Im Kino

Endgültig im Graubereich

Die Filmkolumne. Von Andrey Arnold, Janis El-Bira
18.03.2015. Trotz lustvollen Zuspitzungen mag einem in Benoît Jacquots Melodram "3 Herzen" nicht so recht das Herz brechen. Ausgesprochen österreichisch geht es in "Das ewige Leben" zu, Wolfgang Murnbergers inzwischen vierter Wolf-Haas-Verfilmung.


Unter provenzalischer Sonne kreuzen Liebe und Zufall bekanntlich besonders gern die Wege. In "3 Herzen" kollidieren sie allerdings direkt frontal und das bei durchgetretenem Gaspedal. Schon die Eingangssequenz legt alle Zutaten für einen post-romantischen Totalschaden auf den Tisch: Marc (Benoît Poelvoorde), ein Steuerprüfer aus Paris, verpasst in der Nacht um Haaresbreite den letzten Zug, der ihn in die Hauptstadt hätte zurückbringen sollen. Jetzt ist er gestrandet in einem Kaff in Südfrankreich, wo selbst im Bahnhof am Abend auf Notbeleuchtung geschaltet wird. Sylvie (Charlotte Gainsbourg), die einzige Frau weit und breit, verwickelt er in ein Gespräch, hängt sich an sie dran und zusammen machen sie einen Spaziergang, wie wohl nur unbehauste Seelen aus Romanen, Opern und Filmen es können. Zwar wird nicht alles ausgesprochen, aber doch viel gesagt zwischen zwei gerauchten Zigaretten. Es gibt keinen Zweifel: Das hier ist eine handfeste schicksalhafte Begegnung. Der erste Zug am Morgen entlässt die Liebenden mit dem Versprechen eines weiteren Treffens in ihr echtes Leben. In Paris wollen sie einander wiedersehen, doch unglückliche Umstände werden ihre erneute, dann gänzlich unerwartete Begegnung auf einen fernen Zeitpunkt vertagen.

Benoît Jacquots Film bürdet seinen Zuschauern vom Start weg ein fast zentnerschweres Marschgepäck gläubig hinzunehmender Konstruktionen auf. Man steht nicht bloß einigermaßen baff vor so viel stürmischer Liebesfügung innerhalb von fünf oder sechs Filmminuten, sondern duldet etwas zähneknirschend, dass dem Drehbuch jeder schmutzige Kniff und jede Auslassung recht sind, um das begonnene Spiel von Liebe und Zufall am Leben zu erhalten: Da ist kein Handy, nicht einmal ein Stift zur Hand, um die Nummer der neuen Bekanntschaft zu notieren und so die mündliche Verabredung abzusichern. Für einen Steuerprüfer im Außendienst ist das zwar eine eher bemerkenswerte Lücke im Equipment, später aber schert derlei Anachronismus natürlich niemanden mehr und es wird rege telefoniert, getextet, gechattet und geskypt. Man hat keine Wahl, als dieses Biegen und Brechen schon im Kleinen bereitwillig abzunicken, denn im großen Rahmen der Erzählung werden die Zumutungen kurz darauf noch schamloser. Marc kehrt nämlich ein weiteres Mal in beruflichen Dingen in die Provence zurück und verliebt sich ruckzuck erneut, jetzt in eine gutmütige Antiquitätenhändlerin mit Steuerproblemen. Diese Frau, Sophie (Chiara Mastroianni), aber ist keine Andere als Sylvies Schwester. Letztere wohnt inzwischen mit ihrem Freund in den USA, weshalb Marc - natürlich! - von der drohenden Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit zunächst rein gar nichts ahnt.



Man darf das schematisch, hölzern, fürchterlich gewollt und auch einfach samt und sonders schrecklich finden. Oder man entscheidet sich zum hemmungslosen Genuss und goutiert diesen sadistischen Exzess auktorialen Erzählens wie die sündigen Sahnetörtchen, die Sophies und Sylvies Mutter (Catherine Deneuve) auf die feine Kaffeetafel stellt. Dann nämlich funktioniert "3 Herzen" als ein programmierter Auffahrunfall, der sich in extremer Zeitlupe auf zwei Stunden dehnt: Als stets in alle Geheimnisse der Figuren eingeweihter Betrachter sieht man schon das Glas splittern, noch ehe der große Knall zu hören ist. Benoît Jacquot, ein Filmemacher, der seit jeher alles kann und das so gut, dass er niemanden mit der Nase darauf zu stoßen braucht, lässt deshalb das Unbehagen schon früh durch sparsame Einstreuungen den Plot überwuchern: Wie aus einem anderen Film rast ein Auto auf der unbelebten Dorfstraße an Marc und Sylvie vorbei, erschreckt ein aufheulendes Motorrad den an einem schwachen Herzen leidenden Marc fast zu Tode. Und führt Sylvie nicht einen Hund an der Leine, als sie zum ersten Mal vor dem Bahnhof das Bild durchquert? Im nächsten Moment schon ist er spurlos verschwunden. Marc glaubt bereitwillig an eine Illusion.

Später kreist Jacquots hochbewegliche Kamera die Protagonisten in den Zimmerecken von Sophies Elternhaus ein, wenn der vor innerer Unruhe schwitzende Marc den wahren Familienverhältnissen seiner künftigen Ehefrau auf die Schliche zu kommen beginnt. Ein Feuerzeug, das Marc an Sylvie in ihrer gemeinsamen Nacht weitergab, zieht als Dingsymbol flammender Leidenschaft die Spur vom Gestern ins Heute, als es in Sophies Küche wieder auftaucht. Dazu legt die Musik derart wummernde Akkorde in Nachtschwarz-Moll über die Szenerie, als zögen die Vorzeichen der Apokalypse und nicht bloß jene einer verkorksten Dreiecksgeschichte am Horizont auf.

Die lustvolle Zuspitzung, Überbietung und gelegentliche Durchkreuzung des äußerlich Erzählten durch die eigenen Erzählmittel stellt "3 Herzen" in die Nähe der Großmeister des Melodramatischen - gleich, ob nun Douglas Sirk und Leo McCarey oder (Jacquot ist ein häufiger Opernregisseur) Puccini und Massenet. Anders als bei jenen will einem das eigene Herz bei Jacquot aber doch nie so recht brechen. Das mag an dem etwas zu bitterbösen Vergnügen liegen, das der Film am Scheitern seiner Figuren zeigt. Es riecht zwischen den Bildern und Klängen nach einem Hauch von Verachtung gegenüber deren Unbeherrschtheit, Hilflosigkeit und Naivität. Einmal setzt, unvermittelt und weit fortgeschritten im Film, gar ein Off-Erzähler ein, um Marcs neues Lebensglück mit Frau, Kind und lauschigem Eigenheim salbungsvoll zu kommentieren. Der einst stürmisch liebende Mann wird, handzahm domestiziert, im bürgerlichen Zoogehege vorgeführt. Dass das nicht gutgehen und Sylvie bald wieder vom Skype-Gespenst auf dem Computer ihrer Schwester in Fleisch und Blut übergehen wird, wissen wir als Zuschauer in fies-freudiger Komplizenschaft mit dem Film. Eine ehrliche Träne werden wir deshalb aber sicherlich nicht mehr vergießen.

Janis El-Bira

Drei Herzen - Frankreich 2014 - Originaltitel: 3 coeurs - Regie: Benoît Jacquot - Darsteller: Benoît Poelvoorde, Charlotte Gainsbourg, Chiara Mastroianni, Catherine Deneuve - Laufzeit: 106 Minuten.


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"Das ewige Leben" ist ein Krisenfilm, das machen schon die Credits klar: Trostlose Typengesichter werden aneinandermontiert, begleitet von ironischen Einblendungen der Darstellernamen. Wir befinden uns am Arbeitsamt, und der Brenner (Josef Hader) ist auch zugegen, dem geht"s nämlich grad nicht so gut: Seine Sachbearbeiterin heißt ihn ein U-Boot, man müsse Mindestsicherung beantragen - es gibt aber noch ein Haus in Graz, und so geht der Penner-Brenner wider Willen zurück in seine Heimat, wo natürlich alte Geschichten warten, die zu Ende erzählt werden wollen.

Wie bei jeder Wolf-Haas-Verfilmung Wolfgang Murnbergers flüstert das Off zu Beginn "Jetzt ist schon wieder was passiert", aber diesmal stimmt es gar nicht. Nix ist passiert, außer schwere Zeiten und das Alter: Ein geschlauchter Brenner kehrt der Gesellschaft den Rücken zu (sie hat"s eh nicht anders verdient) und nistet sich ein in der verwilderten Bruchbude seines Großvaters, als wäre es sein letzter Rastplatz. Während ein antiker Plattenspieler Eric Burdons "When I Was Young" krächzt, futtert er eingelegte Pfefferoni und ringt mit seiner Migräne. Hader, dessen Antlitz in diesem Film aussieht, als hätte es Dürer gemalt, ist ein hervorragender Untergeher.

Doch dabei kann es selbstverständlich nicht bleiben (warum eigentlich nicht?). Über die Begegnung mit einem Spezi aus der Jugend (Roland Düringer) wird Staub aufgewirbelt, verklärte Flashbacks brechen in die triste Gegenwart herein, und dann beginnen die Leute mal wieder, tot umzufallen. Dennoch ist "Das ewige Leben" von allen vier Brenner-Filmen am ehesten ein Anti-Krimi: Das, was hier aufgeklärt wird, geht niemanden etwas an, und am Ende hat ohnehin keiner was davon. Brenner selbst ist kaum aktiv, von "Ermittlungen" kann keine Rede sein. Es ist seine bloße Präsenz, die seine Umgebung nervös macht und ein Katalysator für Katastrophen zu sein scheint, obwohl er sich im Grunde nur zurückziehen, vielleicht sogar verschwinden will. Eine rührende Einstellung zeigt ihn in all seiner Verwundbarkeit, nach einer schweren Kopfverletzung wird er im Krankenhaus gepflegt - wir sehen ihn in der Rückenansicht, und es ist unverkennbar der Rücken eines schwachen, alten Mannes.



Geschont wird der Teilzeit-Detektiv nicht, aber eigentlich sind sämtliche Figuren irgendwie angeknackst, physisch wie psychisch. Sogar der Macher-Widersacher (Tobias Moretti als Polizeichef) muss Herztabletten schlucken. Und jeder hat seine Gründe: Wo die Vorgängerfilme noch so etwas wie moralische Ankerpunkte boten, ist "Das ewige Leben" endgültig im Graubereich gelandet, nicht zuletzt, weil in dieser winzigen Grazer Welt alle von früher miteinander verbandelt sind. Randexistenzen hingegen müssen aufpassen, dass sie nicht hyperzynisch kaputtgekillt werden, vielleicht auch als Strafe dafür, dass sie keine "Persönlichkeiten" darstellen (der diesbezügliche Subplot versteht sich wahrscheinlich als Sozialkritik, ein streitbarer Fall).

Das Stadtbild ist entsprechend düster, aber die Markenzeichen werden gut genutzt: Die Murinsel hat einen glaubhaften Auftritt, und es gibt eine Verfolgungsjagd den Schlossberg hinauf. Einmal wird sogar aufgezählt, wo es überall Überwachungskameras gibt in Graz. Die braucht es für den Fall, dass der Mensch vergisst oder verdrängt oder verleugnet, was in diesem Film ständig passiert. Dafür platzen immer wieder Rückblenden völlig abrupt aus dem Erzählfluss heraus, wie kleine Gedächtnisgeysire. Interessanterweise sind es dann entweder Totalen, in denen die meisten Gesichter undeutlich bleiben, oder atemlose POVs. Entweder zu nah oder zu weit weg ist das Erinnerungsbild.

Aber so richtig wollen sich die ganzen Versatzstücke nicht ineinanderfügen, was vielleicht Absicht ist. "Das ewige Leben" gibt sich ausgesprochen österreichisch, nicht nur darin, wie die Leute einander ständig mit bissigem Schmäh verbal auflaufen lassen, sondern auch in der melancholischen Wurstigkeit, die nahezu jede Szene des Films durchdringt und einen das recht finster verfilzte Handlungsgewirr nie richtig ernst nehmen lässt. Am Schluss droht alles nochmal zu kippen, aber es war ein schwerer Tag, und irgendwann muss auch mal eine Ruh sein. Nur das ewige, unedige Leben, das geht weiter.

Andrey Arnold

Das ewige Leben - Österreich 2015 - Regie: Wolfgang Murnberger - Darsteller: Josef Hader, Tobias Moretti, Nora von Waldstätten, Christopher Schärf, Roland Düringer, Margarete Tiesel - Laufzeit: 121 Minuten.