Im Kino

Heilungswunder

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
05.08.2009. In seinem Gangsterfilm "Public Enemies" findet Michael Mann gegenwärtige Bilder, die die Welt noch nicht gesehen hat, für die dreißiger Jahre. Und Pedro Almodovar löst in "Zerrissene Umarmungen" alle selbstgestellten Aufgaben mit Bravour. Es fragt sich nur, was es bringt.

Männer bei der Arbeit. Eine Fabrikhalle, die Männer tragen gestreift. Ein Knast. Die Kamera, auf Höhe der Tischfläche, zeigt, was auf Tischen liegt und zeigt, was Hände tun. Dann Schnitt. Auf Höhe der Köpfe, entschlossene Gesichter, Männer, die gestreift tragen in Bewegung, die Kamera bewegt sich vor ihnen zurück. Dann wieder die Hände: Sie falten etwas auf, sie stecken etwas hinein, sie tun heimlich, die Kamera rückt ihnen auf den Leib und hält niemals still. Schwenk ins Gegenlicht, ein Aufseher im Bild, Männer in gestreifter Bewegung. Dann Handgemenge, entwundene Waffen, Wogen von kämpfenden Männern. Reißschwenks, Großaufnahmen von fliegenden Fäusten und würgenden Händen.

Das ist eine der ersten Szenen von "Public Enemies". John Dillinger, in den ersten Bildern des Films in den Knast verbracht, bricht in einer von den Mitgefangenen konzertierten Aktion wieder aus. Diesen Ausbruch orchestriert Michael Mann mit Blicken, die er überall hat, mit Blicken, die keine Ruhe suchen. Sie nannten Dillinger damals, in den frühen Dreißigern, in seiner großen Zeit als Mörder und Räuber: den Hasen, weil er geschmeidig und flink und nicht greifbar über die Schalter und Tische der Banken sprang bei den Überfällen, weil er wieder und wieder entkam, man wusste nicht wie. So einem kann einer wie Michael Mann, der sich und seinem Publikum nichts lieber gibt als Bilder von handelnden Männern, nicht widerstehen, weil er die geschmeidige und die rasche, jedoch niemals hektische Bewegung liebt und die Schnelligkeit und das Zugreifen der Hände und das Reagieren in Sekundenbruchteilen.

Also widersteht er ihm nicht. Sondern gibt ihm Raum, gibt ihm die Gestalt von Johnny Depp, gibt ihm Schnitte, die sich den blitzschnellen Aktionen Dillingers anschmiegen und eröffnet das Feuer in Montagesequenzen, in denen das Licht aus der Mündung von Dillingers, seiner Leute und seiner Gegner Waffen spuckt, als wär es eine Naturerscheinung in den Straßen der Stadt und später dann in einer Hütte und darum herum mitten im Wald. Die Welt, wie Michael Mann sie sieht: Eine Welt aus kurzen Hinblicken, ein Spiel aus Schatten und grellem Licht, Bildern von rascher Bewegung in rasch bewegten Bildern, das alles hoch aufgelöst im Momente, Fragmente, fast immer sind beim Dreh gleich drei Kameras gleichzeitig im Spiel, denen nichts, kein Aspekt des Ereigneten, für die spätere Montagekomposition entgehen soll.

Und doch. Wenngleich "Public Enemies" auf der Stelle - und an eigentlich jeder Stelle - als Michael-Mann-Film zu erkennen ist, gilt Bild für Bild für Bild dieses neuen Films: Dergleichen hat die Welt noch nicht gesehen. Seit "Ali" - und damit als einer der ersten auf Hollywood-Big-Budget-Niveau - dreht Michael Mann mit Digitalkameras. Nicht im Glauben, dass das Digitale dasselbe leisten kann wie die emulsive Lichtchemie einer gut hundertjährigen Tradition. Ganz im Gegenteil möchte Mann wissen, wie, was vor die Kamera kommt, deutlich anders aussehen kann, wenn die Kamera der Wirklichkeit nun nicht mit lichtempfindlichem Film, sondern mit Sensoren gegenübertritt, die Bildsignale in Elektroimpulse verwandeln. Er experimentiert mit den anderen Schärfen und dem anderen Rauschen des Lichts und vor allem der Dunkelheit, er sucht nach den Effekten, die das Digitale Pixel für Pixel macht.


In "Public Enemies" ist das Experiment radikal wie noch nie aus zwei Gründen. Der eine Grund ist die Kamera selbst. Die Sony CineAlta F23 nämlich erlaubt Schärfen und Kontraste in einer Auflösung, die man so aus dem Kino nicht kennt. Wenn einem die Bilder des Films von irgendwoher vertraut vorkommen, dann nur aus dem ganz anderen Logiken gehorchenden Raum der Videokunst, etwa eines Bill Viola oder eines Julian Rosefeldt, dessen Arbeiten Tom Tykwer in der Guggenheim-Sequenz von "The International" noch lustvoll zerschießen ließ. Abseits aller Theorieüberlegungen zur Differenz von Video und Film ist das ein Unterschied, der zunächst einmal ganz phänomenologisch ans durch Tradition eingefleischte Wahrnehmen und Empfinden geht: Was man sieht, ist nicht die Welt, wie man sie als Wirklichkeit des Kinos kennt. Diese neue, andere Welt ist überscharf und übergenau und überklar und gleißend und wir können gar nicht anders, als immerzu die Augen aufzureißen angesichts des Informationsreichtums dieser abertausendpixelig hochaufgelösten Bewegungsbilder.

Man könnte eine Hymne schreiben, zwischen Faszination und Verstörung, über die Poren der Haut, die schneidenden Kanten zwischen Lichtblitz und Dunkelheit, über den Tau, den Dampf, das Blut, das Fluten der Räume mit Helligkeit, das so anders und vom Auge unerfahrene Stoffliche von Natur, Mensch und Ding; alles ganz neu überlebensgroß und überwältigend und zugleich gnadenlos scharf auf der Leinwand. (Man muss den Film, was nur in ausgewählten Kinos möglich ist, unbedingt in digitaler Projektion sehen. Dafür ist er gemacht. In herkömmlicher Projektion ist es nicht der Film, den Mann gedreht hat.)

Dies aber nun ausgerechnet als Historienfilm. So sieht nicht irgendeine Wirklichkeit aus, sondern die der dreißiger Jahre. Mit der von Mann und seinem Stab gewohnten Detailgenauigkeit ist sie reproduziert, ist sie nach eingehenden Recherchen so wie sie war, wiederhergestellt. "Public Enemies" ist ein Ausstattungsfilm, der die Vergangenheit heraufbeschwört - aber: frisch wie am ersten Tag. Der Film folgt einem Sachbuch und Mann ist sehr stolz darauf, dass die Fakten stimmen. Von Dillingers Flucht aus umstellter Hütte über die Innovationen von FBI-Chef Edgar J. Hoover bis zum dreisten Besuch kurz vor dem Ende auf einer Polizeistation.

Und dann spielt die historische Wahrheit Mann auch noch in jener Sequenz in die Hände, an deren Ende Dillinger auf der Straße geschnappt und getötet wird. Verraten wird er von einer erpressbaren Freundin, die den Fahndern um Melvin Purvis (Christian Bale) vom gemeinsamen Kinobesuch erzählt. So setzt Mann seinen Gangster ins Kino der Zelluloid-Ära und lässt Clark Gable von der Leinwand der Dreißiger Jahre leinwandgroß ins digitale Zeitalter grüßen. Und dann geht er hinaus in diese vergangene Wirklichkeit aus überscharfen Bildern und stirbt. (Der Kinobesuch ist die Inversion der Guggenheim-Sequenz bei Tykwer. Und der ganze Unterschied: Einer wie Tykwer ist beim Blick nach vorne rückwärtsgewandt. Und einer wie Mann geht mit einem Blick zurück in die Zukunft.)

Realismus ist für das, was "Public Enemies" will, nicht ganz das richtige Wort. Mann will nicht einfach nur das Reale (als historisch Abgesichertes, als mit äußerster Sorgfalt Ausgestattetes), sondern er will die Vergangenheit als schiere Gegenwärtigkeit. Das ist das Unheimliche dieser Vergangenheit bei ihrem Auftritt in ungeahnten Bildern: Sie ist zum Schein nicht nur real, sondern, was etwas anderes und ziemlich verstörend ist: präsent. Was man sieht, trägt, trotz nie übersehbarer Vergangenheits-Marker, alle bildsprachlichen Insignien des Gegenwärtigen. Das ist der tiefere Grund der Irritation, die von diesem Film ausgeht. Gewiss, die Bilder sind für sich atemberaubend genug - und noch einmal atemberaubender als in Manns in manch anderer Hinsicht gelungenerem Vorgänger "Miami Vice". Wie aber "Public Enemies" uns aus allen gewohnten Bilderträumen vom Vergangenen reißt und jeden gemütlichen Historienfilm-Illusionismus von der ersten Einstellung an mit einer dargestellten Welt aus digitalen Präsenzen unterläuft: Das muss gesehen haben, wer wissen will, wie Welt, Bild und Wirklichkeit einander ästhetisch wie technologisch höchst heutig begegnen.

***


Ein dunkelrotes Sofa in Rückansicht. Die Kamera auf dem Boden sieht und zeigt nur, was oberhalb der Lehne geschieht. Ein Rücken, der sich als hingestreckter Leidenschaftshügel bewegt, weiter unten ein Fuß, der sich klammert. Das ist Sex auf dem Sofa, wie Pedro Almodovar ihn vorführt. Ein visueller Scherz, ein Spiel mit dem, was in den Blick fällt und was nicht. Was man bis hierhin weiß: Der hier Sex hat, ist blind. Harry Caine nennt er sich, sein richtiger Name ist das nicht. Man sieht, wie er in seine Schreibmaschine tippt, man sieht seine Finger auf Braille-Schrift, man sieht seine Hände zärtlich fummelnd am Vorleserinnen-Gesicht. Dann geht's auf die Couch.

Und von da geht es noch ganz anderswo hin. In die Vergangenheit, die als Rätsel schon die ersten Bilder bedrängt: Wer ist dieser Caine, warum ist er blind? Die Geschichte, die dahintersteckt, erzählt Almodovar in seinem Film. Sie ist kompliziert, unnötig kompliziert, könnte man sagen. Andere These: Der spanische Regisseur begreift dieses Werk im Moment, in dem er längst ein Gegenwartsklassiker ist, als Summe, in der er wichtige Motive seiner Filmografie noch einmal arrangiert und versammelt.

Er macht dafür viele Bilder, viele Handlungsstränge, viele Worte und viele Bewegungen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Gegenwart und Vergangenheit, Bildern des Films und Film- im Film-Bildern. Welches ist das Schnürchen, an dem man am besten zieht, um die so elegant ineinandergewebten Maschen zu lösen? Es ist Lena (Penelope Cruz), Almodovars Muse, hier als Frau zwischen zwei Männern und zwischen den Bildern. Sie ist, Rückblende, Sekretärin eines Industriellen. Sie wird, Rückblende, Hauptdarstellerin im Film "Mädchen und Koffer" des Regisseurs Mateo Blanco. (Wir erkennen in ihm wieder: Harry Caine. Er ist noch nicht blind.) Der Film "Mädchen und Koffer" erinnert die, die es kennen, an Almodovars eigenes Werk "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs".

So gehen die Echos heftig durch diesen Film. Was sich entwickelt: ein Eifersuchtsdreieck. Mateo verliebt sich in Lena, was der Industrielle, der den Film finanziert, mit Argwohn verfolgt. Er schickt seinen übrigens schwulen Sohn, der später wieder auftaucht mit einer Drehbuchidee für den nun erblindeten Caine, mit einer Kamera zu den Dreharbeiten. Wir sehen also: Bilder vom Film, Bilder vom Dreh und Bilder von der Doku, die der Sohn vom Dreh dreht. Das ist schon, werden Sie zugeben, recht kompliziert.

Almodovar jedoch gelingt es, mit geradezu maßloser Eleganz seine Schachteln in Schachteln zu einem Ganzen zusammenzuschnüren, das eher ganz als verschachtelt aussieht. Dazu bedarf es regelmäßiger an Hitchcock-Musik gemahnender Aufwallungen auf der Tonspur, gleitender, immer nur gleitender Bewegungen - Fahrten und Zooms - einer Kamera, die, was sie zeigt, wie in Seidenpapier verpackt. Es ist, als hätte sich Almodovar eine Aufgabe gestellt: Eine in möglichst viele Splitter und Reflexionen und Spiegeleffekte auseinanderfallende Geschichte erfinden und das, was darin Riss und Schmerz und Verletzung sein müsste, mit den Mitteln des Kinos auf der Stelle zu heilen.


(Kurze Abschweifung zur auf zugleich absurde Weise grandiosesten Szene des Films. In einer sehr langen, mutmaßlich mit einer Steadicam aufgenommenen Plansequenz sehen wir Mateo Blanco während einer Drehpause durch Studiogänge streben, immer auf die Kamera im Rückwärtsgang zu. Almodovar schneidet das nicht und folgt in einer einzigen Bewegung durch die Tür zur Garderobe, hinter der nun Lena auf ihn wartet. Langer Anlauf als Vorspiel, lustvolles Dringen durch geschlossene Tür: das ist Kamerasex. Eigentlich ist der reale Beischlaf, der dann folgt, redundant. Und eben das, diese Redundanz, ganz bezeichnend für den Film.)

Alle Aufgaben, die Almodovar sich hier stellt, löst er mit Bravour. Es fragt sich nur, ob er damit etwas gewinnt. Alles, was rohe Empfindung sein müsste und früher bei Almodovar selbst in grotesk-ironischer Verdrehung noch rohe Empfindung war, ist jetzt durch Rahmungen sonder Zahl (man achte auf die Spiegel!) und durch sehr raffinierte Bild-und-Ton-Widerspiele abgefedert, gedämpft und aufs Angenehmste für den Genuss edlen Leids durch den Betrachter bereitet. Man kann dies Heilungswunder, das Wut und Leidenschaft, eigentlich alle Ernsthaftigkeit des Fühlen und Denkens im Bild-Arrangement aufhebt, bestaunen. Man kann sich aber auch fragen, was eine solch zugleich meisterliche wie anästhesierende Kunst einem eigentlich noch bedeutet.

Public Enemies. USA 2009 - Regie: Michael Mann - Buch: Ronan Bennett, Michael Mann, Ann Biderman - Darsteller: Johnny Depp, Christian Bale, Marion Cotillard, Billy Crudup, Stephen Dorff, Stephen Lang, Giovanni Ribisi, Channing Tatum, Stephen Graham

Zerrissene Umarmungen. Spanien 2009 - Originaltitel: Los Abrazos Rotos - Regie, Buch: Pedro Almodovar - Darsteller: Penelope Cruz, Lluis Homar, Blanca Portillo, Jose Luis Gomez, Lola Duenas, Ruben Ochandiano, Angela Molina, Rossy de Palma