Im Kino

Ins Herz der Verunsicherung

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
25.01.2023. Zehn Jahre braucht die Protagonistin in David Chous Adoptionsdrama "Return to Seoul" , bis Frédérique Benoît und Yeon-hee keine Fremden mehr sind. Der kunstvolle Drama-Gestus des Regisseurs wird dabei immer wieder gebrochen durch Park Ji-mins  widerborstige Debütperformance. 


Als die Protagonistin (Park Ji-min) das erste Mal ihren Namen ausspricht, wirkt es fast, als gebe sie sich für jemand anderen aus. Zögernd presst sie Vorname und Nachname, Frédérique und Benoît, hervor, als seien beide Fremdkörper, die nicht zusammen und schon gar nicht zu ihr gehören. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Freddie ist Französin und darauf beharrt sie auch in ihrem Geburtsland Südkorea. Und das mit einer Intensität, die sich erst einmal so gar nicht mit den Höflichkeitsformen und -gepflogenheiten vertragen will, die jede Touristin auf der ersten Seite des Reiseführers um die Ohren gehauen bekommt. Freddie schenkt sich selbst den Soju ein, stößt von oben an und hat kein Problem damit, Fremde im Restaurant anzuquatschen, sich an ihren Tisch zu setzen und sich unzählige Flaschen später den erstbesten Koreaner für einen One-Night-Stand zu angeln. Mit dem Anruf, den sie verkatert am Morgen danach entgegennimmt, steht das, was fremde Etikette und Traditionen nicht im geringsten ins Wanken zu bringen vermochten, auf anderer Ebene zur Disposition. Denn Frédérique Benoît hat plötzlich einen zweiten Namen. Diesen zweiten Namen, der eigentlich ihr erster, sprich ihr Geburtsname, ist, erfährt sie in dem Adoptionszentrum, in das ihre leiblichen, koreanischen Eltern sie kurz nach ihrer Geburt brachten und aus dem ihre französischen Eltern sie abholten. Mehr als zwanzig Jahre später sieht sich Freddie nun mit all dem konfrontiert.

Das ist erst einmal eine Menge. Definitiv zu viel für den ersten Korea-Urlaub. Und nachdem die Sachbearbeiterin die Rechtslage und die daraus für Freddie möglichen Optionen erklärt hat, wird aus viel noch mehr. Die Adressen beider Elternteile sind hinterlegt. Mutter und Vater leben getrennt, können aber jeweils über das Zentrum kontaktiert werden. Wenn sie zustimmen, kann ein Treffen vereinbart werden. Wenn sie drei Mal in Folge ablehnen, verbietet das Gesetz eine weitere Kontaktaufnahme. Ihre Mutter verweigert den Kontakt. Ihr biologischer Vater (Oh Kwang-rok) sitzt ihr kaum 24 Stunden später mit seiner Frau aus zweiter Ehe, seiner Mutter, seinen Töchtern und seiner Schwester gegenüber. Freddies einzige Verbündete ist Tena (Guka Han), ihre neue Freundin aus dem Hostel. Sie ist für Freddie Übersetzerin, Diplomatin und Kulturfilter in einem. Bei dieser Familien-Wiedervereinigung ist jedoch selbst sie machtlos. Der Vater schlägt noch am Mittagstisch vor, Yeon-hee, wie Freddie hier immer heißen wird, solle koreanisch lernen, nach Gunsan ziehen und den Mann heiraten, den er aussucht. Das Gift, das Freddie mit ihrer Antwort in seine Richtung absondert, kann Tena noch etwas verdünnen, aber die gemeinsame Flucht ist beschlossene Sache. Freddie ist bereit, ihre koreanischen Wurzeln aufzugeben. So seien koreanische Männer halt, gibt die Freundin zu bedenken, kurz bevor Freddies One-Night-Stand angetorkelt kommt, um die These mit einer ähnlichen "bleib doch in Korea"-Rede zu bestätigen, die er lallt, während er versucht, Freddie einen Ring zu überreichen. Zumindest hier kann sich die junge Französin wehren, dem jungen Liebhaber an Ort und Stelle das Herz brechen.



Das Problem mit der Herkunft ist - und genau darum kreist "Return to Seoul" -, dass man sie eben nicht ablegen kann. Es ist also auch nicht damit getan ist, dass man die biologischen Eltern einmal kennenlernt und seiner Wege geht. Bereits der Prozess der Kontaktaufnahme deutet an, dass die Entscheidung, eine Beziehung zur leiblichen Familie aufzubauen, wieder und wieder getroffen werden und der Wille, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, wieder und wieder bewiesen werden muss: bis Freddie überhaupt beim eigentlichen persönlichen Prozess angekommen ist, muss sie die Namen der Eltern in Erfahrung bringen, ihre Adressen ermitteln lassen, Telefongespräche verabreden, persönliche Treffen vereinbaren, etc. Der Film wickelt die Sache mit der Herkunft entsprechend nicht mit der ersten Begegnung ab, sondern tastet sich über mehrere, auf insgesamt knapp eine Dekade Erzählzeit verteilte Episoden in Richtung des neuralgischen Punkts vor. Oder, vielleicht treffender: lässt Freddie wieder und wieder auf Korea los. Tatsächlich lösen sich viele der bedeutungsschwangeren Szenen, die Regisseur Davy Chou konstruiert, erst durch Park Ji-mins so widerborstige wie unfassbare Debütperformance ein. Wenn sie auf die Tanzfläche flieht, mit einem Rüstungsindustriellen flirtet und wieder und wieder die eigene Fassungslosigkeit mit abfälligen Blicken maskiert, steht etwas quer zum feinen, kunstvollen Drama-Gestus, der diese Szenen gerne beherrscht hätte.

Freddie erlebt ihre Rückkehr nach Korea als eine zweite Adoleszenz. Der neue Name verlangt eine neue Identität und auch so etwas wie einen neuen Abnabelungsprozess. Beim zweiten Besuch in Seoul ist das symbolträchtige Alltagsbild nicht mehr der Kühlschrank, der zwar bis zum Rand gefüllt ist, aber eben nur mit rohem Fleisch/Gemüse, sprich mit Essbarem. Es ist die Minibar des koreanischen Lovers - das Gesichtstattoo markiert ihn sofort als ungeeigneten Schwiegersohn - , in der sich ein endloser Vorrat an Whiskey und Wodka, aber eben nicht der gesuchte Absinth findet. Bis hierhin scheint die zurückkehrende Freddie ihre Herkunftskonflikte im Griff zu haben. Gut verborgen bleiben sie unter dem dicken Lippenstift und der schwarzen Lederjacke. Beim Date mit dem ca. zwanzig Jahre älteren französischen Waffenhändler lassen sich unangenehme Fragen mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Aufenthalt im Hotelzimmer abweisen. Was Freddie nicht vermeiden kann, ist ihr eigener Geburtstag, für den der koreanische Freund eine Party organisiert hat - Volltreffer ins Herz der Verunsicherung. Das meiste können MDMA und Alkohol wegspülen, aber natürlich steht der unweigerliche Reifeprozess noch aus. Der Film gibt Freddie dafür noch einmal sieben Jahre. Ein letztes Mal versucht sie sich an dem Ort, der nicht Heimat wurde und sich standhaft weigert, die Hälfte davon zu sein. Nüchtern, in festen Händen und erwachsen wirkt die Frau, die nun Koreanisch spricht, Seoul kennt, die Herkunft für die Karriere genutzt hat und den biologischen Vater mit Humor nimmt. Das Zögern aber, mit dem sie ihren Namen "Yeon-hee" in ihr Handy tippt, bleibt.

Karsten Munt

Return to Seoul - Frankreich 2022 - OT: Retour à Séoul - Regie: Davy Chou - Darsteller: Park Ji-min, Oh Kwang-rok, Guka Han, Kim Sun-young, Yoann Zimmer u.a. - Laufzeit: 115 Minuten.