Im Kino

Anordnen, variieren und überdenken

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Fabian Tietke
13.01.2016. Fast unmerklich lässt "Cemetery of Splendour", der neue Film des thailändischen Festivallieblings Apichatpong Weerasethakul, die Funktionalität hinter sich. Trotz 3D-Tinnef sehenswert: Samirs Familien-und-Irak-Collage "Iraqi Odyssey".


Zu Thailand hat der Regisseur Apichatpong Weerasethakul ein ambivalentes Verhältnis. Mythen und Popkultur seiner Heimat bezieht er in seine zumindest auf Festivals euphorisch gefeierten Filme ebenso ein wie ihre gewalttätige Geschichte. Aber der Einfluss, den das Land auf seine Arbeit hat, drückt sich auch auf weniger produktive Weise aus: "Blissfully Yours" und "Syndromes and a Century" dürfen an ihrem Herkunftsort nur in zensierter Form laufen. Seit Thailand wieder von einer Militärdiktatur regiert wird, hat sich die Lage noch verschlechtert. Offizielle Beschränkungen gibt es nur wenige, aber die Willkür der Behörden lähmt die künstlerische Freiheit. Als Konsequenz daraus möchte Weerasethakul sein nächstes Projekt in Südamerika realisieren.

Bis es soweit ist, kommt erst einmal seine aktuelle Regiearbeit in die ausländischen Kinos. Manches darin scheint auf die prekäre Lage des Landes hinzuweisen: Die Menschen werden von bösen Träumen geplagt und vor einem Krankenhaus - dem hauptsächlichen Schauplatz des Films - befindet sich eine Baustelle, bei der niemand so recht weiß, was darauf entstehen soll. Freilich machen solche politisch interpretierbaren Bilder aber nur einen Teilaspekt des Films aus. Die sanften Grenzüberschreitungen, die Weerasethakul betreibt, sind auch diesmal wieder überwiegend formaler Natur.
 
Im Zentrum der Handlung steht die Hausfrau Jenjira (Stammschauspielerin Jenjira Pongpas), die sich aus Langeweile eines an der Schlafkrankheit leidenden Soldaten (Banlop Lomnoi) annimmt. Weil dieser keine Angehörigen hat, kümmert sie sich mit mütterlicher Fürsorglichkeit um ihn. Dass dabei auch eine gewisse erotische Zuneigung eine Rolle spielt, wird spätestens klar, wenn sie ihn eincremt und sich ungewöhnlich lange an seinen Brustwarzen und Oberschenkeln aufhält. Das meist stumme, mitunter von schüchternen Unterhaltungen geprägte Verhältnis der beiden lebt von seiner unbestimmten Natur. Es hält den Film zusammen, bildet aber nur die Ausgangssituation für eine Erzählung, die nach allen Seiten offen ist. Immer wieder nimmt sich Weerasethakul Zeit, das Leben jenseits der Narration zu erkunden - und findet es etwa bei einem Huhn, das mit seinen Küken durchs Krankenhaus huscht, einem Mann, der in ungewohnter Ausführlichkeit beim Kacken gezeigt wird oder einer hypnotischen Choreografie aus Ventilatoren und Rolltreppen. Fast unmerklich lassen die Bilder ihre Funktionalität hinter sich, lösen sich in der Abstraktion auf und geben sich einem Spiel aus Formen, Rhythmen und Farben hin.
 


Obwohl auch "Cemetery of Splendour" mit konventionellen Erzählweisen bricht, wirkt der Film zugänglicher als frühere Arbeiten des Regisseurs. Die kleinen Revolutionen fügen sich geschmeidiger als in älteren Arbeiten in den Gesamtfluss ein. Vieles was man sieht, wirkt vertraut. Doch auch wenn man auf bekannte Motive wie Geister und Seelenwanderung, kollektive Aerobic-Übungen und trashige Pop-Songs stößt, hat das weniger mit dem Recycling alter Einfälle zu tun als mit der Möglichkeit, in der Wiederholung immer etwas Neues zu finden. Obwohl die Inszenierung fast perfektionistisch erscheint und keine Abschweifung beliebig wirkt, merkt man dem Film die Bereitschaft zur Improvisation an; ein behutsames Eingehen auf Orte, Darsteller und Situationen. Seine Themen hat dieser Regisseur schon lange gefunden. Mit jedem weiteren Film geht es nun darum, sie neu anzuordnen, zu variieren und zu überdenken.
 
Dass sich die Brüche nicht wie solche anfühlen, ist dem ganzheitlichen Blick Weerasethakuls geschuldet. Er inszeniert einen durchlässigen Kosmos, in dem die Pforten zu anderen Welten stets offen stehen. Mal schauen ein paar ungeschminkte Prinzessinnen herein, denen Jenjira gerade noch an einem Altar gehuldigt hat. Ein anderes Mal wird in einem zwielichtigen Waldstück ein Schloss imaginiert, das vor langer Zeit dort stand. Solche Szenen scheinen den manchmal erhobenen Vorwurf zu bestätigen, dass die Faszination von Weerasethakuls Filmen in ihren exotischen und esoterischen Reizen begründet liege. Dabei sollte man sich seine Welt nicht als eine von Gegensätzen vorstellen. Weder Traum und Wirklichkeit, noch Mythos und Geschichte oder Natur und Zivilisation stehen sich im Weg. Nahtlos geht das Zirpen der Grillen durch das wie immer großartig organisch gestaltete Sounddesign in ein elektronisches Brummen über. Neben seiner Feier der Fantasie offenbart der Regisseur eben auch einen tiefen Glauben an die Wissenschaft und ein Vertrauen in die Technik. Die Patienten in der Klinik sollen durch bunt leuchtende Maschinen von ihren Alpträumen befreit werden. Von diesen geht eine nicht weniger magische Wirkung aus, als von dem warmen Sonnenlicht, das durch die Blätter eines Baumes schimmert.
 
Wenn man Weerasethakuls schwierige Situation in seiner Heimat berücksichtigt, ist es überraschend, wie versöhnlich sein erster digital gedrehter, aber immer noch sehr hübsch aussehender Film wirkt. Von Wut ist nichts zu merken. Dafür umso mehr von einem sehr feinen Humor, der auf liebevolle Weise mit menschlichen Unzulänglichkeiten spielt und sich etwa offenbart, wenn Angehörige der Patienten von einem Medium nur die Lottozahlen wissen wollen oder Jenjira von den blumigen Versprechungen der Schönheitsindustrie verführt wird. Der Mensch ist schwach, aber den Glauben an ihn hat Weerasethakul noch nicht verloren. Sogar die Soldaten verkörpern keine militärische Macht, sondern sind entweder Slacker, reine Fetischobjekte oder hilflose Opfer von längst verstorbenen Königen, die ihre Schlachten im Geist der jungen Männer austragen. Und damit wären wir doch wieder bei der politischen Lage Thailands angekommen.

Michael Kienzl

Cemetery of Splendour - Thailand 2015 - Originaltitel: Rak ti Khon Kaen - Regie: Apichatpong Weerasethakul - Darsteller: Jenjira Pongpas, Banlop Lomnoi, Jarinpattra Rueangram, Petcharat Chaiburi, Tawatchai Buawat - Laufzeit: 122 Minuten.

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"Iraqi Odyssey" kommt in zwei Fassungen in die Kinos. Einer längeren, 164 Minuten langen 3D-Version und einer gekürzten 90minütigen in 2D. Diese Besprechung beruht auf der längeren Fassung.


"O bird flying
on the tip of the world
If you would only tell
the beloved about me
O bird.

Go ask the one who is alone
and wounded, all remedies of no avail
pained and not telling
what pains him
and in his memory recur
nights of childhood."

Ya Tayr (O bird)
Text und Musik: Gebrüder Rahbani,
gesungen von: Fairouz, im Film "Safar Barlik" von Henry Barakat

Die Geschichte einer irakischen Familie, die in alle Welt verstreut wurde. Nach "Forget Baghdad" wendet sich der Schweizer Dokumentarfilmer Samir in seinem neuen Film erneut dem Land seiner Geburt, dem Irak, zu. "Iraqi Odyssey" entfaltet die Geschichte von Samirs Familie von den 1920er Jahren in Basra über die Nachkriegszeit in Bagdad bis in die Gegenwart. Fünf Familienmitglieder (zwei Onkel, eine Tante, eine Cousine und eine Halbschwester) kommen ausführlich zu Wort, die übrigen Familienmitglieder tauchen nur auf Fotos und in Filmaufnahmen von Familientreffen auf. Der Film lebt von den Berührungspunkten zwischen Samirs Familiengeschichte und der "großen" Geschichte. "Iraqi Odyssey" vernetzt die einzelnen Erzählungen zu einem kollektiven Erfahrungsbericht über den Irak in der Nachkriegszeit. Ergänzt werden die Erzählungen durch Ausschnitte aus Spielfilmen, dokumentarische Filmaufnahmen und Lieder.

Im Zusammenspiel der verschiedenen Elemente gelingt es Samirs Film durch die Geschichte seiner Familie hindurch eine politische Kulturgeschichte des Irak zu erzählen. Dabei hilft es, dass die Familiengeschichte von den zeitgeschichtlichen Ereignissen und Umbrüchen der irakischen Politik zutiefst geprägt ist. Samirs Großvater, Ahmed Jamal Aldin, wurde als unbestechlicher Richter von den korrupten Autoritäten jedes Jahr an einen anderen Ort versetzt; gleich mehrere seiner Onkel und Tanten waren Teil der kommunistischen Opposition gegen den König. Die Hoffnungen, die sich mit dem Sturz des pro-britischen Königs 1958 verbanden, wurden durch den Putsch der Baath-Partei fünf Jahre später wieder zunichte gemacht. Ein großer Teil von Samirs Familie ging nach und nach ins Ausland, nach Paris, nach Großbritannien, nach Moskau.



Während die Familie die Jahre im Irak gemeinsam verbrachte, waren die Erfahrungen im Exil sehr unterschiedlich. Entsprechend treten in diesem Teil des Films die individuellen Geschichten stärker hervor. Die unstetigste hat Samirs Onkel Sabah Jamal Aldin, der es in der Sowjetunion nicht aushielt, nach Westdeutschland ging und in einem amerikanischen Militärhospital arbeitete, bis amerikanische Behörden ihn verdächtigten weiter Kommunist zu sein. Es folgten Jahre im Libanon, in Kuwait, im Irak, wieder in Kuwait, Syrien, Oman, schließlich Großbritannien.

Der schwächste Punkt des Films ist die 3D-Bastelei, die ein wenig an heimische Laubsägearbeiten erinnert. Aus für den Zuschauer unerfindlichen Gründen dürfen die Befragten nicht einfach vor den Bildern sitzen, sondern müssen qua Technik vor diesen im Raum wabern. Auch wenn sich Samir im Presseheft noch so euphorisch äußert, das Ergebnis überzeugt nicht. Da man dem 3D-Tinnef aber nur bei der kürzeren Fassung entgeht, und die lange inhaltlich unbedingt vorzuziehen ist, muss man in den sauren Apfel beißen. Lässt man sich nämlich auf die zweieinhalb Stunden ein, wird man belohnt: "Iraqi Odyssey" ist eine windungsreiche Familiengeschichte aus einem kriegs- und krisengeschüttelten Land; und zugleich ein Kontrapunkt zum medialen Desinteresse am Irak in deutschen, in europäischen Medien.

Fabian Tietke

Iraqi Odyssey, Schweiz 2014, Regie: Samir, Laufzeit: 164 Minuten 3D/ 90 Minuten 2D.