Im Kino

Revolution in der Wiederholungsschleife

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Jochen Werner
01.05.2013. Brian de Palmas Erotikthriller "Passion" montiert einen deutschen Kriminalinspektor, amerikanische Businesszicken und dann und wann ein rotes Telefonhäuschen mit italienischer Slasherästhetik in den Potsdamer Platz hinein. Benoît Delépine und Gustave Kervern drücken ihren ältlichen Helden in "Der Tag wird kommen" den anarchistischen Vorschlaghammer in die Hand.



Soviel Service vorneweg: Wer einen dramaturgisch ausgewogenen, von großartigen Schauspielerleistungen getragenen, plausibel erzählten und schlussendlich mitreißend spannenden Thriller im KIno sehen will, der zudem noch seiner Location - Berlin - Facetten abgewinnt, wie sie im Kino noch nicht zu sehen waren - ist gut beraten, zu Brian De Palmas "Passion" auf Abstand zu gehen. Wer mit solchem, ja ohne weiteres legitimen Anspruch den Kinosaal betritt, wird ihn aller Wahrscheinlichkeit nach verwundert bis verärgert wieder verlassen: Was, bitte, soll das denn nun gewesen sein? Nicht anders mag es Leuten ergehen, die mit dem Namen "De Palma" einen diffusen Begriff von Qualitäts- oder gar Autorenkino verbinden und dann in einem mittig dramaturgisch arg hängenden Amphibienfilm deutsch-französischer Produktionsprovenienz landen: Fürs Fernsehen schon wegen des Namens zu groß, fürs Kino ästhetisch aber eigentlich schon wieder viel zu klein.

Wer solche Ansprüche beiseite legt, kommt dann womöglich aber doch auf seine Kosten - und im Grunde war De Palma eh immer ein Auteur, bei dem stets kaum Vereinbares verquer montiert zusammentraf: Meta-Genrereflexion und Unterhaltungskino, Virtuosität und wirrer B-Movie-Trash, Hitchcock und Bahnhofskino - ein Kino, das das Hollywood-Zentrum immer wieder mit den Obsessionen des Kinos der Peripherie zu neuen Monstren vernähte. In diesem Fall: Mit der Peripherie der deutsch-französischen Co-Produktion, deren vom Fernsehen herrührenden Interesse an klaren, planen, aufgeräumten Bildern De Palma nach einer, wenn auch langen Durststrecke, dem Film Noir und dem Giallo, dem italienischen Slasherkino, entlehnte Bilder entgegenklotzt. Plötzlich steht im Villenviertel von Zehlendorf De Palmas Kamera schief, Filmgeschichte frisst sich ins Bild und Rainer Bock, längst das deutsche Gesicht in Deutschland angesiedelter internationaler Filmproduktionen ("Inglourious Basterds", "Unknown Identity", zwei neue Filme - darunter der neue von Anton Corbijn - werden gerade fertiggestellt), gibt dazu den Berliner Oberinspektor, der in De Palmas Giallo-Schneckenhaus spätnachts mit Blumen vor der Tür steht.

Der Plot ist Alain Corneaus 2010 entstandenem Thriller "Crime d'Amour" (eine Kritik von Perlentaucher-Autor Jochen Werner) entlehnt: Zwei Frauen aus der internationalen Werbebranche, die eine (Rachel McAdams) die Vorgesetzte der anderen (Noomi Rapace) und beide in der Berliner Dependance des Mutterunternehmens gelandet, bekriegen einander: Was seinen Anfang im simplen Ideenklau (der anderen noch im Zynismus eines professionell-freundschaftlichen Gestus ins Gesicht gesagt) nimmt, weitet sich über den Umweg lesbischer Teufeleien zum Sex mit dem Bettgespielen, bösen Intrigen und schließlich Mord mit mehreren doppelten Böden aus. Und eine quiekende Karoline Herfurth gibt die Dritte im Spiel.



Was Corneau in recht übliche Bilder fasst, setzt De Palma unter einen gläsernen Schneewittchensarg: Die Fassade des Filmhauses am Potsdamer Platz - womöglich galliges Statement des Regisseurs: Dort wo realiter Filmgeschichte gesammelt, bewahrt, ausgestellt und neue Filmemacher ausgebildet werden, findet sich bei De Palma nun eine neoliberale Klitsche - mit ihren Versprechungen von Transparenz wird hier, aus innerer Perspektive, ein Ort, aus dem ein ungehinderter Blick auf die Welt kaum mehr möglich scheint. Verwinkelt, verspiegelt, halb-durchlässig, unübersichtlich, verzerrt: Kann man von einem Büro in den oberen Etagen dieses Gebäudes wirklich Brandenburger Tor und Reichstag sehen? Neo-Gotik in der modernen Spreemetropole - selbst London wird hier, bei behauptetem Intermezzo in Großbritannien, zu einer Sache von Berlin-Mitte und einem keck aufgestellten roten Telefonhäuschen. Die St. Paul's Cathedral wird per Computer wie ein über der Stadt thronendes UFO in den Blick aus dem Fenster geholt. Vielleicht ist es ja wirklich so (und nicht nur eine Frage des Budgets), dass De Palma seinen Figuren keine Außenwelt - oder Welt gar überhaupt - zugesteht: Sie sind Gefangene einer Architektur, die sich selbst total setzt.



Ansonsten: De-Palma-Recycling - vielleicht auch als nostalgische Geste eines Hollywood-Outsiders, dem es erst im europäischen Exil wieder gestattet wird, nach immerhin zehn Jahren wieder einen Film zu drehen, der wieder alle Insignien des Auteurs tragen darf: Schwüle Altherren-Erotik (von Sex-Toy bis hin zu kinky narzisstischen Seancen), mal mehr, mal weniger informierten Spielereien mit neuen Medien, exzesshaft betriebenen Murder-Set-Pieces, Splitscreens, in denen sich Hochkultur mit Pulp vermählt, während Komponist Pino Donaggio, von dem man auch schon lange nichts mehr gehört hat, wie eine Reprise beider bester Tage süßliche Streicher beisteuert, als seien die Glanztage des Erotikthrillers nicht längst schon vorbei. Die Sache gipfelt - worauf man lange hat warten müssen - in einen De-Palma-typischen, genau getakteten, tableauhaften Exzess, der weniger die Zurschaustellung der eigenen Virtuosität, sondern vielmehr die Verwaltung des eigenen, ästhetischen Erbes zum Ziel zu haben scheint: Was De Palma einst mit Hitchcock betrieb - Hommage in Form einer monströsen Umstülpung -, betreibt er nun, scheint's, mit sich selbst.

All das ergibt als ernstgemeinter Film freilich erfreulich wenig bis kaum einen Sinn. So ist "Passion" vielleicht auch wirklich, wie Simon Rothöhler das in der aktuellen Ausgabe von Cargo vorschlägt, als symptomhafter Film über die Produktionsbedingungen eines vom Betrieb mittlerweile zur Gänze marginalisierten Regisseurs zu verstehen, dessen Werkspektrum nun vom Science-Fiction- und Tom-Cruise-Blockbuster bis zur deutsch-französischen Egal-Produktion reicht. Ein bisschen Wut darüber glaubt man den Bildern auch entnehmen zu können. Doch immerhin: Aktuellen Interviews ist zu entnehmen, dass De Palma gerade an einem Projekt mit Al Pacino arbeitet. Der allerdings hat seine besten Zeiten ja nun auch schon gesehen.

Thomas Groh

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"Es gibt eine Zeit / Es wird eine Zeit kommen / Irgendwann kommt eine Zeit / Und wenn die Zeit kommt / Dann haben wir gewonnen", so sangen Die Sterne einst in einem Lied mit dem programmatischen Titel "Wenn ich realistisch bin" und stellten unmissverständlich klar: Die Revolution steckt längst in einer Wiederholungsschleife fest. Jenen Tag, der da kommen wird, egal was immer er nun bringen mag, beschwören auch Benoît Delépine und Gustave Kervern - zwei der schwarzhumorigsten Sozialrevolutionäre des Weltkinos - im Titel ihres fünften Films. Zumindest in der deutschen Fassung, verspricht doch der französische Originaltitel "Le grand soir" lediglich einen "großen Abend".

Aber ob man sich nun mit einem Abend zufrieden gibt oder doch den Tag ausruft, der alles verändern soll: Ob sich das Versprechen des Titels einlösen lässt, bleibt zumindest zweifelhaft. Was nicht zuletzt daran liegen mag, dass im Grunde kaum jemand eine Idee hat, was sich eigentlich verändern soll. Am allerwenigsten Benoît (Benoît Poelvoorde), genannt "Not" - der (Anti-)Held von "Der Tag wird kommen". Not bezeichnet sich selbst als ältester Punk mit Hund in Europa und zieht allmorgendlich auf den Parkplatz des örtlichen Supermarktes, um dort abzuhängen, zu schnorren und allerlei Unfug zu treiben. Für seinen Bruder Jean-Pierre (Albert Dupontel) ist Not das schwarze Schaf der Familie - zwangsläufig wohl, verdingt sich Jean-Pierre doch folgsam und brav als Verkäufer orthopädischer Matratzen in den Mühlen des Kapitalismus. So lange jedenfalls, bis er der Effektivitätslogik seiner Firma nicht mehr entspricht - und folgerichtig, angesichts der Absurdität seines Berufs und Daseins, selbst in immer absurdere Attacken gegen diese Logik seines Lebens verfällt.

Bald nimmt Not, der immer schon grundsätzlich dagegen war - gegen alles und jeden, sogar gegen die anderen, zumeist deutlich jüngeren Punks, die ihn, als er ein Konzert aufmischt, kurzerhand von der Bühne in einen Müllcontainer befördern -, seinen Bruder, den gefallenen Angepassten, unter die Fittiche und zeigt ihm, was es bedeuten könnte, Punk zu sein: nicht als modisches Accessoire, sondern als Kritik an allen Anderen. Die Destruktivität dieser Haltung scheint sich zunächst auch zur konkreten (terroristischen) Tat zuzuspitzen: Gewalt als mehr oder minder legitimes Mittel der revolutionären Aktion schließt Delépines und Kerverns Kino ohnehin niemals ganz aus.



Vielmehr sind es die Umstände, die sich vor den Konsequenzen der Gewalttat luftdicht abgeschottet haben, die diese ziellos erscheinen lassen oder gleich von vornherein im Keim ersticken. Scheitern die Amateur-Attentäter in "Louise-Michel", dem bis heute vielleicht stärksten und bissigsten Film des Regisseursduos, noch daran, dass es hinter der kapitalistischen Struktur, die sie ausgesaugt und fallengelassen hatte, kein Individuum mehr gibt, das es sinnhaft zu attackieren gilt, so verpufft hier der Aufruf zum Widerstand gegen Konsumwelt und -logik bereits im Ansatz, da sich ihm schlichtweg niemand anschließt.

Überhaupt, die Menschen, die da Zombies gleich durch die Supermärkte und über die Parkplätze schlurfen. Wo eigentlich soll da noch eine Hoffnung hergenommen werden, darauf, dass die Umstände zu ändern seien - wenn sich doch alle darauf geeinigt zu haben scheinen, dass es im Grunde ganz egal ist. Eine schwer erträgliche Sequenz zeigt den verzweifelten Jean-Pierre, mit Benzin übergossen und dem Ziel der symbolischen Selbstverbrennung als Fanal gegen Konsumismus, Kaltherzigkeit, Kapitalismus. Mit den ersten züngelnden Flammen springt die Sprinkleranlage an und löscht den Lebensmüden, aber bis dahin würdigen ihn die Umstehenden keines Blickes. Es interessiert einfach niemanden.

Diese tiefschwarze, bitterböse Sequenz stellt nicht den einzigen Suizidversuch in "Der Tag wird kommen" dar - in einem schwer zu vergessenden Bild wird ein weiterer, erfolgreicherer Selbstmörder die Grenzen des Zynismus zumindest arg strapazieren. Überhaupt ist "Der Tag wird kommen", seiner im Vergleich zu einem früheren großen Wurf Delépines und Kerverns wie "Louise-Michel" (unsere Kritik) spürbar glatteren Oberfläche zum Trotz ein bemerkenswert abgründiger Film, dessen Humor die plakativeren Pointen eher als Lockmittel einsetzt, das das Stammpublikum jener harm- und belanglosen französischen Arthousekomödchen, die im Dutzend auch die deutschen Programmkinos verstopfen, einzufangen und festzusetzen versucht, um ihm dann mit Wucht und dem anarchistischen Vorschlaghammer die Schädel einzuschlagen. Delépine und Kervern, die zu gleichen Anteilen Provokateure, politische Agitateure und Crowdpleaser sind, verfolgen mehr denn je die cinephile Strategie der Venusfliegenfalle.

Jochen Werner


Passion - Deutschland, Frankreich 2012 - Regie: Brian De Palma - Darsteller: Rachel McAdams, Noomi Rapace, Karoline Herfurth, Paul Anderson, Rainer Bock, Benjamin Sadler, Michael Roschopf, Dominic Raacke - Laufzeit: 100 Minuten.

Der Tag wird kommen - Frankreich 2012 - Originaltitel: Le grand soir - Regie: Benoît Delépine und Gustave Kervern - Darsteller: Benoît Poelvoorde, Albert Dupontel, Brigitte Fontaine, Areski Belkacem, Bouli Lanners - Laufzeit: 92 Minuten.