Im Kino

Hauptsache weniger Mensch

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Elena Meilicke
10.05.2012. In Athina Tsangaris "Attenberg" lernt eine junge Griechin, die eigentlich lieber nicht möchte, die wunderbare Welt der Sexualität kennen. Sir David Attenborough hilft dabei. Tim Burton entdeckt in "Dark Shadows" die siebziger Jahre durch die Augen eines erfrischend rigorosen Vampirs.


Tier werden oder Pflanze - Hauptsache, weniger Mensch sein. Marina ist 23 Jahre alt und lebt mit ihrem sterbenden Vater Spyros in einem hässlichen griechischen Küstenort. Eine verkastelte Betonwüste, deren Unwirtlichkeit Spyros, ein Architekt, mit zu verantworten hat. Marina aber fühlt sich wohl hier, sie ist groß und schlank, hat blonde Locken und ein ernstes Gesicht. Im dunkelgrünen Dufflecoat brettert sie auf ihrer Vespa durch regennasse Straßen, hört Françoise Hardy und die amerikanische Band "Suicide", schaut Tier-Dokus und fragt sich, ob sie lesbisch, asexuell oder sonst was ist. Sie hat noch nie mit einem Mann geschlafen und hat auch keine Lust darauf. Aber es gilt das Gesetz der Gattung: "There's a reason why we mammals have taboos. It ensures the propagation of our species, without defects," erklärt Spyros, der die Tochter vor seinem Tod in menschenähnlichen Verhältnissen wissen möchte, sprich: Sie soll endlich einsteigen ins geregelte Spiel von Liebe, Sex und Zärtlichkeit, sie soll teilnehmen am allgemeinen Reproduktionszirkel. Es muss ja weitergehen, in Griechenland.
 
"Attenberg" erzählt davon, wie Marina diesen väterlichen Wunsch auf ihre Weise (über-, unter-) erfüllt. Ethologisch geschult durch die Tierfilme des britischen BBC-Reporters Sir David Attenborough - Affen im Urwald, Seevögel auf der Balz -, beginnt Marina, Erkundungen einzuholen. Sie bittet ihre Freundin Bella um Nachhilfe im Küssen und denkt nach über Schleim und Spucke, das Ganze in einer Mischung aus zarter Neugier und leichtem Ekel, also ungefähr so, wie man Tierfilme schaut.
 
"Biology and not psychology" - auf diese Formel hat Regisseurin Athina Tsangari im Interview mit dem britischen Guardian auch ihr eigenes Verfahren gebracht. "Biology and not psychology", das bedeutet, auf dezidiert a-psychologische Weise von einer Heldin zu erzählen, die im Grunde "lieber nicht möchte". Der kühle Blick der Verhaltensforscher, den "Attenberg" sich aneignet, kennt keine biografischen Untiefen und keine verschütteten Traumata, ist dafür aber in der Lage, menschlichen Sex in seiner Technizität und Künstlichkeit sichtbar zu machen. "Natürlich" oder "einfach menschlich" - das zeigt "Attenberg" ganz deutlich - ist rein gar nichts daran. Das eröffnet neue Möglichkeiten, birgt unter Umständen gar ein emanzipatorisches Versprechen: in "Attenberg" werden auch Kaktuspflanzen und Palmengewächse zu erotischen Objekten. Vage zeichnen sich die Konturen einer nicht-nur-menschlichen Erotik ab, die sich vielleicht lösen kann von der Fixierung auf diesen einen Mann oder diese eine Frau, die zunehmend freischwebend wird - polymorph pervers, würde die Psychoanalyse sagen.
 


Dass Tsangaris zweiter Spielfilm dabei ein wirklich erstaunlicher, eigensinniger und einnehmender Film geworden ist, liegt auch an der Art und Weise, wie "Attenberg" die eigene unterkühlte Forscherperspektive immer wieder in radikale Verspieltheiten aufgehen lässt, in schöne Sinnlosigkeiten, die sich nicht fügen. Da liefern sich die Figuren Sprachgefechte, betreiben Sinnentleerung durch Wiederholung, sprechen Englisch mit griechischem und Griechisch mit französischem Akzent; schon der Filmtitel ist eine Verballhornung, korrumpierte Sprache. Noch mehr als die Sprache allerdings wird der Körper zum Material und Ausdrucksmedium dieses Kinos: "Attenberg" ist voll von seltsam verfremdeten Körperbildern, zwei Paar Knie in Großaufnahme, ein einzelnes Schulterblatt, das auf irgendwie schockierende Weise hin- und herwackelt.
 
"Biology and not psychology", das bedeutet für Tsangari auch: "I'm not at all into method acting and all those ways of preparing actors. It's very, very physical". Konsequenterweise werden Bella und Marina nicht von Schauspielerinnen, sondern von ausgebildeten Tänzerinnen dargestellt (Evangelia Randou und Ariane Labed, die 2010 in Venedig den Preis als beste Schauspielerin gewann). Wie richtig es war, Tänzerinnen statt Schauspielerinnen zu besetzen, zeigt sich nicht nur in den zahllosen Tier-Imitationen (Bella und Marina als Katzen, Vögel, Affen, tief in der Hocke, mit aufgeblähtem Brustkorb, sich gegenseitig anspringend), sondern wird besonders deutlich in einer Serie von Einstellungen, für die sich Tsangari auf hinreißende Weise bei Fassbinders "Katzelmacher" bedient hat (einem Film, in dem ja bekanntermaßen ein "Griech' aus Griechenland" eine wichtige Rolle spielt). Genau wie dort statische und streng kadrierte Tableaus in regelmäßigen Abständen durch bewegliche Einstellungen aufgebrochen werden, in denen jeweils zwei Figuren frontal der Kamera entgegenflanieren, gibt es auch in "Attenberg" immer wieder fast performance-artige Geh-Szenen, Vignetten, die aus der Narration fallen und die Spielfilmhandlung unterbrechen: Marina und Bella, beide in geblümten Kittelschürzen, schreiten Arm in Arm der Kamera entgegen, mal würdevoll, mal in kleiner Choreografie mit keckem Tanzschritt, mal in ausgreifenden Raubtierbewegungen. Ziemlich toll.
 
Wenn am Ende Marina ihre Freundin Bella bittet, ein letztes Mal mit dem todkranken Vater zu schlafen, dann ist dieser ebenso ödipal wie nekrophil getönte Akt gleich doppelt "pervers": er steht quer zu den Tabus, von denen der Vater eingangs sprach, und quer zum Gebot der Prokreation. "Attenberg" ist Tanzfilm und Tierfilm. Ganz groß gegen das Gesetz der Gattung.
 
Elena Meilicke

---



Auf seinem nicht enden wollenden Streifzug durch die Vergangenheit der Popkultur begibt sich Tim Burton diesmal auf eher obskures Terrain: "Dark Shadows" ist die Adaption der gleichnamigen übernatürlichen Daily Soap um den Vampir Barnabas Collins, die in den späten Sechzigerjahren in den USA Kultstatus erlangte. Und bis zu einem gewissen Grad bis heute behalten hat, das beweisen unter anderem zahlreiche VHS- und DVD-Veröffentlichungen: Für gewöhnlich gelten klassische Seifenopern als unverkäuflich auf dem home-cinema-Markt, "Dark Shadows" allerdings erscheint diesen Juli als "Complete Series Box Set" auf sage und schreibe 131 DVDs.

Die Originalserie wurde im Jahr 1971 abgesetzt. Burton siedelt seine Version ein Jahr später an: Barnabas (Tim Burtons Hofschauspieler Johnny Depp, wer sonst; besonders anstrengen muss er sich diesmal nicht, das meiste erledigt der Maskenbildner für ihn) wird, nachdem ein Prolog im späten 18. Jahrhundert ihn in einen mit Eisenketten verschlossenen Sarg verfrachtet hat, im Jahr 1972 während Bauarbeiten ausgegraben. Über dem malerischen Fischerort Collinsport, Maine trohnt immer noch das alte Anwesen seiner Familie. Eine reichlich angestaubte gotische Fantasie, bewohnt von seinen vier letzten Nachfahren, die dem Familienandenken nicht unbedingt Ehre machen: Die dekadente Spätadelige Elizabeth Collins Stoddard (Michelle Pfeiffer), deren rebellische Tochter Carolyn, ein junger Cousin namens David und dessen Vater Roger, ein windiger Playboy.



Außerdem mit von der Partie: eine kratzbürstige Psychologin (Helena Bonham Carter), eine verführerische Hexe (großartig: Eva Green) und ein parapsychologisch begabtes Unschuldslamm (Bella Heathcote). Der in solchen Figuren eigentlich angelegte melodramatische Seifenopernwahnwitz des Originals wird in der Kinoadaption zwar nicht vollständigt ausgereizt und tendenziell zugunsten der specialeffectsbefeuerten Eskalationslogik des Blockbusters gebändigt (der Film zieht sich zusammen, wo er sich eigentlich, aus seiner eigenen Logik heraus, immer weiter entgrenzen sollte), zwischendurch geht es aber auch bei Burton erfrischend rigoros zur Sache: Da werden (offscreen) am Hippies am Lagerfeuer niedergemetzelt und unliebsame Kontrahenten nonchalant im Meer versenkt.

Wenn man Thomas Pynchons letztem Roman "Inherent Vice" glauben kann (und das kann man selbstverständlich eigentlich überhaupt nicht), dann war der Erfolg der Serie nicht zu trennen von der blühenden Drogenkultur der Gegenkultur in den ausklingenden Sechzigerjahre: vom eigenen Idealismus im Stich gelassen versankt man zugedröhnt im Plüschsofa und ließ sich bereitwillig in eine neoviktorianische Parallelwelt entführen. Ein wenig denkt Burton sein Remake durch eine derartige Rezeption hindurch, wenn er Collinsport in türkisen Farbfiltern und verwaschen wirkenden Unschärfen badet. Was für seinen Film, der ansonsten nicht unbedingt rund ist und teilweise erschreckend hässlich ausschaut, einnimmt, ist sein kompliziertes Verhältnis zu dem für Burtons gesamtes Werk zentralen nostalgischen Impuls.

"Dark Shadows" 2012 ist zwar in erster Linie eine Liebeserklärung an die Lavalampen und Discokugeln der Siebzigerjahre, an den groovenden Soul Curtis Mayfields und die Geschmacklosigkeiten des frühen glam rock. Aber der Film lässt sich nicht einfach nur fallen in gemütliche Erinnerungsbilder. Statt dessen erschließt er die Welt der Siebziger durch die Augen des Vampirs Barnabas, erlebt sie mit ihm als ein Fremdes. Die eigentliche Attraktion im gotischen Spukschloss ist nicht die geheime Schatzkammer, auch nicht der Fluch, der auf ihm lastet, sondern das knallbunte Jugendzimmer Carolyns; und Gaststar Alice Cooper muss sich inzwischen kaum noch schminken, um zum untoten Widergänger seiner selbst zu werden.

Lukas Foerster

Attenberg - Griechenland 2010 - Regie: Athina Rachel Tsangari - Darsteller: Ariane Labed, Evangelia Randou, Vangelis Mourikis, Yorgos Lanthimos, Kostas Berikopoulos, Michel Demopoulos - Länge: 95 min.

Dark Shadows - USA 2012 - Regie: Tim Burton - Darsteller: Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Helena Bonham Carter, Eva Green, Jonny Lee Miller, Chloe Moretz, Gulliver McGrath, Jackie Earle Haley, Bella Heathcote, Thomas McDonell - Länge: 112 min.