechenden Akzent bewundern), in dem weite Teile des Films spielen; auch die Integration menschlicher Protagonisten in die animierte Umgebung funktioniert in diesem Fall problemlos, das Figurendesign trifft das richtige Maß an Verfremdung und stürzt nicht ab ins uncanny valley. Die schönsten Szenen sind wilde Erkundungsfahrten, die die Welt des Films jenseits aller narrativen Notwendigkeiten erschließen, meist entlang der Streiche, die Meridas drei kleine, gleichfalls rothaarige Brüder ihren Mitmenschen spielen: ein dreifacher Wirbelwind, dem auf die Dauer nichts standhält und der den digitalen Texturen ihren Hang zum Ornamentalen austreibt, ihnen eine sympathische Instabilität hinzufügt.

Hält man sich an die Handlung, dann sind Meridas wilde und doch exakt am Computer berechnete Haare eine Metapher für die Unbeugsamkeit Meridas, eine Metapher, die ihrerseits gelegentlich etwas zu exakt berechnet erscheint. Es geht um das Aufbegehren der Tochter gegen die Tradition, die eher von der liebenden, aber strengen Mutter, als vom tölpelhaften, überdimensionierten Vater verkörpert wird. Merida soll der Staatsräson gemäß verheiratet werden, doch die drei Kandidaten machen nicht gerade Werbung für das Konzept der vermittelten Ehe. Der Ausbruchsversuch Meridas geht allerdings gründlich daneben und mündet in ausführlichem Mutter-Tochter-bonding. Letzten Endes geht es um die Art von reformistischer Emanzipation, die nicht von der Familie weg, sondern wieder zu ihr zurück führt; die sich deshalb aber noch lange nicht selbst durchstreicht. Meridas Verlangen danach, Herrin übers eigene Schicksal zu werden, ist ein weitaus ehrenwerteres als das Verlangen nach Selbstunterwerfung unter einen kulturindustriell vermittelten Spieltrieb in den "Toy Story"-Filmen.


Merida ist, darauf wird seit der ersten Ankündigung des Films immer wieder hingewiesen, und das macht in der Tat einen nicht geringen Teil seines nicht geringen Reizes aus, die erste weibliche Hauptfigur einer abendfüllenden Pixar-Produktion. Und lange sah es so aus, als würde "Merida" gleichzeitig der erste von einer Frau inszenierte Pixar-Film werden. Im Lauf der Produktion kam es zum Streit zwischen der Regisseurin Brenda Chapman und den Studiobossen, Mark Andrews übernahm das Projekt, im fertigen Film teilen sich die beiden den director's credit. Vielleicht hat es mit derartigen Schwierigkeiten in der Produktion zu tun, dass sich "Merida" bei aller Schönheit im Detail im großen Ganzen nicht immer ganz rund anfühlt.

Genauer gesagt hat man manchmal das Gefühl, dass in diesem schönen Animationsfilm ein noch viel schönerer versteckt liegt, der keinen Platz bekommen hat, sich zu entfalten. Es gibt Andeutungen, in welche Richtungen sich die prinzipiell äußerst interessante Welt der mittelalterlichen schottischen Highlands entfalten könnte: in Richtung einer mythischen Vergangenheit zum Beispiel, in der das Menschliche und das Tierische noch wie selbstverständlich nebeneinander existierten (in der Gegenwart wird genau das zum Problem). Oder in Richtung anderer Fürstenhäuser; oder in die Natur hinein, in den Zauberwald, der das Schloss umschließt und Geheimnisse verbirgt, an die sich der Film nicht so recht heranzutrauen scheint. Statt dessen macht sich "Merida" am Ende doch wieder ein wenig zu sehr mit der tumben Weltsicht des Schlossherrn, des Vaters, gemein: mit zunehmender Laufzeit häufen sich die Verfolgungsjagden, und wenn das größte verfügbare Ungetüm besiegt ist, wird schon alles irgendwie seine Richtigkeit haben.

Lukas Foerster

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Es ist vielleicht kein Zufall, dass einen das eingeschneite Mouthe (das "kälteste Dorf Frankreichs", wie man erfährt) an "Fargo" von den Coen-Brüdern erinnert, insbesondere, wenn der reichlich ausgebrannt wirkende Krimiautor David Rousseau (Jean-Paul Rouve) im Umland mit seinem Wagen Runden dreht. Eigentlich ist er nur hierher gekommen, um eine vermeintlich große Erbschaft in Empfang zu nehmen, die sich als ausgestopfter Hund entpuppt. Gut fügt sich, dass während seines nur kurz geplanten Aufenthalts eine Leiche aus dem Schnee gezogen wird: Die Dorfberühmtheit Candice Lecoeur (Sophie Quinton), Werbeikone für den lokalen Feinschmeckerkäse und laszive Wetterfrau des Regionalsenders, soll sich im Wald mit einer Überdosis Tabletten das Leben genommen haben. Da Rousseau ohnehin keine Ideen für einen neuen Roman hat, bleibt er kurzerhand hier und versucht, der Sache auf den Grund zu gehen.

In einem Polizisten niederen Rangs findet Rousseau einen Verbündeten, der der offiziellen Selbstmordgeschichte ebenfalls nicht ganz traut. Nach einem Einbruch in Candice' Wohnung schmökert er sich durch deren gesammelte Tagebücher und verfällt der Frau dabei mit Haut und Haar: In seiner Vorstellung (und in vielen Rückblenden) wird aus dem Provinzküken eine französische Marilyn Monroe, ein fragiles Wesen, das nach der großen Welt greift, um in ihr schlussendlich unterzugehen, eine Affäre mit einem Kennedy-esken Lokalpolitiker inklusive. Die Romanrecherche wird zur Obsession, eine traurige Liebesgeschichte über die Grenzen zwischen Leben und Tod hinweg, die ein "Ich liebe Dich" nur im nachträglich erhaltenen Brief gestattet.


"Poupoupido" lautet der Originaltitel des Films. Aus Marketingperspektive mag das nicht so reizvoll klingen wie der Verleihtitel "Who killed Marilyn?", doch markiert er einen zentralen Aspekt des Films: Die Überschreibung einer Geschichte mit einer anderen. An die Stelle des legendär gehauchten "Poupoupido" der Monroe setzt sich am Ende der gleichlautende Titel von Rousseaus Roman, der wiederum im Titel des Films aufgeht, der, wenn man so will, nicht nur die (durch die Lektüre der Tagebücher geprägte) Entstehung des Buchs-im-Film schildert, sondern womöglich auch schon dessen Verfilmung darstellt. Ähnlich informiert hier auch eine von den Mythologemen des Monroe-Tods gespeiste Blaupause den Hinterwäldler-Krimi, in dem selbst noch Monroes "Happy Birthday, Mr President" seinen Platz findet.

Eine Bowling-Szene erinnert an den zweiten großen Coen-Film der 90er, "The Big Lebowski". Auch das ist wahrscheinlich kein Zufall, auch hier greift das Prinzip der Überschreibung: Mit den skurrilen Marotten der Dorfbewohner (der Dorfdepp sitzt zuweilen schon mal im Baum und schreit seine Gelüste nach einer Frau in die Welt), dem Motiv des abgeranzten Retro-Motels, seiner Vermittlung von Welt (die hier, wie in "Twin Peaks", mit dem Provinzdorf identisch scheint) anhand popkultureller Referenzpunkte arbeitet Gérald Hustache-Mathieus Film an einem Transfer des postmodernen US-Indiethrillers Marke Coen ins französische Hinterland. Als Alternative zur skandinavischen Schwermut, die das Krimigenre zuletzt beherrschte, ist das schon zu gebrauchen, auch ansonsten ist der Film - für das, was er im Sinn hat - hübsch kurzweilig; obwohl er einem andererseits stets vor Augen führt, dass die Blütezeit des postmodernen Unterhaltungsfilms, der sich keck auf die Spitze der Geschichte setzt und sich deren Fragmente als Material anverwandelt, auch schon wieder bald 20 Jahre her und damit selbst historisierbar ist.

Thomas Groh

Merida - Legende der Highlands - USA 2012 - Originaltitel: Merida - Legende der Highlands - Regie:Mark Andrews, Brenda Chapman - Darsteller: (Stimmen) Nora Tschirner, Monica Bielenstein, Bernd Rumpf, Tilo Schmitz, Marianne Groß - Länge: 94 min.

Who killed Marilyn? - Frankreich 2011 - Originaltitel: Poupoupidou - Regie: Gérald Hustache-Mathieu - Darsteller: Jean-Paul Rouve, Sophie Quinton, Guillaume Gouix, Olivier Rabourdin, Clara Ponsot, Arsinée Khanjian, Eric Ruf, Lyes Salem - Länge: 102 min.