Im Kino

Ins neutral Helle

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
18.10.2016. Philip Widmann interessiert sich in "Ein Haus in Ninh Hoa" für die Rückseite der Dinge. In Alex van Warmerdams Menschenjagdfilm "Schneider vs. Bax" scheint die Sonne, wärmt aber nicht.


In "Ein Haus in Ninh Hoa" vermisst Regisseur Philip Widmann in Zusammenarbeit mit Nguyen Phuong-Dan eine Familie, die im Süden Vietnams lebt. Mehr noch vermisst er die Abwesenheiten in dieser Familie. Eine Studie des Vermessens und Vermissens in ruhigen, durchdachten, manchmal arg musterhaften Bildern und Tönen, die den Alltag dieser Familie begleitet. Die täglichen Handgriffe, Begegnungen, die Leere dazwischen. Es sind Erinnerungsbilder, in denen das fehlt, an das man sich erinnert.

Widmann ist zufällig auf diese Familie gestoßen, die in zwei Hälften lebt. Ein Teil lebt nahe Bonn in Deutschland, der andere Teil ist in Vietnam geblieben. Nach großartigen ersten Minuten, in denen sich der Film äußerst sanft und behutsam an seine Protagonisten annähert und gleichermaßen klarmacht, dass Blicke täuschen können, öffnet sich ein rudimentäres Handlungsgerüst, das eigentlich eine Familiengeschichte ist. Eine Familiengeschichte im Verhältnis zur großen Geschichte des Landes. Man denkt dabei unweigerlich an das Kino von Yasujiro Ozu oder Hou Hsiao-hsien, nicht zuletzt, weil Widmann deren Liebe zu offenen Türen und Rahmungen teilt. Auch wenn sie bei ihm vermehrt im Hintergrund von einer Abwesenheit erzählen. In dieser Familie hat der Filmemacher ein Sinnbild gefunden für eine schwebende Beziehung zwischen Vietnam, Deutschland und einer Nationalgeschichte.

Es geht nicht nur um die Abwesenheit eines Teils der Familie, sondern auch um ein Stück nationaler Identität, das gesucht wird. Die Suchenden sind zwei Besucher aus Deutschland. Sie kümmern sich zum einen um den Verkauf des leerstehenden Hauses in Vietnam, das auf die Rückkehr des deutschen Teils der Familie gewartet hat und zum anderen um den hungrigen Geist des verschollenen Onkels. Widmann verfolgt Gespräche über den Zustand des Hauses und die Frage, was man tun würde, fände man den Geist. Drei Brüder markieren die Abwesenheit innerhalb der Familie. Ein in den 1970ern nach Deutschland berufener Diplomat, der dort geblieben ist, weil das Land, das er vertreten hatte, nach Kriegsende nicht mehr existierte. Ein verschollener Soldat, dessen Geist nun eben gesucht wird. Und der einzige männliche Bewohner im Haushalt, der nach dem Krieg in einem Umerziehungslager war. In einem der immer häufiger werdenden Dialoge geht es um den Verlust eines vietnamesischen Bewusstseins. Es gibt in den Ausgewanderten nur mehr eine Erinnerung an Vietnam. Dieses Verlustgefühl zieht sich den ganzen Film hindurch. Der Film zeigt, dass ein Krieg nie aufhört anzufangen und nie anfängt aufzuhören.



Häufig zeigt Widmann Objekte oder Räume aus ungewöhnlichen Perspektiven, er widmet sich den Rückseiten der Dinge. Wie in vorherigen Arbeiten fasziniert er sich für Formen und Oberflächen von Türen, Fenstern oder Lampen. Es entwickelt sich derart auch eine Beziehung zwischen den Räumen und den Menschen, die in ihnen leben, gelebt haben oder gelebt hätten können. Damit zeigt der Filmemacher auch seine eigene Fremdheit an diesem Ort, diese Invasion in eine Familie, die nie wie eine Invasion wirkt. Es ist vielmehr ein sanftes Gleiten, das den Protagonisten immer wieder Augenblicke der Stille erlaubt. Oft stehen die Familienmitglieder und rauchen oder sitzen einfach an einem Tisch. Dann arbeiten sie wieder, manchmal sprechen sie. Nur die Großmutter ist ein herrlicher Kontrapunkt in der sonst durchgehenden Melancholie. Die Familiengeschichte drückt sich bis auf eine etwas aufgesetzte Schlussszene fast beiläufig in den Gesprächen über den verschollenen Onkel und das zu verkaufende Haus aus.

Die filmische Erinnerungsarbeit wird an manchen Stellen ein wenig zu deutlich zu einer Erinnerungsarbeit der Figuren. Das ist zwar ein edles Unterfangen, da der Film so nicht in seinem eigenen Selbstzweck versinkt, aber vergleicht man diesen demokratischen Ansatz mit jenem von Pedro Costa in dessen Fontainhas-Filmen, fehlt ein wenig der ästhetische, abstrahierende Schutz für die Figuren. So macht Costa die Spuren und Narben in den Menschen sicht- oder besser spürbar, während Widmann eine Spurensuche illustriert. "Ein Haus in Ninh Hoa" legt Schicht für Schicht alles offen. Ein wenig zu viel Chronologie und Klarheit für so viel Unklarheit und Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Doch das sind kleine Unstimmigkeiten, die den Gesamteindruck nur minimal stören. "Ein Haus in Ninh Hoa" ist ein Film von großer Offenheit, nicht in seiner Konstruktion, sondern in seiner Wahrnehmung. Ein sinnliches Lehrstück darüber, was es heißt, auf fremde Menschen zuzugehen, sich zu interessieren, zuzuhören.

Patrick Holzapfel

Ein Haus in Ninh Hoa - Deutschland / Vietnam 2016 - Regie: Philip Widmann - Laufzeit: 108 Minuten.

"Ein Haus in Ninh Hoa" war auf dem Festival Underdox in München zu sehen. Der Kinostart folgt Januar 2017.


---



Die Sonne scheint, wärmt aber nicht. Alles ist hell, jedoch nicht im Sinn von gleißend oder glitzernd, eher im Sinne einer Abwesenheit von Dunkel, alles muss erst einmal sichtbar sein, maximal transparent. (Erst die Erzählung führt Unterscheidungen ein, lässt taktische Unsichtbarkeiten zu). Der Lieferwagen, mit dem Schneider (Tom Dewispelaere) sich auf die Jagd macht, ist neutral und klinisch weiß; ebenso das Haus, in dem seine vermeintliche Beute, Bax (Alex van Warmerdam, der auch Regie führt), wohnt: die Wände innen wie außen reinweiß, die Inneneinrichtung in lichten Farben gehalten, minimalistisch-langweiliges state-of-the-art-Design, Möbelhauskatalogtristesse. Man sehnt sich, wenn man das sieht, weniger nach Schmutz als nach ästhetischer Unordnung, nach der einen oder anderen naiven Geschmacklosigkeit.

Freilich ist dieses Haus für van Warmerdams "Schneider vs. Bax" nicht als Lebensraum interessant, sondern als Spielfeld. Strategisch platziert im menschenleeren Nirgendwo, fast von allen Seiten von Wasser und Schilf (in dem man dann, das macht sich die Erzählung zunutze, doch unsichtbar werden kann) umgeben, mit dem Rest der Welt nur durch eine kleine, weithin einsehbare Zufahrtsstraße umgeben, wird es zum Schauplatz einer Menschenjagd, deren besonderer Dreh schon in den ersten Minuten etabliert wird: Nicht nur Schneider jagt Bax, auch Bax jagt Schneider, beide sind Serienkiller, beide haben denselben Auftraggeber.



Ein Nullsummenspiel, das ist von Anfang an klar. Dem erst einmal weiteres Spielmaterial zugeführt wird. Meist, indem Autos vor dem weißen Haus von Bax vorfahren. Die interessanteste Figur des Films steht schon früh bei ihm auf der Matte: Francisca, seine Tochter, gespielt von Maria Kraakman, die unter anderem aus Anouk Leopolds "Îles flottantes" und "Guernsey" bekannt ist. Die genuin verstörenden, jegliche Hoffnung auf zwischenmenschlichen Trost zurückweisenden Psychosen, die sie für Leopold ausagiert, scheinen auch diesmal durch. Einmal meint sie: "Ich weiß nicht, Papa, wie das geht: leben". Ein wenig später driftet sie ziellos durch eine Sumpflandschaft in der Nachbarschaft des Hauses und zieht für eine Weile in eine Holzhütte mit offenem Dach, die ein wenig wie die Ruine einer kleinbürgerlichen Sehnsucht ausschaut. Für ein paar Minuten verdichten sich die im ganzen Film präsenten (oder leider besser: strategisch verteilten) Ahnungen psychischer Abgründe zu tatsächlich abgründigen Bildern von einigem Gewicht.

Aber Francisca wird nur zu bald aus ihrer gespenstischen Gegenwelt zurück aufs Spielfeld, ins neutral Helle gezerrt. Wo das Diktat der unbedingten Sichtbarmachung herrscht und wo sie schließlich lernen wird, den Drogenkonsum ihres Vaters zu akzeptieren (eigentlich ist das Doping, legt die Handlungsentwicklung nahe) sowie mit einem Gewehr umzugehen. Bei den anderen Neuankömmlingen ist von Anfang an klar, dass sie für den Film lediglich als retardierende Momente interessant sind. Der im Titel versprochene Zweikampf wird herausgezögert, auf Nebenkriegsschauplätze abgelenkt: Jemand verliert einen Daumen, eine mysteriöse Figur nähert sich auf einem Ruderboot, ein alter Widerling begeht seinen letzten sexuellen Übergriff. Am Ende läuft freilich trotzdem alles auf Schuss und Gegenschuss, aufs wechselseitige Justieren von Gewehrläufen und Sichtlinien, hinaus.

Man kann es dem Film fast zugute halten, dass van Warmerdam seinem bis in die Blickanordnungen hinein mechanistischen Drehbuchräderwerk diesmal, anders als im ähnlich gelagerten Vorgänger "Borgman", keine passgenau zurechtkonstruierte politische Allegorie überstülpt; dass er keine Aussagen über den status quo der Festung Europa zu treffen behauptet, sondern sich höchstens ein wenig über überkommene Familienideologie lustig macht (wobei es allerdings nicht gerade der avantgardistische Gipfel subversiven Filmemachens ist, Auftragskiller als ganz normale Familienväter darzustellen) und seine Ambitionen ansonsten ganz darauf beschränkt, seinen Genreplot technisch ansprechend durchzuexerzieren. Freilich wird der beschränkte Horizont des van Warmerdam'schen Setzkastenkinos, dem es vielleicht in erster Linie an innerer Spannung fehlt, dadurch nur noch offensichtlicher.

Lukas Foerster

Schneider vs. Bax - Niederlande 2015 - Regie: Alex van Warmerdam - Darsteller: Tom Dewispelaere, Alex van Warmerdam, Maria Kraakman, Gene Bervoets, Annet Malherbe, Pierre Bokma - Laufzeit: 96 Minuten.