Im Kino

Freigestellte Attraktion

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
09.03.2011. Großes Solo für Javier Bardem: In seinem neuen Film "Biutiful" pfeift der virtuose Kinotechniker Alejando Gonzalez Inarritu nun auch auf den letzten Drehbuch-Anschein von Komplexität. Und in George Nolfis Philip-K-Dick-Verfilmung "Der Plan" mag der Mensch durchaus denken, in Wahrheit tut das "Adjustment Bureau" aber lenken.


Die ersten drei Arbeiten des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzalez Inarritu verschränkten verschiedene, parallel laufende Handlungsfäden auf mehr oder weniger elegante Art und Weise. Die Filme - durchweg nach Drehbüchern von Guillermo Arriaga - knüpften narrative Netze, deren Knotenpunkte mit den Plotstrukturierungen der klassischen Spielfilmdramaturgie nicht identisch waren. Die Konstruktionsprinzipien der jeweiligen Netze wurden zuerst ("Amores Perros") von einem naiven, dann ("21 Grams") von einem esoterischen Schicksalsbegriff und zuletzt ("Babel") von nichts Geringerem als der globalisierten Wirtschaftsordnung - oder was Inarritu und Arriaga dafür hielten - determiniert. An letzteres Motiv schließt "Biutiful" an. Das Netz allerdings ist ebenso wie nach einem Streit mit Inarritu der Drehbuchautor Arriaga verschwunden. Die Erzählung des neuen Films verläuft strikt linear, anstatt eines Panoramas ungefähr gleichberechtigter Figuren entfaltet sich eine Javier-Bardem-One-Man-Show sondergleichen.

All das, was in "Babel" über drei Kontinente und ein gutes Dutzend Charaktere verteilt wurde, wird in "Biutiful" dem Schauspieler auf die Schultern geladen, der in "No Country for Old Men" noch mit einer Pressluftpistole Texas unsicher machen durfte und sich in Woody Allens "Vicky Cristina Barcelona" zwischen Penelope Cruz und Scarlett Johansson amüsieren konnte. Bei Inarritu aber ist schluss mit lustig. Bardems Uxbal ist ein lebender Brennpunkt der Globalisierung, ein Kleinkrimineller auf den Straßen Barcelonas, der mit chinesischen Produktpiraten Geschäfte macht und afrikanischen Migranten Schwarzarbeit oder Produkte für den illegalen Straßenverkauf vermittelt. Uxbal steht, vor allem dank seines spanischen Passes, in der Hierarchie der katalanischen Unterwelt etwas höher als die Illegalen, aber mehr als eine prekäre Ich-AG im Lumpenproletariat hat er sich nicht aufbauen können.

Zu den Eigentümlichkeiten der Filme Inarritus zählte schon immer, dass ihre relative narrative Komplexität nie reflexiv gewendet wurde. Schon die Bilder selbst verschließen sich auf einer sehr basalen Ebene ihrer kritischen Befragung oder auch nur simplen begrifflichen Bestimmungen, sie zielen direkt und ohne Umschweife auf Affekte. Die impressionistische Handkameraarbeit (alle vier Filme sind vom Starkameramann Rodrigo Prieto fotografiert), die Subjektives und Objektives so elegant wie manipulativ in eins setzen, die dynamische Montage, die dem gedanklichen Nachvollzug immer einen sanften Schritt voraus zu sein scheint, die organischen Farb-Klang-Kompositionen aus angedeuteten Gitarrenmelodien und ghettoromantischen Stimmungsbildern (in "Biutiful" sind das zum Beispiel verwischte Leuchtreklamen und harter Pflasterstein, bläulich ausgeleuchtete Bruchbuden mit tropfenden Decken): dass der Mexikaner ein virtuoser Handwerker ist, kann man kaum bestreiten, eine Partyszene gegen Ende des Films vor allem, in der Inarritu seinen Protagonisten in einem audiovisuellen Strudel versinken lässt, ist ein technisches Meisterstück. Doch derartige Bilder gewinnen, das unterscheidet ihn grundlegend von anderen, deutlich sympatischeren Arthaus-Manipulatoren wie Michael Haneke oder Gaspar Noe, nie einen ästhetischen Eigenwert, der über die bloße Gefühlsmechanik hinausreichen würde. Alles muss in ihnen unmittelbar gegeben sein, Bilder, Farben, Bewegungen sollen zu direkten Äquivalenten von Emotionen werden.



Und die Emotionen wiederum sollen die mal metaphysischen, mal in sehr allgemeiner Form gesellschaftskritischen Behauptungen, die die Plots der Filme zusammenhalten, unterfüttern, ihnen, in Abwesenheit ästhetischer Reflektion, provisorische Plausibilität verschaffen. Immersive Überwältigungsästhetik alleine genügt da freilich nicht, sie will ergänzt werden durch melodramatische Taschenspielertricks der alten Schule.

In "Biutiful", wo selbst noch die oberflächliche Komplexität der Intrige verschwunden ist, hat der Taschenspieler Inarritu umso mehr zu tun. Das beginnt damit, dass Uxbal nicht einfach nur in einer ökonomisch schwierigen Lage steckt. Gleichzeitig ist er totkrank, er pisst Blut, hustet am laufenden Band, schwankt im Großen und Ganzen reichlich elegisch seinem Ende entgegen. Dann hat er auch noch zwei niedliche Kinder und eine manisch-depressive Exfrau, die mit seinem (großkriminellen) Bruder schläft, sich sein weniges Geld unter den Nagel reißen möchte, den gemeinsamen Sohn verprügelt und auch sonst jede Menge Ärger macht. Und schließlich hat der gute Uxbal, auf den alle Leiden dieser Welt zu projizieren Inarritu fest entschlossen ist, auch noch ein Gewissen. Das zwingt ihn dazu, eine junge Afrikanerin samt Neugeborenem bei sich aufzunehmen, nachdem ihr Ehemann abgeschoben wurde, und es peinigt ihn, nachdem in einem chinesisch-katalanischem Sweat Shop ein Gasleck eine Katastrophe verursacht hat.

"Biutiful" ist - und erst das macht aus einem uninteressanten Film einen wirklich ärgerlichen, der sich nahe am Rassismus bewegt - Starkino der perfidesten Sorte. Zum einen sind Bardem die Zeichen körperlichen und sozialen Verfalls genau so dick aufs Gesicht geschminkt, dass der glamouröse Starkörper in seiner scheinbaren Negation nur umso besser zur Geltung kommt. Zum anderen agieren um den alles dominierenden Hauptdarsteller fast ausschließlich Laien ohne Kinoerfahrung und -personae.

Bardem ist in "Biutiful" nicht mehr Teil eines relational organisierten Starsystems (primus inter pares), sondern eine freigestellte Attraktion, die sich qualitativ von den restlichen Elementen des Films unterscheidet. Als Kontrastfolien um ihn herum angelagert: seedy locations sowie Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe und / oder dezidiert nicht-hollywoodtauglichen Physiognomien. Selbst, wenn in einer wilden, hektisch gefilmten Polizeihatz über die Touristenmeile La Rambla für einen Moment reale Gewalt, wie man ihr während eines Spaziergangs durch Barcelona vermutlich fast täglich begegnen könnte, in die melodramatische Konstruktion einbricht, interessiert sich der Film nur für die blutige Nase seiner durch und durch erlogenen Hauptfigur.

Lukas Foerster

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Der Mensch denkt, das "Adjustment Bureau" lenkt. Und zwar, um den denkenden Menschen nicht zu verstören: möglichst behutsam. Ein verschütteter Kaffee hier, ein kleiner Schubs da, Minimalinvasion um Minimalinvasion wird die aus den Fugen geratene Welt in einen gottgefälligeren Zusammenhang zurückgestellt. Falls man Gott sagen will und die Hüte tragenden Hüter des geheimdienstlich agierenden Büros also als Engel betrachtet. In dieser Verfremdung theologischer Muster durch scheinbare Säkularisierung liegt denn auch die größte und leider beinahe einzige Attraktion dieses Films, der sich ohne viel Murren in die inzwischen recht lange Reihe nicht wirklich gelungener Versuche fügt, eine originelle Philip-K-Dick-Idee zu einem konventionell funktionierenden Spielfilm zu walzen.

(Kurzes Aside: Die Anfang der Fünfziger Jahre im Magazin Orbit Science Fiction erstveröffentlichte Kurzgeschichte - Titel: "Adjustment Team" - ist dank eines kleinen Copyright-Versäumnis-Schubsers in der Public Domain, die genauen Gründe kann man in der Wikipedia nachlesen ebenso wie Näheres zum Versuch, das Versehen nachträglich zu korrigieren: "Adjustment Team" was incorrectly included in renewal Registration Number RE0000190631 (1983-11-22) War veteran, and other contributions by Philip K. Dick, as (In Imaginative tales, Sept. 1955) Adjustment team. Pub. 1955-07-07; B00000542735.))

Leider wird erwartbarer Weise nicht der Schalt-Plan ins Zentrum gestellt, dem die grauen Männer, selbst im Getriebe nur Rädchen, ohne Sinn für das Ganze gehorchen, sondern eine Liebesgeschichte, die nach dem Willen des Großen Vorsitzenden ("Chairman" im Original) verboten gehört. Dieser Name für Gott ist natürlich sehr hübsch, aber auch ein klein wenig dated. Wie überhaupt die Gesamtkonstruktion als allegorische Gesellschaftskritik im Post-WW2-Paranoia-Jahr 1954 deutlich besser funktioniert haben dürfte denn heute. Wenn - ab hier lese nur die halbwegs spoilerresistente Leserin weiter - die Weltlage damals so furchtbar war, dass eine höhere Macht ihre grauen Hutmänner zwecks fortwährenden Eingreifens losschicken muss: Was zum Teufel hat das Adjustment Bureau seither genau zum Besseren der Menschheit getan? (Der Film gibt immerhin eine simple Antwort auf diese in ihm auch gestellte Frage: Die Menschheit existiert noch.)



"Der Plan" verbindet entlang seiner "amor vincit omnia"-Achse die Politik nach einer Herrentoiletten-Erstbegegnung mit der schönen Kunst, genauer gesagt: mit dem Tanz. Schon wieder. Emily Blunt ist freilich kein Black oder sonstiger Swan. In Ausschnitten, die man sieht, wedelt sie - na gut, vielleicht doch ein wenig bürzelhaft - mit in die Höhe gestrecktem Unterbein und ist eine körperlich ungewöhnlich (nämlich angenehm unfiligran) geratene Tänzerin in relativ modernen Choreografien. Matt Damon dagegen haben wir uns fade vorgetragene Rede für fade vorgetragene Rede als charismatischen Politiker mit großer Zukunft vorzustellen. Da bekommt die Fantasie des Betrachters gut zu tun.

Der Plot selbst wird brav exekutiert. Die Mittel von Drehbuchautor und Regisseur George Nolfi sind auf ordentlichem Niveau in beiden Bereichen doch deutlich beschränkt. Erfreulich ist immerhin, dass inzwischen weite Teile der "Mad Men"-Besetzung in mittelgroßen Auftritten durchs aktuelle Hollywoodkino spazieren: Nach January Jones im interessanteren "Unknown" ist nun John Slattery (Roger Sterling) dran. Dem fliegt bei seinem Ausflug aus der Ad Agency ins Adjustment Bureau vom spitzen Kopf der Hut. Aber auch Terence Stamp macht seine Sache gut. Zum bösen Ende fehlt dem Drehbuch der Mut. Nach Jahre währender Fahrt mit Bus und schicksalsentscheidend tief empfundenem Kuss ist über den Dächern New Yorks darum zuletzt allzu glücklicher Schluss.

Ekkehard Knörer

Biutiful. Spanien / Mexiko 2010 - Regie: Alejandro Gonzalez Inarritu - Darsteller: Javier Bardem, Maricel Alvarez, Eduard Fernandez, Hanaa Bouchaib, Ana Wagener, Manolo Solo, Ruben Ochandiano, Guillermo Estrella

Der Plan. USA 2010 - Originaltitel: The Adjustment Bureau - Regie: George Nolfi - Darsteller: Matt Damon, Emily Blunt, Anthony Mackie, John Slattery, Michael Kelly, Terence Stamp, Daniel Dae Kim, Lauren Hodges, Shane McRae