Im Kino

Regeln des Lustgewinns

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Jochen Werner
02.12.2015. Peter Stricklands "The Duke of Burgundy" ist eine sinnenfrohe, vergnügliche Versuchsanordnung, in der die Dirigentin alleine noch lange keine Musik macht. Yorgos Lanthimos fügt in "The Lobster" seinem aufregenden Werk ungeahnte affektive Dimensionen hinzu.


Die Klingel an der Tür des herrschaftlichen Landsitzes lässt das Spiel beginnen. Mit ihrem Läuten sind die Vorbereitungen abgeschlossen und für die Spielenden gilt es, ihre Rollen einzunehmen. Cynthia, die öffnet, ist nun die feine, aber despotische Dame, Evelyn, die geklingelt hat, das Dienstmädchen. Evelyn soll auf Knien den Boden schrubben, die Unterwäsche waschen, schließlich die Füße der Herrin massieren. Genügen ihre Leistungen nicht, wird sie gedemütigt, darf die Toilette nicht besuchen und wird am Ende des Tages sogar einer drastischen Bestrafung unterzogen, indem Cynthia ihr hinter verschlossener Tür in den Mund pinkelt. Nicht sicht-, aber gut hörbar.

Eine ganze Weile lässt Regisseur Peter Strickland die Implikationen dieser Anfangsszene von "The Duke of Burgundy" als gültig dastehen. Es scheint als hätten Cynthia und Evelyn eine sadomasochistische Beziehung mit klar verteilten Partien. Während Cynthia sich umkleidet, darf Evelyn durch das Schlüsselloch spähen und kann an der Schlafzimmertür lauschen, wie ein Seidenstrumpf raschelnd über glatte Haut gerollt wird. Indem sie das Bein ihrer dominanten Geliebten streichelt, flüstert Evelyn: "So lange ich benutzt werde, bleibe ich lebendig."

Doch eigentlich liegen die Verhältnisse anders. Als sich später im Film die Anfangsszene wiederholt, wird deutlich, dass vielmehr Evelyn genaueste Anweisungen verfasst, wie Cynthia sich in ihrer Rolle zu verhalten hat. Wie lange Evelyn an der Tür auf Einlass warten, wann sie welcher Bestrafung ausgesetzt sein soll, all das wird für Cynthia wie in einem Drehbuch auf kleinen Zetteln notiert. Die Machtachse lässt das allerdings nur auf den ersten Blick in die entgegensetzte Richtung kippen: Evelyn bekommt ihre Befriedigung nur in der Unterwerfung und bleibt darin auf Cynthias darstellerisches Talent angewiesen. "Versuch nächstes Mal, überzeugender zu klingeln", fordert sie in einer Szene, während der Orgasmus noch nachglüht. In diesem Spiel ist sie zwar die Dirigentin, doch das allein macht noch lange keine Musik.



"The Duke of Burgundy" ist ein sehr sinnenfroher, oft vergnüglicher Film über eine eigentlich klinisch anmutende Sache: Die Ordnung sexueller Dynamiken, die Techniken und Regeln des Lustgewinns. Dabei siedelt Peter Strickland seinen Film wie zuvor den gefeierten "Berberian Sound Studio" (2012) erneut in einer hermetisch abgeschotteten Kunstwelt an. Der spielerischen, aber umso präziseren Vermessung der Erotik entspricht die Arbeitswelt der Schmetterlingsforschung, in der Cynthia und Evelyn ebenso wie alle anderen Protagonistinnen des ausschließlich mit Frauen besetzten Films sich verdingen. Was am Tage als liebevolles Beschreiben, Systematisieren und Archivieren von Würfel- und Dickkopffaltern beginnt, kehrt in der Nacht als sortiertes Lieben zurück. Den ästhetizistischen Fetisch auf beiden Seiten dieser Welt kleidet Strickland bildhübsch ein: Es liegt ein wenig Softporno-Glanz à la Jess Franco auf den gepuderten Gesichtern, märchenhaft und schauerlich wie bei Georges Franju wirken die Traumsequenzen der Liebenden, als bester Greenaway-Barock erscheint die Verschaltung von Wissenschaft und Erotik. Wie schon in "Berberian Sound Studio" ist Strickland ein Fan, ein Sammler und Freund kunstvoll arrangierter Hommagen - ein Kopist ist er deshalb keineswegs.

Denn ein reines Amalgam ist sein Film nicht und wenn doch, dann zumindest eines, das sein eigenes Amalgam-Sein immer auf dem Schirm hat, damit spielt und fröhlich zwischen Hochkunst und Camp hin und her kippt. Dazu gehört auch das zeitweilige Ablegen aller narrativen Fesseln, wenn die Kamera sich an der Grenze zum Experimentalfilm bis zu den Fasern der Textilien durchwühlt oder zitternde Blendenflecke leinwandfüllend aufgezogen werden. Einmal, da hat sich wegen einer Bagatelle schon der giftgrüne Keim der Eifersucht in die Beziehung gefressen und Evelyn ihre Anweisungszettelchen dramatisch verbrannt, steigen die Falter aus dem Dunkel von Cynthias Schoß empor und ihre Flügel schwirren zu Hunderten alptraumhaft durch das Bild. Montiert wird das zwar wie in einem Kurzfilm von Stan Brakhage, aber es geht um mehr als um eine Referenz. Wer die komplexen Spielregeln bricht, betritt unweigerlich das Reich des nicht eingehegten, unsortiert-urwüchsigen Verlangens. Das Wiederauftauchen an die Oberfläche gelingt nicht ohne Risse und Löcher im Korsett des Rollenspiels. Cynthia und Evelyn weinen die Tränen eines ganz gewöhnlichen, zwar nicht von der Liebe, wohl aber den Zumutungen des Liebens enttäuschten Paares. Stockend wagen sie einen Neuanfang, zögerlich wird die Türklingel geläutet.

Janis El-Bira

The Duke of Burgundy - GB 2014 - Regie: Peter Strickland - Darsteller: Chiara D'Anna, Sidse Babett Knudsen, Kata Bartsch, Minka Swinn, Gretchen Meddaugh - Laufzeit: 104 Minuten.

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Ein Hummer wolle er sein, antwortet David (Colin Farrell) auf die Frage nach dem Tier seiner Wahl. Hummer werden über hundert Jahre alt und sind Zeit ihres Lebens fruchtbar. Eine gute Wahl, entgegnet ihm die Leiterin des Hotels. Fast alle anderen wollen Hunde sein, daher gebe es auch so viele von denen in der Welt - auch Davids Bruder Bob hatte einige Jahre zuvor ein Leben als Hund gewählt. Aber kaum jemand schlüge ein originelleres Tier vor, weswegen auch so viele Spezies vom Aussterben bedroht seien.

Das Hotel in der Welt von "The Lobster" ist eine Zwischenstation. Alleinstehende Menschen werden verhaftet und dorthin gebracht, auf dass sich innerhalb von 45 Tagen ihre Zukunft entscheide. Dieser Zeitraum steht ihnen zur Verfügung, um eine neue Partnerschaft einzugehen. Misslingt ihnen dies, so werden sie in ein Tier ihrer Wahl transformiert und in den Wäldern ausgesetzt. Die Hausregeln im Hotel sind hart - als Strafe für unerlaubte Masturbation etwa steht das Verbrennen der betreffenden Hand mittels eines Toasters, eine lange und ziemlich schmerzhafte Sequenz in einem Film, der vielleicht erstmals im Werk des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos den Schmerz in all seiner Konsequenz zulässt.

Seinen internationalen Durchbruch erlebte Lanthimos mit "Dogtooth", und auch wenn dessen stilistische Radikalität und eigenwillige Handschrift beeindruckten, so blieb doch eine unauflösbare Ambivalenz. Zu kalt, zu luftdicht versiegelt erschien der absurde Mikrokosmos von Lanthimos' nordkoreanisch anmutender Familienhölle, zu sehr fühlte man sich am anderen Ende eines Mikroskops einer Versuchsanordnung folgend, oder gar auf einen Seziertisch herabblickend, mit dem Skalpell in etwas Rätselhaftem, Faszinierendem, aber ultimativ Leblosem herumstochernd.

Bereits in seinem Folgefilm "Alpen" jedoch fügte Lanthimos seiner experimentellen Konstellation ein neues Element hinzu, mit dem in einer paradoxen Volte auch das Leben zurückkehrte: die Trauer um den Tod, den er gerade durch die Distanz hindurch, mit der er ihn und dem Umgang mit ihm ins Absurde bricht, ungemütlich nah heranholte. "The Lobster" ist nun sein erster Film, der die Traurigkeit wirklich zulässt - und sie neben Wut, Angst und emotionaler Brutalität als Teil eines Gefühlsspektrums darstellt. Das heißt nun keineswegs, dass Lanthimos' radikale Eigenwilligkeit ob ihrer Emotionalisierung abflacht - ganz im Gegenteil. "The Lobster" ist sein bester Film, und einer der schönsten und schrecklichsten des Kinojahres 2015.



Das mag daran liegen, dass eine Emotion hier niemals etwas Simples oder Eindeutiges ist. "The Lobster" ist ein sehr lustiger Film, und Lanthimos holt das Maximum aus der grandios verschrobenen Grundidee heraus, bei der er nicht stehenbleibt, sondern die er über die zweistündige Laufzeit stetig in immer neue grotesk-konsequente Vignetten weiterentwickelt. Sein Humor ist nicht einfach zu verorten, er wechselt die Perspektiven, ist mal auf Täter- und mal auf Opferseite, blutet immer wieder mit einem Wimpernschlag in tiefdunkle Gefilde hinein. "Spielt die Komödien, die lachen machen / Und die zum Weinen sind", forderte bereits Ingeborg Bachmann, und Yorgos Lanthimos baut auf dieser Duplizität einer jeden wahrhaft großen Komödie auf, ohne in ihr zu verweilen. "The Lobster" ist eine messerscharfe Kritik des zeitgenössischen Beziehungskultes, eine bis zuletzt unerlöste Tragödie, und ein Horrorfilm voller Grausamkeit, Wucht und Wut.

Wichtig für diese Komplexität ist die Zweiteilung der Narration. Nach einem verzweifelten Beziehungsversuch, der katastrophisch und blutig endet, flüchtet David aus dem Hotel in die Wälder, wo die "Loner" leben - freilich tun sie das nicht, wie es andere, schlichter gestrickte Filme handhaben würden, in prekärer, aber grundsätzlich romantisch konstruierter Utopie. Stattdessen gerät David in einen weiteren, ebenso rigiden, gefühllosen Entwurf eines Nebeneinanderlebens, das romantische Liebe ausschließt und mit grausamen Körperstrafen sanktioniert. Die knospende Liebe zu einer namenlosen, kurzsichtigen Frau (Rachel Weisz) setzt David folglich, ein makabres Spiegelbild zur ersten Filmhälfte, in dieser Welt der Ausgestoßenen ebenso unmittelbarer Gefahr aus wie die Einsamkeit unter den Angepassten.

Bis zum nachdrücklich finsteren Ende bietet Lanthimos keinen Ausweg an, insofern ist der Kosmos von "The Lobster" nicht weniger geschlossen und unentrinnbar als der von "Dogtooth". Aber er lässt den Figuren, die in ihm zu agieren und zu leben gezwungen sind, ihren Schmerz, ihre Wut und ihre Verzweiflung, und in dieser Großzügigkeit wird er zu einem großen, humanistischen Film.

Jochen Werner

The Lobster - Griechenland 2015 - Regie: Yorgos Lanthimos - Darsteller: Colin Farrell, Rachel Weisz, Ben Wishaw, John C. Reilly, Lea Seydoux, Roger Ashton-Griffiths. Laufzeit: 118 Minuten.

"The Lobster" war auf dem Berliner Filmfestival "Around the World in 14 Films" zu sehen. Ein deutscher Kinostart ist noch nicht angekündigt.