Im Kino

Selten intime Momente

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
25.01.2017. In Stefano Sollimas Gangsterfilm "Suburra" saugt sich Rom wie ein Schwamm mit Blut, Sex, Drogen, Geld und Licht auf. Vor dem Hintergrund der ersten Tage der Trump-Präsidentschaft wird Pablo Larraíns nicht-wirklich-Biopic "Jackie" als ein waschechtes Melodram lesbar.


In Ostia, einem Stadtteil Roms nahe der Tibermündung, soll ein neues Las Vegas entstehen. So will es in Stefano Sollimas Gangsterfilm "Suburra" der Mob, so will es die Politik, so will es möglicherweise sogar der Papst. Sollima gibt sich alle Mühe, die italienische Hauptstadt so zu filmen, als sei dieses Ziel schon erreicht: Wie ein zweites, ein genauso exzessives, genauso knallig durchgestyltes, genauso zwischen kitschiger Schönheit und megalomanischer Hässlichkeit hin und her changierendes, wie ein vielleicht sogar noch wilderes, enthemmteres, weil überdimensioniertes Las Vegas erscheint Rom in Paolo Carneras cinemascopebreiten Bildern. Gleisendes Neonlicht illuminiert Gesichter, die sich dem Rausch, der Lust, dem Schmerz, manchmal allem gleichzeitig hingeben, die gelegentlich komplett entrückt nach hinten wegkippen und pulsierende Farben über sich hinweggleiten lassen. Überwältigt von einer rauhen, obszönen Macht, die auch mit allem alteuropäisch-Gediegenen an dieser Stadt kurzen Prozess macht; historische Bausubstanz ist nur insoweit interessant, wie sie als Kulisse für hypertrophe Koksnasendekadenz taugt.

In einem Moment fasst ein Minister einer nackten, minderjährigen Prostituierten zwischen die Beine, im nächsten bekommt jemand mit dem Vorschlaghammer eins in die Fresse. Kaum einmal baut Sollima größere dramatische Szenen auf und wenn die Kamera einer Figur auf ihrem Weg länger als unbedingt notwendig folgt, kann man fast schon darauf wetten, dass sie gleich draufgehen wird; das einzige klassische action-setpiece, ein shootout in einem Einkaufszentrum, ist reichlich hektisch geraten. Eher als um die einzelnen Elemente der Handlung geht es um den Flow, der im Neben- und Gegeneinander der vielen unterschiedlichen Bewegungs- und Begehrensvektoren entsteht, und der auf der exzellent gestalteten Soundspur durch die französischen Elektropopper von M83 befeuert wird, mit Synthieschlieren und gelegentlichem zerdehnten, sehnsüchtigen Gesang.

Samurai wird der eiskalte Oberboss genannt, der die Fäden beim Las Vegas-Projekt zieht. Mit Sicherheit ist das eine Melville-Referenz; aber der mit Gelassenheit und Understatement herrschende Samurai ist auch schon die einzige Melville-artige Figur im Film. Alle anderen, die sich in diesem dicht bevölkerten, großartig gecasteten und ohne falsche Zurückhaltung grandios-geschmacklos ausstaffierten Film herumtreiben und gegenseitig die Köpfe einschlagen, all die fiebrig derangierten, unflätigen Nachwuchsgangster mitsamt ihren neurotischen, aufgetakelten Freundinnen, all die Playboys und Prostituierten, die verzweifelt versuchen, nicht unter die Räder zu kommen, all die korrupten Politiker, die sich gar nicht mehr die Mühe machen, eine bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten... niemand von denen hat mit Belmondo-Coolness oder Delon-Melancholie auch nur irgendwas am Hut.



Stattdessen kommen andere filmhistorische Register ins Spiel: Die ungestüme Energie und das auf Konfrontation beruhende Gesellschaftsmodell verweisen auf die italienischen Polizeifilme der 1970er. Brian de Palmas "Scarface" schwingt fast durchweg mit, in der Verschränkung von prolliger Vulgarität und Exzess im Zeichen des Kapitalismus. Wenn die rauschhafte Lust an gleißenden Oberflächen immer wieder in Melancholie und existenzielle Verlorenheit umkippt, gerade in den Szenen mit den jungen, verletzlichen Figuren am unteren Ende der Hackordnung, dann erinnert das wiederum an Wong Kar-Wai-Filme der 1990er. Dazu passt, dass es, wie auch oft bei Wong, fast durchgängig regnet; das Wasser, das vom Himmel fällt, irrealisiert die Welt, überall spritzt und glitzert es, auf den nassen Straßen spiegeln sich Farben, die nicht auf Gegenstände verweisen, sondern für sich selbst expressiv sind.

Was "Suburra" von seinen Vorbildern und überhaupt von den allermeisten anderen Gangsterfilmen unterscheidet, ist der panoramatische Ansatz: der Film hat kein personelles Zentrum, sondern bewegt sich durch ein Netzwerk von Minierzählungen, die sich nach und nach zu einem Zusammenhang wechselseitiger Verfilzungen und Abhängigkeiten fügen. Das ist in der literarischen Vorlage (die stammt von Carlo Bonini und Giancarlo De Cataldo und wurde mehrheitlich sehr gut besprochen) so angelegt, es passt aber auch zu Sollimas Fernseh-Background und es stellt außerdem eine Verbindung zu Roberto Savianos vieldiskutiertem, seinerseits längst ebenfalls für Kino und Fernsehen adaptierten Reportagebestseller "Gomorrha" her.

Mit Savianos Querschnitt durch die neapolitanische Unterwelt teilt Sollimas Film den Schlag ins Systemische, aber deswegen noch nicht das analytische Interesse an politischer Ökonomie. Die Verstrickungen von Staat, Wirtschaft und Kriminalität sind für "Suburra" ausschließlich aus der Perspektive des Genrekinos interessant: als dessen Spielmaterial. Sollima hat Freude an der spezifischen Mechanik von Korruption und organisiertem Verbrechen - alles folgt Regeln und ist doch gleichzeitig chaotisch. Eine Überdosis Heroin zieht wegen eines Missverständnisses einen Mord nach sich, der anschließend die gesamte mafiöse Organisation von unten nach oben aufrollt. Entführung antwortet auf Folter, eine Hinrichtung wird mit gleich einem Dutzend weiterer vergolten. Wie Dominosteine, die erst fein säuberlich einer nach dem anderen umkippen, aber irgendwann auch solche zum Einsturz bringen, die ganz woanders stehen. Ab und an bleibt ein Dominostein aufrecht, vielleicht gerade derjenige, von dem man es am wenigsten vermutet. Drum herum fließen Blut, Sex, Drogen, Geld und Licht ineinander, dringen ins pulsierende Gewebe der Stadt selbst ein, die das alles aufsaugt wie ein Schwamm.

Lukas Foerster

Suburra - Italien 2015 - Regie: Stefano Sollima - Darsteller: Greta Scarano, Pierfrancesco Favino, Jean-Hugues Anglade, Giulia Gorietti, Claudio Amendola, Alessandro Borghi - Laufzeit: 130 Minuten.

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"Whatever happened to the Man of Tomorrow?"
- Alan Moore


Alles, was wir über Jackie Kennedy wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Da ist einerseits die berühmte Tour durch das Weiße Haus, eine hochgradig inszenierte Fernsehreportage aus dem Jahr 1962, in der die First Lady die Öffentlichkeit an den Bildschirmen durch die Residenz der Präsidentenfamilie führt. Andererseits ist da Theodore H. Whites in der LIFE-Ausgabe vom 6. Dezember 1963 veröffentlichte Kurzreportage "For John F. Kennedy: An Epilogue", die auf einem eine Woche nach dem Kennedy-Attentat geführten Interview mit der Präsidentengattin fußt. Dazwischen, dahinter liegt das Schicksal einer Frau, deren Person, deren Schmerz hinter der Fassade der Repräsentation zum Verschwinden gebracht ist.

Zwei Medieninszenierungen, die Pablo Larraíns nicht-wirklich-Biopic "Jackie" umklammern. Nachvollziehbar wird in diesem Bogen die Geschichte einer Emanzipation durch Trauer: Ist Jackie Kennedy - in einer diffusen Zone zwischen Anverwandlung und Illusionsbruch bravourös papieren gespielt von Natalie Portman - in der Fernsehreportage noch Objekt der Inszenierung, eine typische Early-60s-Kindfrau, die stets von der Regie daran erinnert wird, doch bitte geschmeidig zu lächeln, ist sie beim Gespräch mit White (Billy Crudup) ein zwar vom Trauma des Kennedy-Mordes in den Grundfesten erschüttertes, aber buchstäblich federführendes Subjekt, das dem Journalisten ins Notizbuch diktiert, was er zu schreibe habe. Natürlich rauche sie nicht, sagt sie - und hat dabei eine Zigarette in der Hand.



Nicht, dass es dem chilenischen Auteur um Authentizitätsbehauptungen oder gar "finally, the real Jackie K."-Enthüllungen ginge. Vielmehr will er zum einen gerade auf Mythenbildungen hinaus: Sowohl die Tour durch das Weiße Haus, als auch der "Epilogue", der das abrupte Ende der Präsidentschaft Kennedys unter Rückgriff auf die Legende von Camelot als melodramatisch zerschlagene Hoffnung auf Erlösung kennzeichnet, liefern Material zu einer herrschaftlichen Großerzählung.

Auf 60s-Pastiche für Coffeetablebook-Freunde setzt Larraín, anders als die PR zum Film glauben machen mag, jedoch gerade nicht. Eher sucht er eine Art Metaphysik der Trauer und des Traumas. Dazu trägt nicht nur die melancholisch irrisierende Musik (Mica Levi), sondern insbesondere auch die stream-of-consciousness-artige Montage (Sebastián Sepúlveda) und die mit angeschrägten Close-Ups arbeitende und generell sehr bewegliche Kameraarbeit (Stéphane Fontaine) bei. "Jackie" ist kein postmodern-nostalgischer Theaterfundus-Film, sondern in seiner Perspektivierung des Materials unbedingt heutig. Eine beeindruckend kühle, gerade darin enorme Wucht entfaltende Meditation über eine jäh hereinbrechende Traumatisierung einerseits, über das Gefühl, aus einer öffentlichen Rolle gewaltsam herausgerissen zu werden, die es mit postpräsidialer Würde im Nu wieder zu füllen gilt, andererseits. Trotz seiner auch inszenatorisch großen Nähe zur titelgebenden Figur gestattet sich der Film nur selten intime Momente - etwa dann, wenn sich Jackie Kennedy am Abend nach den Ereignissen in Dallas alleine ihrer blutigen Kleidung entledigt und sich die letzten Spuren ihres toten Ehemanns unter der Dusche buchstäblich vom Leibe wäscht.

Seltsam heutig ist "Jackie" aber auch in anderer Hinsicht. Es geht darin um das schlagartige Ende einer Ära, die von Zeitgenossen als Aufbruch in eine bessere Zukunft gedeutet wurde. Wenn Jackie Kennedy das Weiße Haus räumt, das Erbe - und also in der Massenmediengesellschaft auch: das Image - ihres Mannes zu verwalten beginnt, dann liegt in diesen Gesten der Trauer etwas von der Atmosphäre des Verlusts, die unsere Gegenwart kennzeichnet, wenn es der Trump-Administration gar nicht schnell genug gehen kann, die Errungenschaften Obamas zu demontieren, von dessen politischer Kultur und Rhetorik ganz zu schweigen. Auf dieser Ebene - "for one brief shining moment there was Camelot", wie es im LIFE Magazine hieß - ist "Jackie" schlussendlich doch ein waschechtes Melodram.

Thomas Groh

Jackie - Chile, Frankreich, USA 2016 - Regie: Pablo Larraín - Darsteller: Natalie Portman, Peter Sarsgaard, Greta Gerwig, Billy Crudup, John Hurt - Laufzeit: 100 Minuten.