Im Kino

Die Blicke der Anderen

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
26.01.2023. Lukas Dhont erzählt in "Close" von einer Jungsfreundschaft, die an unschuldigen Fragen zu zerbrechen droht. Mittendrin transformiert "Close" vom Freundschaftsfilm zum Trauermelodram.


"Close" beginnt mit Kinderstimmen im Dunkeln. Leo und Rémi, zwei dreizehnjährige Jungen beim gemeinsamen Spiel, hingebungsvoll, zunächst in der leerstehenden Ruine einer Hütte, dann rennend, durch den Wald, durch weite Blumenfelder, durch eine Naturidylle, die in warmen Sommerfarben leuchtet und wie ein Garten Eden erscheint. Die beiden unzertrennlichen Freunde wachsen jenseits von allem auf, unberührt von allen äußeren Einflüssen: Leos Familie betreibt eine Blumenplantage, weit draußen auf dem Land, und neben der Familie von Rémi scheint es keine Nachbarn zu geben. Die Jungen scheinen ganz sich selbst und ihrem eigenen, intimen Schutzraum überlassen. Sie teilen alles miteinander, Geheimnisse, Träume und auch eine präsexuelle, unschuldige Körperlichkeit, wenn sie immer wieder nah aneinander gekuschelt im selben Bett einschlafen.

Dieser Urzustand, vom belgischen Regisseur Lukas Dhont als scheinbar nicht enden wollender Sommertag gefilmt, wird erschüttert, als die beiden Jungen auf eine Schule in der nahen Stadt kommen. Von den neuen Klassenkameradinnen ausgefragt, ob sie ein Paar seien, tritt erstmals der Gedanke zwischen Leo und Rémi, dass es Dinge und Gefühle geben könnte, die "echte" Männer nicht miteinander teilen dürfen. Diese Szene, die alles ändert, ist von Dhont deshalb so gut inszeniert, weil es in ihr zunächst einmal nicht um Boshaftigkeit geht - den Mädchen liegt nicht daran, die beiden neuen Mitschüler zu demütigen. Sie zeigen sich im Gegenteil zeitgemäß aufgeklärt und aufgeschlossen der Vermutung gegenüber, die beiden Jungen könnte noch etwas Tieferes als Freundschaft verbinden - und wenn sie in ihrem Verhör Grenzen überschreiten, tun sie dies unbewusst, von bloßer Neugier statt böser Absicht getrieben. Dieses Bewusstsein, dass folgenschwere Verletzungen gerade im jugendlichen Alter oft absichtslos, mitunter gar wohlmeinend zugefügt werden können, schimmerte bereits in den besten Momenten von Dhonts ambivalentem Debüt "Girl" durch.



In Leo und Rémis zuvor so naher Freundschaft zieht fortan jedenfalls ein Misstrauen, eine Distanz ein - die Blicke der Anderen treten zwischen sie, die stets mitgedachte Furcht, nicht richtig zu sein, dem, was einen "echten Jungen" ausmacht, nicht zu genügen. Wie normal ist es, wenn die beiden Jungen sich, im Sonnenschein dösend, vertraut aneinander schmiegen, fragt sich Leo plötzlich. Und während er in einen Eishockeyverein eintritt und mit einer etwas rabaukigeren Jungsclique auf dem Schulhof über Fußball streitet, geht er zunehmend auf Distanz zum verständnislos zurückbleibenden Rémi. Eine Trennung, die sich nie wieder rückgängig machen lassen wird - während Leo an einem Schulausflug zum Meer teilnimmt, begeht Rémi allein in seinem Zimmer Suizid.

Von diesem Wendepunkt etwa in der Filmmitte an transformiert sich "Close" ein zweites Mal - vom sonnenwarmen Freundschaftsfilm über das Einbrechen toxischer Männlichkeitsbilder hin zum Abschieds- und Trauermelodram. Ein wenig an den Hollywood-Präpubertätsklassiker "My Girl" erinnernd, geht Dhont in Euro-Arthousetradition über den tragischen, eine Generation adoleszenter Kinogänger in Tränen auflösenden Schluss von Howard Zieffs Film hinaus und widmet sich einer kindlichen Trauerarbeit. Getragen wird das vor allem von seinem großartigen jungen Hauptdarsteller Eden Dambrine, in dessen großen Augen sich Zuneigung und Vertrautheit ebenso wie Zweifel und Verzweiflung spiegeln.

Überhaupt ist dies - nicht nur inhaltlich, sondern auch formal - ein Film der Blicke mehr als einer der Dialoge. Was keineswegs heißt, dass "Close" sonderlich abstrakt wäre oder an irgendeiner Stelle ein Geheimnis daraus machen würde, um welche Themen und Emotionen es ihm ginge. Lukas Dhont ist kein subtiler Filmemacher, aber das muss er natürlich auch nicht sein. Mit "Close" gelingt es ihm, nach dem etwas allzu sehr in Klischees verhafteten Debüt "Girl", einen weitgehend überzeugenden und berührenden zweiten Film vorzulegen und sich als ein begabter Regisseur auf dem Feld des europäischen Arthousekinos zu etablieren.

Jochen Werner

Close - Belgien 2022 - Regie: Lukas Dhont - Darsteller: Eden Dambrine, Gustav de Waele, Émilie Dequenne, Léa Drucker, Igor van Dessel u.a., Laufzeit: 105 Minuten.