Im Kino

Zum Nachtisch gibt es kein Eis

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Lukas Foerster
13.04.2022. Erstens die Langeweile der Sommerferien, zweitens der Horror. Eskil Vogts "The Innocents" bleibt konzentriert, bis zum Ende, das unerwartet heftig, real, brutal kommt. Anders Tarik Salehs "The Contractor": Action-Genrekino, wie es kaum noch ins Kino kommt und es hier auch nicht verdient.
Erstens, die Langeweile der Sommerferien, nichts rührt sich, alle sind verreist. Nur du bist zuhause geblieben und kommst auf Gedanken, auf die du besser nicht kommen solltest. Und zweitens, diese Sorte Eltern, die ihrer Rolle mehr schlecht als recht nachkommen. So deine alleinerziehende Mutter - abwesend, apathisch oder auf dem Smartphone nach rechts und links wischend, such's dir aus. Niemand ruft dich zum Abendessen, zum Nachtisch gibt es kein Eis. Deine Mutter zieht die Jalousien auch tagsüber nicht hoch, sie putzt nicht, lacht nicht und zu fragen wie dein Tag war, hält sie ebenfalls für unnötig. Nichts regt sich in ihr, wenn du gestehst, Stimmen in deinem Kopf zu hören. Für eine Reise fehlt das Geld, deswegen bist du in diesem Sommer wieder einmal zu Hause geblieben - vereinsamt, innerlich verwildert. Am liebsten würdest du - und da ist einer dieser Sommerferien-Gedanken - ihr eine Pfanne gegen den Kopf schleudern. Oder sie mit einem ordentlichen Spritzer heißen Wassers, in dem gerade die Würstchen köcheln, darauf aufmerksam machen, dass du existierst. Zwei Dinge, die Einsamkeit gepaart mit Zeit, vergrößert und in klare Bilder übersetzt - so entsteht das Unheimliche in "The Innocents".

Eskil Vogt ist bisher vor allem als Drehbuchautor in Erscheinung getreten, zuletzt mit dem norwegischen Oscar-Beitrag "The Worst Person in the World" von Joachim Trier. "The Innocents", seine zweite eigene Regiearbeit, entfaltet sich unter wolkenlosem Himmel, in einer Hochhaussiedlung am Rande einer Stadt. Weitläufig, familienfreundlich, mit einem kleinen See inmitten des Häuserkomplexes und einem direkt angrenzenden Wald - dieser Ort könnte ein Schauplatz für alles mögliche sein. Keinesfalls bedrohlich aufgeladen, einfach nur leer ist es hier, zu leer vielleicht, ganz und gar ein durchlässiger Raum, ein Ort wie ein Medium, das Frequenzen, Kräften und Gedanken jeder Couleur freien Lauf lässt. Das Böse lauert nicht im Gebüsch, aber auch das Gute ist abwesend.

"The Innocents". Szenenbild.



Ida ist neu in der Gegend. Sie ist mit ihren Eltern und der älteren Schwester Anna gerade hergezogen. Anna leidet an Autismus, redet nicht, existiert nur in ihrem undurchsichtigen Inneren. Ida ist eifersüchtig, weil die Aufmerksamkeit der Eltern vor allem Anna gilt. Auch für diese beiden heißt es den ganzen Monat daheim bleiben. Im Reich der einsamen Kinder lernen sie bald Benjamin und Aisha kennen. Benjamin hat eine telekinetische Gabe. Kleine Steine sind es am Anfang, die er kraft seiner Gedanken bewegen kann, dann werden die Steine schwerer, die Schäden größer. Ähnlich wie Benjamin lebt Aisha bei ihrer emotional abwesenden, stets überforderten Mutter. Ihre Superpower: Das Mädchen kann ohne Sprache kommunizieren und baut mit der stummen Anna eine telepathische Verbindung auf. Es tut den beiden gut, scheint auch in Benjamin etwas freizusetzen. Alle werden von den Energien der jeweils anderen transformiert. Jeder für sich, alle zusammen, werden sie stärker, was gute und sehr schlechte Seiten hat. Ida, Anna, Aisha und Benjamin sind ein Geheimbund, in dem jeder schlicht zu viel über die anderen weiß. Für ihre Gedanken machen sich die Wände porös. Die Treppenhäuser sind abgrundtief.

Die Dynamik dieser Freundschaft kippt schnell ins Ungesunde, die Empathie ist ungleich verteilt, oder sie schwindet ganz. "I can make people do things", die Gewalt, anfangs auf den kleinen Kreis dieser vier beschränkt, potenziert ins Grenzenlose. In der Ruhe der ausgehenden Sommerferien findet ein mentaler, nur in seinen äußersten Folgen sichtbarer Kampf statt, der Opfer hinterlassen und dennoch - wie es dem Genre gebührt - unentdeckt bleiben wird. "The Innocents" verdichtet sich nach und nach, bleibt konzentriert, trotz Überlänge nicht in seiner Spannung nachlassend. Was geschieht, ist unerwartet heftig, real, brutal. Kinder sind unschuldige Wesen - diese Gewissheit ist so stark, man kann sie immer wieder aufs Neue erschüttern. Vibrierende Verhältnisse, und eine im Kern sehr einfache Geschichte: Kein Kind soll einsam sein.

Olga Baruk

The Innocents - Norwegen 2021 - OT: De uskyldige - Regie: Eskil Vogt - Darsteller: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf, Mina Yasmin Bremseth Asheim, Ellen Dorrit Petersen, Morten Svartveit - Laufzeit: 117 Minuten.

-

Amerika ist sehr Amerikanisch, Berlin ist sehr Berlinerisch in "The Contractor". Sehr Amerikanisch heißt: sehr suburban, gepflegte Häuser entlang einer geschwungenen Straße aufgereiht, in einem wohnt der Soldat James Harper (Chris Pine) mit blonder Frau und knuffigem Kind, Flanellhemdidylle, Familienumarmungen, aber das Geld war eh schon knapp und jetzt wird Harper auch noch entlassen. Man hat etwas in seinem Blut gefunden, was da nicht hingehört, er selbst wimmelt entsprechende Nachfragen unwirsch ab und auch der Film scheint es nicht allzu genau wissen zu wollen. Jedenfalls stapeln sich die Rechnungen nun erst recht, und dann hat auch noch ein alter Militärkamerad Selbstmord begangen. Der liegt auf dem Soldatenfriedhof, ins Reih und Glied glänzend weißer Grabsteine eingerückt. Harper ist noch nicht so weit, aber wenn sie ihn spät nachts allein auf dem Dach des gemeinsamen Hauses sitzen und in sich gekehrt ein Leck reparieren sieht, bekommt seine Frau es mit der Angst zu tun. Eine stille Verzweiflung hat diesen Mann erfasst.

Sehr Berlinerisch heißt: sehr schmuddelig. Die glatten Glasklotzfassaden der Deutschen Hauptstadt, in die es Harper verschlägt, als er aus Geldnot bei einem private military contractor anheuert, sind dem Film lediglich einen Establishing Shot wert. Was Regisseur Tarik Saleh wirklich interessiert, ist der Ranz, der sich in der Stadt zum Glück immer noch zur Genüge auftreiben lässt. Etwa am Kottbusser Tor, wo sich das siffige Hotel zu befinden scheint, in dem Harper zunächst absteigt (wobei Regisseur Tarik Saleh mit der realen Berliner Geografie, wenig überraschend, recht kreativ umspringt). Kaum hat er die Zimmertür hinter sich geschlossen, klopft auch schon Nina Hoss an. Die spielt Harpers Handlerin und darf sich, vor ihrem leider etwas arg schnellen Tod, immerhin noch an einem wüsten Schusswechsel beteiligen.

"The Contractor". Szenenbild.



Ziel des Einsatzes ist ein Biologe, der angeblich Verbindungen zu ISIS unterhält und an Biowaffen herumbastelt. Das Söldnerteam, dem sich Harper anschließt, soll die Forschung beschlagnahmen und den Forschenden eliminieren. Dass an der Sache etwas faul ist, ahnen wir sofort und Harper spätestens, wenn vermeintliche Verbündete das Feuer auf ihn eröffnen. Jedenfalls muss sich der Amerikaner, will er aus der Sache auch nur mit dem nackten Leben davonkommen, noch tiefer ins schmutzige Herz Berlins begeben. Oder vielleicht eher in den Unterleib, in das Gedärm der Stadt, in die Kanalisation, wo er zwischen Ratten und Schlamm nach Möglichkeiten sinnt, dem Schicksal doch noch einmal ein Schnippchen zu schlagen.

Normalerweise kommen solche Filme - geradlinige Genreware, ohne allzuviel Brimborium um einen Star herum inszeniert - nicht mehr ins Kino, schon gar nicht ins deutsche. Was man im Allgemeinen durchaus für einen Verlust halten kann, einen ziemlich zentralen sogar, weil er darauf verweist, dass das Kino nicht mehr in der Lage ist, sich aus sich selbst heraus, aus seinem eigenen Star- und Genresystem, zu reproduzieren. Im Besonderen ist geradlinige Genreware, wie jede andere Form von Bewegtbild, selbstverständlich trotzdem oft eher trocken Brot als Kinoglück und tatsächlich ist der halbgare "The Contractor" nicht gerade ein Film, angesichts dessen man in nostalgische Schwärmereien über die verlorene populäre Normalität des Kinos ausbricht.

Dass Harpers existenzielle Isolation unter den Straßen Berlins, die Reduktion eines Mannes auf die Leidensfähigkeit seines Körpers, eine letztlich folgerichtige, wenn nicht gar zwangsläufige Konsequenz der bürgerlich-monadischen Isolation ist, die bereits sein Leben in der Heimat prägte: Das ist der dunkle Kern eines Films, der das filmische Potenzial seiner nihilistischen Weltsicht (zu der auch Rückblenden in die white-Trash-Jugend der Hauptfigur gehören - letztlich kehrt Harper, so wird insinuiert, in Berlin zu den Wurzeln einer persönlichen Geschichte der Gewalt zurück) nur in wenigen Momenten voll auszuschöpfen versteht. In der Kanalisation bei den Ratten vor allem, auch in der Erkenntnis, dass die bläuliche, glatte Bilderbuchkälte der Amerikaimpressionen durchaus etwas zu tun haben könnte mit der modrigen, baufälligen Graffiti-auf-Beton-Kälte der Berlin-Szenen.

Wenn sich Harper zurück nach oben kämpft, ans Tageslicht, übersetzt sich seine komplette Exklusion, sein Herausfallen aus dem bürgerlichen Leben und den Glücksversprechen der zugehörigen Ideologie, allzu rasch wieder in traditionelle Handlungsmacht. Chris Pine, der als Familienvater mit versiegeltem Innenleben ziemlich super ist, sich später aber als ein allzu stoischer, stellenweise fast lethargischer Actionheld erweist, kämpft sich durch eine Reihe gleichzeitig einfallslos und hektisch inszenierter Szenarien und verhindert nebenbei auch noch den Ausbruch einer weltweiten Pandemie (ob der entsprechende Plot Twist schon im Originaldrehbuch stand oder erst nachträglich in den bereits 2019 gedrehten Film eingefügt wurde, sei dahingestellt, spielt angesichts der allgemein schludrigen Plotkonstruktion aber ohnehin keine Rolle). Inwieweit er dadurch den amerikanischen Traum, wenn nicht den großen, so wenigstens seinen kleinen, persönlichen, reaktivieren kann, bleibt offen. Was weniger auf die inhärente Ambivalenz dieses Traums verweist als auf die erzählerische Hilflosigkeit eines Film, der im Eifer des Gefechts das Interesse an seiner eigenen Hauptfigur verliert.

Lukas Foerster

The Contractor - USA 2022 - Regie: Tarik Saleh - Darsteller: u.a. Chris Pine, Gillian Jacobs, Sander Thomas, Ben Foster, Kiefer Sutherland, Nina Hoss - Laufzeit: 103 Minuten.