Im Kino

Pubertät im freien Fall

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
29.03.2023. "Der Gymnasiast" Lucas muss lernen, dass sein Vater bei einem Autounfall gestorben ist. Blau und rosa schimmern Leid und Lust in Christophe Honorés Adoleszenzdrama. Ein ständiger Wechsel, der wirkt, als könne sich das Leben nicht entscheiden, ob es in Leidenschaft aufblühen oder in Trauer stillstehen sollte.


Fast spielerisch wirkt es, als Lucas (Paul Kircher) den Glassplitter an seine Pulsader führt. Als wolle er ausprobieren, wie es sich anfühlt, ritzt er in sein Handgelenk. Es ist das letzte, was Lucas zu diesem Zeitpunkt noch nicht probiert hat bei seinen Versuchen, sich der Trauer und der Scham zu stellen. Oder vor ihnen zu fliehen. Lucas' Vater ist tot. Die Jugend, die es vor dessen Autounfall noch gab, ist zu Ende. Das letzte Gespräch, ein Versuch des (von Honoré selbst gespielten) Vaters, mal wieder auf Tuchfühlung mit dem Sohn zu gehen, bleibt als symbolbehaftetes und zerstörerisches Echo.

Die Dramaturgie der Trauerphasen, die sich im Erzählkino gerne an einen derartigen Verlust anhängt, bleibt aus. Das aus den bekannten Psychologie-Modellen abgeleitete und linear abgespulte Nacheinander gerät durcheinander, spult sich in falscher Reihenfolge ab oder bündelt sich zur unerträglichen Last. Die Trauer ist in "Der Gymnasiast" ein Extrem der Adoleszenzerfahrung. Lucas schreit, verstummt, zittert, bebt, zerstört sich selbst, zerstört seine Familie, liebt die Familie, die Freunde, liebt Fremde, liebt sich selbst und findet doch keinen Halt. Es gibt kein Vorankommen nach dem Tod des Vaters. Die gemeinsamen Rituale zwischen der Mutter und den Söhnen helfen, aber sie werden der Größe des Verlusts nicht gerecht.



Mutter Isabelle (Juliette Binoche) fängt Lucas und seinen Bruder Quentin (Vincent Lacoste) auf, um sich selbst an anderer Stelle auffangen zu lassen. Juliette Binoches Performance bündelt das gesamte Register des Films in sich, überschüttet ihn mit Tränen, die wahlweise der Trauer, der Freude oder dem Zorn geschuldet sind, die ihre Figur empfindet, nie aber ihrer eigenen Eitelkeit. Vincente Lacoste gibt dem älteren Bruder Quentin eine abgeklärte Stärke, die ihn auch dann wieder aufrichtet, wenn die Trauer ihn in winzigen Momenten der Schwäche kollabieren lässt. Sie ist der passgenaue Gegensatz zur Fragilität Lucas'. Dessen rücksichtslose Neugier wiederum zwingt den älteren Bruder wieder und wieder, seine Distanz aufzugeben. Quentins toughness geht oft zu weit, fängt Lucas und seine Mutter aber auch immer dort auf, wo es wirklich hässlich zu werden droht. Das innerfamiliär Geflecht, das Honoré aus den fantastischen Performances spinnt, ist komplex und sinnlich genug, um seine Konstruiertheit nicht durchscheinen zu lassen.

Allein als der gut gemeinte Besuch der Restfamilie zunehmend zur Belagerung wird und das gemeinsame Abendbrot zur Theoriestunde der rassistischen Sippschaft über Staatstrauer und Bataclan eskaliert, verirrt sich "Der Gymnasiast" ins Themenfilm-Klischee. Der ältere Bruder schneidet den Onkeln das Wort ab, als die arabische Minderheit für alle Probleme Frankreichs verantwortlich gemacht wird. Auf dem im Hintergrund laufenden Fernseher gibt Marine Le Pen weiter ihren Senf dazu. Ein ausgestellt beiläufiger Verweis auf die politischen Untiefen der Trauer. Der eigentliche Film aber ist ein anderer: kein angestrengtes Themenstück, sondern die Pubertät im freien Fall. Lucas' Schmerz kennt keine Richtung, muss aber trotzdem irgendwo hin.

Am deutlichsten wird das, als Lucas das Elternhaus in Chambéry verlässt, um eine Woche beim Bruder in Paris zu verbringen. Die Zeit in der Hauptstadt ist unverkennbar das Herzstück des Films. Hier schlagen die letzten Funken, vor der Rückkehr in den Alltag, der mit dem Verlust des Vaters jegliche Bedeutung verloren hat. Lucas' Leben scheint noch einmal davonzurennen. Er verläuft sich, verliebt sich, zerlebt sich. Sex ist dabei mal Katalysator, mal Irrweg, immer aber ein notwendiger Schritt in dem, was vielleicht einmal Trauerbewältigung sein wird. Lucas klammert sich an Lilio (Erwan Kepoa Falé), den Freund des Bruders, versucht aus der Gefühlsverirrung eine Affäre zu starten, wird zurückgewiesen, probiert Sex gegen Bezahlung aus und spielt damit ein Spiel, für das er eindeutig zu jung und zu fragil ist. In blau und rosa schimmern Leid und Lust. Ein ständiger Wechsel, der wirkt, als könne sich das Leben nicht entscheiden, ob es in Leidenschaft aufblühen oder in Trauer stillstehen sollte. Blau, wie schon "Sorry Angel" blau war, rosa wie Honorés Filme es im besten Fall sind (und "Der Gymnasiast" ist ein solcher Bestfall): sanft, leidenschaftlich, aufrichtig.

Karsten Munt

Der Gymnasiast - Frankreich 2022 - OT: Le lycéen - Regie: Christophe Honoré - Darsteller: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette binoche, Erwan Kepoa Falé, Adrien Casse - Laufzeit: 122 Minuten.