Im Kino

Es reimt sich ausgezeichnet

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
20.01.2016. Jede Äußerung von Spontaneität unterdrücken Charlie Kaufman und Duke Johnson in ihrem grau-in-grauen Animationsfilm "Anomalisa". In Nikias Chryssos' bizarrem Kammerspiel "Der Bunker" wird ein namenloser Student mit Vater, Mutter und Klaus konfrontiert.


"Anomalisa", Charlie Kaufmans dritte Regiearbeit und sein erster Animationsfilm (Ko-Regie: Duke Johnson), wurde produziert von Starburns Industries, demselben unabhängigen Trickfilmstudio, das für Dan Harmon und Justin Roilands famose Adult Swim-Serie "Rick and Morty" verantwortlich zeichnet (Harmon, davor bekannt vor allem als geschasster Creator der postfamiliären NBC-Sitcom "Community", ist Mitgründer des Studios, das nach einer der vielen charaktervollen Nebenfiguren dieser nun ohne ihn weiterlaufenden Serie benannt ist). Wenn "Anomalisa" etwas mit "Rick and Morty" verbindet, dann ist das der realistische Grundton - freilich auf sehr unterschiedlichen Frequenzen. Während "Rick and Morty" das Sitcomwohnzimmer in kosmische Weiten entrückt und seine oft ernsten Anliegen mit quietschbunt angestrichener Unterleibskomik engführt, bleibt "Anomalisa" durchweg on message: grau-in-graue Hotelkorridore aus Pappmaché, von denen ein steter, aber wohlfeiler Zug ins Surreale ausgeht, dienen als Hintergrund für die banale Seelenforschung eines mittelalten Kundenservice-Gurus - ein vorgeblicher Experte für zwischenmenschliche Kommunikation, der aber natürlich auf ganzer Linie versagt im Umgang mit seiner Mitwelt.

Und während die stotternde bzw. rülpsende Performanz der Zeichentrickfiguren Rick und Morty ungewöhnlich improvisiert daherkommt, als müsste nicht jede Lippenbewegung erst mühsam synchronisiert werden, will die Wirklichkeitsnähe von "Anomalisa" überall als das Ergebnis mühevoller und genau berechneter Arbeitsvorgänge wertgeschätzt werden. Nicht Zeichentrick, sondern ein extrem aufwändiges Stop-Motion-Verfahren, angesiedelt im Unschärfebereich zwischen Liebesdienst und Knochenarbeit, setzt die Dinge in Bewegung. Animation wird in Szene gesetzt nicht als Utopie freier Formbarkeit, sondern als jahrelange Anstrengung gegen den Widerstand zu verformender Materie. Das kann man gut oder schlecht finden, es reimt sich jedenfalls ausgezeichnet mit der Welt, die "Anomalisa" entwirft. Trägheit und Wiederholung erdrücken jede Äußerung von Spontaneität: genau darin besteht auch das Problem des unglücklichen Protagonisten. Punktsieg für Kaufman, rufen weite Teile der amerikanischen Filmkritik - oder vielleicht habe ich nur im falschen Moment zu viel Zeit auf Twitter verbracht. Mich hat es in seiner erdrückenden Konsequenz konsequent gelangweilt.



Den Kundenservicefachmann (David Thewlis) verschlägt eine Buchtournee nach Cincinnati und, so darf man sich dazudenken, in andere, nicht minder deprimierende Ballungszentren des amerikanischen rust belt, wo aus dem mittleren Westen angereiste Kundenservice-Angestellte ihm an den Lippen hängen. Gebürtiger Engländer ist er, wenngleich wohnhaft in Los Angeles, also nicht nur psychisch, sondern auch kulturell entfremdet. Ein Mann mit Akzent in einer Welt, in der alle anderen - wirklich alle anderen: vom Taxifahrer bis zu seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn - nicht nur mit derselben unspezifischen Stimme sprechen (in seiner akusmatischen Allgegenwart extrem creepy: Tom "Red Dragon" Noonan), sondern auch dasselbe, buchstäblich maskenhafte Gesicht aufhaben, ein außergewöhnlich irritierendes Gesicht, penetrant freundlich und zugleich unverbindlich, das Antlitz eines bestimmten Ideals von Kundenservice, das dem Fachmann von überall her zurücklächelt.

Und dann, aus heiterem Himmel, trifft er auf die Anomalie Lisa, eine eigentlich unauffällige junge Frau, die dadurch auffällt, dass sie anders als (wie es in den credits heißt) "everyone else", eine eigene Stimme (Jennifer Jason Leigh) und dazu noch ein eigenes Gesicht hat - und auf diesem Gesicht eine entstellende Narbe, die der Fachmann prompt küssen möchte, so hingerissen ist er von ihrer schieren Partikularität. Kaufmans Parabel hört hier nicht auf, sie hat einen Twist und so etwas wie eine Moral. Schlechter wird der Film dadurch nicht. Auch wenn die Auflösung seiner psychologischen Symbolismen nicht an jeder Weggabelung vorhersehbar ist, so ist man doch rasch darauf gefasst, dass am Ende alles in die eine oder andere Richtung aufgelöst sein wird. Allzu durchdacht und angeordnet: das war immer schon Kaufmans Problem, auch als Drehbuchautor für Spike Jonze oder Michel Gondry, deren fahrige Regie dem abgeschlossenen Verweissystem Charlie Kaufman indes Unordnung und entropische Energie zuführte. Das Hotel "Fregoli" (es lohnt sich den Namen zu googeln), in dem "Anomalisa" absteigt, ist ein Sinnbild des Films im Ganzen: Es hat endlose Gänge und Stockwerke, aber keine Fenster.

Nikolaus Perneczky

Anomalisa - USA 2015 - Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson - Stimmen: David Thewlis, Jennifer Jason Leigh, Tom Noonan - Laufzeit: 90 Minuten.

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Irgendwo tief im verschneiten Wald liegt der Bunker. Man sieht ihn erst, wenn man direkt davor steht. Der namenlose Student, der sich im Bunker einquartiert, muss schnell erkennen: Den in der Anzeige versprochenen Meerblick gibt es nicht. Er schläft auf einer jämmerlichen Pritsche, sein Zimmer hat nackte Steinwände und noch nicht einmal ein Fenster. Wenn er aber gemeinsam mit seiner aus Vater, Mutter und Klaus bestehenden Gastfamilie am Esstisch sitzt, sieht alles so aus wie in einem x-beliebigen spießigen, deutschen Wohnzimmer.

Der Student, der eigentlich nur in Ruhe eruptiv Blatt nach Blatt mit Bleistiftgeschwurbel vollkritzeln will, wird als Hauslehrer eingespannt. Für Klaus, der später einmal Präsident werden soll, vorläufig aber noch nicht von der Mutterbrust entwöhnt ist. Von der auch der Student kosten darf. Abends gibt es Knödel und Witzeverlesung (samt Interpretation). Der Bunker ist eine Welt für sich. Die andere, große Welt da draußen ist trotzdem immer gegenwärtig, vermittels einer Weltkarte, die an der Wand hängt. Unter ihr ist ein Rohstock befestigt. Wenn Klaus die Hauptstädte, die ihm auf der Weltkarte gezeigt werden, nicht identifizieren kann, setzt es Prügel. Muttermilch und Rohrstock halten die familiäre Gemeinschaft zusammen. Die sich nun um ein Mitglied erweitert hat. Schnell wird deutlich, dass der Student nicht zum Aufklärer taugt; schon, weil dem speziellen Bunker-Zwangssystem mit Bildung am allerwenigsten beizukommen ist. Intellektuelle sind wir sowieso alle, stellt der Vater klar.

"Der Bunker" ist ein bizarres Vierpersonen-Kammerspiel, bei dem man mal an Giorgos Lanthimos' Totalitarismusparabel "Dogtooth", mal an klaus(!)trophobische Horrorfilme wie William Friedkins "Bug" denken kann, das aber doch einen sehr eigenen Tonfall etabliert - und meine facebook-timeline bei mehreren Festivaleinsätzen im letzten Jahr nachhaltig in Verzückung versetzt hat. Auch wenn ich selbst da leider nicht aus vollem Herzen einstimmen kann, ist offensichtlich, dass im Debütfilm des jungen Regisseurs Nikias Chryssos mehr Wagemut steckt, als in ganzen Nominierungsjahrgängen Deutscher Filmpreise. Und auch mehr Stilwillen. Das beginnt beim grafisch durchgestylten Titelschriftzug und setzt sich in den Chryssos' exakten framings, aber auch zum Beispiel in der effektvoll durchkomponierten Filmmusik (Leonard Petersen) fort.



Dass ich mit all dem nicht ganz glücklich geworden bin, hat damit zu tun, dass sich der Stilwille auch auf das Schauspiel überträgt. Alle vier Darsteller kultivieren mit einigem Aufwand Ticks, denen spätestens bei der dritten Wiederholung etwas Kabinettstückchenhaftes eignet. David Scheller als Vater kultiviert eine bayrische Stimmfärbung, mithilfe derer er herausragend passiv-aggressiv herumzukumpeln versteht; Oona von Maydell als Mutter kultiviert eine psychopatische Grundverkrampftheit, die sich gelegentlich als eine alternative Persönlichkeit namens Herrmann manifestiert; Pit Bukowski als Student kultiviert eine abgeschlaffte Egomanie, chargiert zwischen fahriger Genervtheit und ziellosem Enthusiasmus.

Eine Ausnahme ist der Klaus-Darsteller Daniel Fripan. Der kultiviert zwar besonders liebevoll gleich eine ganze Reihe von deutlich schwerer identifizierbarer Ticks; mal pult er verschämt an seinen Fingernägeln herum, mal verheddert er sich hilflos in seinem viel zu engen Schlafanzug, mal springt er wild gestikulierend mit herausgestreckter Zunge durch sein ein-Kind-Klassenzimmer. Allerdings ist er der einzige, bei dem sich diese Ticks nie zur Masche verfestigen und dessen Spiel etwas Ungeformtes behält. Überhaupt ist Klaus die interessanteste Figur des Films, in ihr kristallisieren sich die Stärken von "Der Bunker"; Chryssos' Vermögen vor allem, abjektes Verhalten so darzustellen, dass es nicht in bloßer Skurrilität aufgeht, sondern nachhaltig verstört. Nur: Warum muss dieses Vermögen und auch Chryssos' beachtliche formalistische Energie doch wieder nur gegen den schwachbrüstigsten aller Gegner, die bürgerliche Kleinfamilie, mobilisiert werden?

Wie dem auch sei - die deutsche Filmfamilie wollte mit diesem selbstbewussten und eigensinnigen Sprössling erst einmal nichts zu tun haben: Fördergelder hat Nikias Chryssos für sein Debüt keine erhalten. Indirekt ist "Der Bunker" dennoch öffentlich-rechtlich finanziert: Hans W. Geissendörfer hat in den Film, wie zuletzt schon in Arbeiten von Apichatpong Weerasethakul und Franz Müller, Teile seiner "Lindenstraße"-Millionen gesteckt. So bleibt alles im System. Aus dem deutschen Staatskinobunker gibt es kein Entkommen.

Lukas Foerster

Der Bunker - Deutschland 2015 - Regie: Nikias Chryssos - Darsteller: Pit Bukowski, Daniel Fripan, Oona von Maydell, David Scheller - Laufzeit: 85 Minuten.