Im Kino

Eine kleine Geschichte

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
19.05.2023. Masahiro Shinodas Film "Pale Flower" von 1964 kommt jetzt zum erstenmal überhaupt in deutsche Kinos, nachdem er 2022 in der restaurierten Fassung auf der Berlinale lief. Die Geschichte eines Gangsters und einer Glücksspielerin ist ein Noir par excellence, ein Gedicht aus Licht und Schatten, getragen von einem Ennui am Dasein und einer Schicksalsgeworfenheit, die an die Romane von Albert Camus erinnert.


Der Filmeinstieg ist existenzialistischer Noir par excellence: Tokio, ein Gedicht aus Licht, Schatten, Beton, dazu cooler Jazz. Der Film behält diese verführerische Beiläufigkeit bei, sucht immer wieder nach einer unaufdringlichen Poesie cool-urbaner Nokturnalität. Im Chiaroscuro der Schwarzweißfotografie wird aus einer großen Pfütze auf dem Asphalt, auf der sich das Licht der Straßenlaternen spiegelt, schon mal ein Tor in eine andere Welt.

Dort wird ein Leben ausgelöscht, doch die Welt nimmt keine Notiz davon. Das übrige Leben geht weiter. Nichts hat sich geändert. Sicher, derjenige, der dieses Leben ausgelöscht hat, kommt der Welt eine Zeitlang abhanden. Doch wenn er wieder zurückkehrt, ist alles so, als hätte sich nichts geändert. So jedenfalls sinniert Muraki zu Beginn im Voice-Over. Er ist gerade aus dem Knast gekommen ist und vermag im Tokioter Alltagsleben nichts anderes als eine Wand der Indifferenz zu erkennen. Drei Jahre saß der Yakuza ab - ein Mord aus Loyalität. Loyalität gegenüber einem Gangboss, der eher trüb als beeindruckend wirkt. Als wir ihn zum ersten Mal sehen, sitzt er beim Zahnarzt auf dem Stuhl und gibt Muraki den Tipp, sich doch auch die Zähne richten zu lassen.



Muraki ist ein Drifter: ausdruckslos, gestählt, stets im Anzug, seine Wohnung ärmlich kahl und schlicht. Sein Umfeld nennt ihn "Aniki", das japanische Wort für "Bruder". So heißt auch Takeshi Kitano in seinem Film "Brother", wo er eine sehr ähnliche Figur spielt. Wenn man heute "Pale Flower" sieht, Masahiro Shinodas Klassiker des japanischen Noir- und Yakuza-Kinos aus dem Jahr 1964, muss man immer wieder an Takeshi Kitanos heute fast schon wieder vergessenen Yakuza-Filme aus den Neunzigern denken: "Pale Flower" wirkt in Tonfall und Motivlage fast wie eine Blaupause für Kitano.

Zum Beispiel, was die gedämpfte Manie seiner Hauptfigur betrifft, die sich teilnahmslos dabei zusieht, wie sie sich selbst ins Unglück reitet. Muraki landet alsbald bei einem illegalen Glücksspiel in einem Hinterzimmer. Dort trifft er auf Saeko (deren Name ein bisschen wie das englische Wort "Psycho" klingt), etwas jünger als er und die einzige Frau in dieser Männerrunde. Die spielt auf volles Risiko. Nicht nur hier, sondern überhaupt: Beide beginnen einander zu umkreisen, verstricken sich, gemeinsam suchen sie die Gefahr. Oder vielleicht auch: Saeko sucht die Gefahr. Muraki fasziniert das - und er geht mit. Zugleich zeichnen sich in den einander bekriegenden Yakuza-Banden ganz neue Dynamiken ab.

Die sechziger Jahre waren nicht nur in den westlichen Ländern Zeiten des Umbruchs, der Neusortierung der Verhältnisse. Auch in Japan stellte das Jahrzehnt politisch und gesellschaftlich einen Einschnitt dar. "Pale Flower" ist vor diesem Hintergrund ein symptomatischer Film, getragen von einem Ennui am Dasein und einer Schicksalsgeworfenheit, der atmosphärisch von Ferne an die Romane von Albert Camus erinnert. Das zeigt sich in einigen Szenen und Sequenzen, die man nur als Kinoglück bezeichnen kann: Eine wahnwitzige Autofahrt bei Nacht etwa, Saeko sitzt am Steuer und liefert sich ein waghalsiges Wettrennen mit einem zufällig vorbeifahrenden Auto. Muraki nimmt das Geschehen als stiller Beobachter auf dem Beifahrersitz zur Kenntnis - bis beide Autos schließlich zum Halten kommen und Saeko sich mit dem Konkurrenten, mit dem sie sich gerade beinahe in den Tod gefahren hätte, eins lacht.

Von aufdringlichen Aussagen ist "Pale Flower" weit entfernt. Show, don't tell. Die Mechanik der Geschichte ist wie ein Uhrwerk, das zielsicher an den Ausgangspunkt der Geschichte zurückführt. Eine kleine Geschichte. Ein Leben endet. Die Welt geht weiter. Doch für Muraki hat sich alles geändert.

Thomas Groh

Pale Flower - Japan 1964 - OT: Kawaita hana - Regie: Masahiro Shinoda - Darsteller: Ryô Ikebe, Mariko Kaga, Takashi Fujiki, Naoki Sugiura u.a. - Laufzeit: 96 Minuten.