Im Kino

Goldrichtige Doppeldeutigkeit

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Lukas Foerster
25.11.2015. Kein anatomisches Detail bleibt ausgespart in Gaspar Noés pornografischer Erinnerungslawine "Love". Joel Edgerton ist mit "The Gift" ein schöner, kleiner, fieser Genrefilm über das Fremdwerden des eigenen Zuhauses gelungen.


"Wenn du einmal tot bist, bleiben mir diese Bilder von dir", sagt der Amerikaner Murphy (Karl Glusman) in einer raren Kopulationspause zu seiner französischen Freundin Electra (Aomi Muyock). Der Blick der Liebenden geht dabei durch ein Stereoskop und richtet sich auf ein paar mehr oder weniger explizite Fotografien. Räumlich zeichnet sich Electras Körper vor dem Hintergrund ab, vermeintlich zum Berühren nah. Murphys philosophisch-todessehnsüchtiges Geraune wird von ihr jedoch glattweg abgetan: Electra denkt nicht daran, dereinst tot sein zu müssen, will lieber leben, sich ausprobieren, Drogen nehmen und vor allem immer weiter vögeln: Letzteres ausgiebig mit Murphy, der großen Liebe, aber auch mit anderen, ihrem Ex, zu zweit, zu dritt, zu Dutzenden in einem Sexclub, mal ohne und mal gemeinsam mit ihrem Freund, der bei aller dräuenden Übellaunigkeit die Chance auf zusätzliche Bettgespielinnen nicht verstreichen lassen möchte. Alles kann, aber eines muss: Recht schön abwechslungsreich soll es bitte bleiben, dieses Leben.

Doch schon der Anfang von "Love", der einmal mehr in einem Film von Gaspar Noé eigentlich das Ende ist, hatte vorweggenommen, dass die folgenden und sehr langen 135 Minuten Dauerexzess keinen guten Ausgang nehmen werden: Murphy "fucked it all up", wie er selber in goldrichtiger Doppeldeutigkeit resümiert, während seine katerschweren Augen über die bürgerliche Wohnblockhölle wandern, die inzwischen zu seinem Gefängnis geworden ist. Zu dieser Welt gehören nun seine Freundin Omi (Klara Kristin), das gemeinsame Kind mit Namen Gaspar (!) und sehnsüchtige Erinnerungen an die wilde Zeit mit Electra, über die Murphy erfährt, sie sei spurlos verschwunden. Böser Clou des Ganzen: Freundin und Kind sind in Noés Film die zynischen Mutationen lange zurückliegender Lust, denn mit Omi, erfährt und sieht man später, hatten Murphy und Electra einst einen Dreier. Aus der anschließenden Affäre zwischen Omi und Murphy entstand nach einem geplatzten Kondom das Kind.

Murphys Gesetz weiß schließlich nicht nur, dass schiefgehen wird, was schiefgehen kann, sondern auch, dass aus Spaß schnell Ernst wird, dann "Gaspar" heißt und auf wackeligen Beinchen zu Papa in die Badewanne tapst. Jetzt ist Electra in Eifersucht abgerauscht und es helfen nur noch von ihr hinterlassene, krümelige Drogenreste, um bei Murphy eine spielfilmlange, kein anatomisches Detail aussparende Erinnerungslawine an straffe nackte Körper im goldroten Pornolicht, an Dreier, wilden Klo-, ruppigen Hintertreppen- und schrägen Shemale-Sex loszutreten. Dazwischen immer wieder: Schreien, Kratzen, Hauen. Alles am Anschlag.



Man möchte eigentlich glauben, dass irgendwo in "Love" ein Film sich versteckt hält, der klüger und aufregender ist als dieses öde alternierende Dauerrammeln und Eifersuchtsgezänk, das zu sein er vorgibt. Dass Gaspar Noé, ein echter Hau-den-Lukas der alten Berserker-Schule, hier in 3D gedreht hat, dass Penisse und Brüste, Haare und Gliedmaßen lebensecht in den Kinosaal ragen, einmal sogar Sperma in Zuschauerrichtung spritzt, und dass dieser ganze, unendlich lange Sex oft ausgesprochen schön gefilmt und intensiv zelebriert wird, all das könnte bedeuten, dass "Love" eigentlich auf etwas Anderes hinaus will. Vielleicht ja auf eine Art digitales Reliquiar im Stile von Murphys Stereoskop, angefüllt mit bewegten 3D-Bildern, die so perfekt plastisch erscheinen, dass man fast an ihnen nachzuspüren meint, wie das eigentlich nochmal war mit dem ersten Hautkontakt, mit der Liebe erstem Kuss. Überhaupt "erstes Mal": Liebe gibt es in "Love" vor allem in ihrer ziemlich hysterischen, spätpubertären Gestalt, in der alles ein einziges Sich-Verzehren ist und jedes Abweichen vom Ewigkeitsanspruch der Zweisamkeit durch galliges Ins-Gesicht-Spucken zornesrot bestraft wird. Kein Wunder also, dass das Fremdgehen Murphys in dieser (eigentlich kreuzbiederen) Aufgeblasenheit gar nicht anders als strafend im auslaufenden Sperma des gerissenen Kondoms enden kann.

So viel heilig-romantischer Ernst könnte unter bestimmten Voraussetzungen erträglich sein, Noé aber torpediert die Leidenschaften auch noch durch einen ziemlich bizarren Akt der Selbstdekonstruktion: Murphy, dieser etwas stumpfe, mitunter aggressive ganze Kerl mit Dauererektion, der Filme dreht, von Kubrick schwärmt und sich in seinem Kind plötzlich als kleiner Spießer im Werden wiederfinden muss - dieser Murphy ist natürlich Gaspar Noé selbst. Der inszenierte Selbsthass indes strahlt über, färbt mit milchgrauem Schleier auf alles ab, was hier gesagt, getan und gelebt wird, und lässt aus den großen Liebeswallungen die Luft wie aus einer Gummipuppe. Wenn das Ende des Films den Zauberanfang der gerade gefundenen Liebe zwischen Murphy und Electra idealisiert, traut man den Bildern schon lange nicht mehr über den Weg. "Einmal will ich einfach einen sentimentalen Sexfilm drehen", sagt Murphy irgendwann. Mit "Love" ist Gaspar Noé nicht einmal das gelungen.

Janis El-Bira

Love - Frankreich 2015 - Regie: Gaspar Noé - Darsteller: Karl Glusman, Aomi Muyock, Klara Kristin, Ugo Fox, Juan Saavedra, Aaron Pages - Laufzeit: 135 Minuten

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Unter welchen Voraussetzungen kann man es sich leisten, ein Geschenk nicht zu erwidern? Eine Einladung nicht anzunehmen? Ein Gespräch zu unterbrechen? Um derartige Techniken des Kommunikationsabbruchs, die zu allen modernen, unter der Bedingung der Kontingenz entstehenden sozialen Beziehungen dazugehören, scheint es in "The Gift" zunächst zu gehen: Ein junges Ehepaar hat nach einem Umzug Mühe, einen alten Bekannten aus der Schulzeit des Mannes loszuwerden. Simon (Jason Bateman) plädiert dafür, Gordo (Joel Edgerton, der auch als Regisseur und Drehbuchautor fungiert), einen etwas linkischen, anhänglichen Typ mittleren Alters, ohne Umschweife abzuwimmeln; seiner Frau Robyn (Rebecca Hall) erscheint das zunächst zu harsch. Als dann plötzlich der Hund des Paares verschwindet und alles auf Gordo als Kidnapper deutet, ändert sie ihre Meinung. Aber das ist nur die erste einer ganzen Reihe von Wendungen, die die anfangs überschaubare Situation systematisch, Schritt für Schritt verkomplizieren.

"The Gift" ist kein perfekter Film. Gelegentlich ist er etwas zu umständlich (und geschwätzig) darin, die Figuren dorthin zu manövrieren, wo er sie braucht; und er hat dafür für Anderes zu wenig Zeit, insbesondere für die Arbeitskollegen des Mannes, die wohl das Haifischbecken-Milieu exemplifizieren sollen, in dem Simon sich bewegt, von denen aber lediglich Busy Philipps (warum eigentlich ist die nicht längst ein Superstar?) als Terrorblondine im Gedächtnis bleibt. Dennoch ist Edgerton ein erstaunlich eigensinniges, selbstbewusstes Langfilmdebüt gelungen, das sich traut, sein Publikum über lange Phasen auf falsche Fährten zu locken - und das doch auf mehr hinaus will, als auf das bloße "Ätsch, reingelegt!".

Produziert wurde "The Gift" von Jason Blum, der in den letzten Jahren eine veritable Erfolgsgeschichte hingelegt hat: Wo ansonsten allenthalben darüber gejammert wird, dass neben den sich ständig vermehrenden hypertrophen Blockbuster-Franchises kaum noch andere Formen des populären Kinos bestehen können, beweist seine Produktionsfirma Blumhouse Productions das Gegenteil. Sie hat sich auf klassische Genrefilme im "Mikrobudget"-Bereich (vom deutschen Kino aus betrachtet ein irreführender Begriff - ein paar Millionen kosten die Filme allemal) spezialisiert und feiert mit vergleichsweise kleinformatigen Horrorfilmen und Thrillern einen Kassenerfolg nach dem nächsten.



Außerdem ist Blum dabei, so etwas wie eine Produzentenhandschrift zu entwickeln. Mit erstaunlicher Konsequenz bearbeitet ein großer Teil der von ihm finanzierten Filme ein wiederkehrendes Motiv: das Fremdwerden des eigenen Zuhauses. Sein erster und bisher größter Erfolg, die "Paranormal Activity"-Filmserie, gibt seit 2007 ein Muster vor, das inzwischen von Filmen wie "Insidious", "Sinister", "The Purge" oder jüngst "The Boy Next Door" variiert wird: Stets geht es um einen middle-class-Kleinfamilienhaushalt, der sich in seinem Eigenheim mit Eindringlingen konfrontiert sieht. Manchmal ist die Invasion übersinnlicher, manchmal einfach nur asozialer, im reichlich trashigen "The Boy Next Door" gar erotischer Natur. Und stets stellt sie das bürgerliche Selbstverständnis der Angegriffenen in Frage. Freilich ist dieses Selbstverständnis von Anfang an prekär. Der Terror richtet sich in den Blumhouse-Filmen nicht mehr gegen die klassische, patriarchalisch organisierte Kleinfamilie, sondern gegen junge, schnöselige Neospießer, die Familie eher aufführen als leben und die mindestens auch mit dem Unbehagen am eigenen überangepassten Lebensstil konfrontiert werden. Auch die Wohnungen, die in den Filmen heimgesucht werden, sehen meist etwas zu wohlgeordnet aus, klinisch rein, wie Katalogabbildungen.

"The Gift", der tatsächlich mit einer Wohnungsbesichtigung unter dem Aspekt der Innenarchitektur beginnt, ist nicht nur eine der atmosphärisch stärksten Blum-Produktionen, sondern auch die bislang interessanteste Wendung seines Lieblingsthemas. Und zwar, weil die Bedrohung für einmal keine exakt identifizierbare Form annimmt. Edgertons abgeschlaffter Gordo ist körperlich keine Gefahr, die Spannung bleibt fast durchgängig auf der psychologischen Ebene - und verflüchtigt sich zwischendurch, das ist vielleicht die mutigste Entscheidung des Films, komplett: Auch wenn am Ende doch wieder die Mechanik des Genrekinos lauert (das einen effektvollen, bösartigen Twist parat hat), geht es in "The Gift" im Kern um eine rabenschwarze, fast schon apokalyptische Beziehungsdynamik, für die der arme Gordo nur ein willkürlicher, austauschbarer Auslöser ist. Und die sich in wiederkehrenden Einstellungen spiegelt, die die Wohnräume des Ehepaars in ein klaustrophobisches, fast abstraktes Formenspiel auflösen.

In dieser Hinsicht funktioniert der Film vor allem über die beiden großartigen Hauptdarsteller. Bateman tritt sonst vor allem in Komödien auf und spielt dort mit Vorliebe ein wenig überkontrollierte Typen, deren Leben gerade deshalb aus dem Ruder läuft, weil sie sich vom Leben verschließen, alles in sich hineinfressen. Simon ist eine düstere, aggressive Version dieser Rolle: ein kleingeistiger, ehrgeiziger Despot, der beruflich wie privat über Leichen geht und die eigene Empathielosigkeit zum Grundprinzip seines Handelns macht. Es dürfte eine Weile her sein, dass ein Studiofilm den Mut hat, eine derart unsympathische Hauptfigur einzusetzen. Die eigentliche Attraktion aber ist Rebecca Hall. Fabelhaft anzuschauen, wie die hochgewachsene, etwas vogelartig anmutende Frau langsam aber sicher den Halt in ihrer familiären Existenz und in ihren eigenen Wohnräumen verliert, wie sich das in kleine körperliche Unsicherheiten übersetzt, wie sie irgendwann selbst das einfache am-Küchentisch-Sitzen nicht mehr unbeschwert hinbekommt.

Lukas Foerster

The Gift - USA 2015 - Regie: Joel Edgerton - Darsteller: Jason Bateman, Rebecca Hall, Joel Edgerton, Allison Tolman, Tim Griffin - Laufzeit: 108 Minuten