Magazinrundschau
Überaus widerstehliche Prosa
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.08.2008. The Atlantic fordert mehr Termiten-Effizienz: dann klappts auch mit der Umwelt. In Tygodnik Powszechny beschreibt der Schriftsteller Marek Nowakowski seine Anpassungsstrategie im Kommunismus. In Letras Libres vermisst Rafael Gumucio die Streitlust Roberto Bolanos. Outlook India porträtiert den neuen Bollywoodstar Akshay Kumar. In Rue89 warnt Michel Wieviorka vor dem neuen Rassismus in Frankreich. Die New York Times demontiert den führenden amerikanischen Literaturkritiker und die Klassifikation der St.-Emilion-Weine.
The Atlantic (USA), 01.09.2008

Nicht weniger faszinierend sind die von Lisa Margonelli vermittelten Einblicke ins Innere der Termiten - genauer gesagt in deren dritten Darm. Dort finden sich nämlich sonst unbekannte Mikrobenarten, die können, was der Mensch bisher nur unter massivem Aufwand leisten kann: Sie zerlegen Holz in Wasserstoff. "Geben Sie einer Termite diese Seite und ihre mikrobischen Helfer werden daraus zwei Liter Wasserstoff erzeugen, genug, um damit zehn Kilometer in einem Brennstoffzell-Auto zu fahren. Wenn wir Holzabfälle auch nur mit einem Bruchteil der Termiten-Effizienz in Treibstoff verwandeln könnten, wären wir in der Lage, unsere Wirtschaft aus Sägemehl, gemähtem Rasen und alten Zeitschriften in Gang zu halten."
Außerdem: Robert D. Kaplan informiert mit Hilfe von vier amerikanischen Experten über die Situation in Burma und Christopher Hitchens bespricht einen Band mit Norman Mailers Politreportagen aus dem Jahr 1968.
Tygodnik Powszechny (Polen), 17.08.2008

Weitere Artikel: Jussi Jalonen erinnert an Kaarlo Kurko, einen finnischen Antibolschewisten, der sich 1920 freiwillig zur polnischen Armee meldete, um gegen die Rote Armee zu kämpfen, die damals vor Warschau stand. Und Agnieszka Sabor lobt eine Krakauer Ausstellung von Fotografien, die Wilhelm Ze'ev Aleksandrowicz 1934 während einer Japan-Reise machte: "Der Wert dieser Bilder rührt vielleicht nicht aus ihrem künstlerischen Niveau - es sind schwarz-weiße Schnappschüsse, gleichzeitig statisch und grobkörnig. Sie halten aber diese besondere, wenn auch bekannte, gleichzeitig faszinierende und unerträgliche Erfahrung fest: die unüberbrückbare Grenze zu einer anderen Kultur; eine Grenze, die zur Unterscheidung in 'Wir' und 'Sie' zwingt."
New Yorker (USA), 25.08.2008

Weitere Artikel: In einem Brief aus Rangun geht George Packer der Frage nach, ob sich das burmesische Volk selbst retten kann. Antony Lane berichtet über "Politik, Pomp und Phelps" bei den Olympischen Spielen in Peking. David Remnick denkt darüber nach, was Putin ("Er ist weder Hitler noch Stalin, nicht mal Leonid Breschnew. Er ist, was er ist, und das ist schlimm genug.") in Georgien will. Zu lesen sind weiter die Erzählung "Awake" von Tobias Wolff und Lyrik von C.K. Stead und des kürzlich verstorbenen palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish.
Joan Acocella bespricht die Biografie "Giordano Bruno: Philosopher/Heretic" (Farrar, Straus & Giroux) von Ingrid Rowland. Paul Goldberger besichtigt das neue Gebäude, das Brad Cloepfil für das Museum of Arts and Design an die Stelle der alten Gallery of Modern Art setzte. Und Anthony Lane sah im Kino die Action-Komödie "Tropic Thunder" und den Thriller "A Girl Cut in Two" ("Die zweigeteilte Frau") von Claude Chabrol.
Letras Libres (Spanien / Mexiko), 17.08.2008
Der Schriftsteller Rafael Gumucio vermisst in der spanischsprachigen Literatur die Streitlust des vor fünf Jahren verstorbenen chilenischen Autors Roberto Bolano: "Vielleicht sollten wir all der Sympathie und gegenseitigen Wertschätzung unter den jungen lateinamerikanischen Schriftstellern misstrauen. Sie entstammen verschiedenen Ländern und Ethnien, aber doch fast alle der gleichen sozialen Schicht, den gleichen Schulen, Postgraduiertenkursen, haben die gleichen Väter und Freunde. Die für die Entstehung von Literatur notwendige Anzahl von Monstern lässt sich unter ihnen jedenfalls nicht entdecken. Dabei spricht nichts dafür, dass bessere Bücher entstehen, wenn alles ruhig ist und die Kritiker ihre Autoren verwöhnen und liebhaben. Die Geschichte der Literatur erzählt vielmehr genau das Gegenteil: Kämpferische Auseinandersetzungen zwischen Autoren, untereinander oder mit ihren Kritikern, sind keineswegs bloß unangenehme Episoden, die zeigen, wie schlecht die Menschen doch eigentlich sind, sondern die fruchtbare Grundlage, aus der gute Literatur erst hervorgeht."
Economist (UK), 15.08.2008

In weiteren Artikeln geht es um die US-Poetry-Slam-Meisterschaft und - unter der Überschrift "Die Deutschen kommen" - den Siegeszug vor allem deutscher Discounter in Ländern wie Frankreich und Großbritannen, deren Supermärkte lange erfolgreich die Preise hoch hielten. Besprochen werden unter anderem ein Buch über die zweitausendjährige Geschichte der Jüdischen Gemeinde im indischen Kerala und Ophelia Fields Studie über den "Kit-Cat Club", zu dem führende britische Künstler und Intellektuelle des 18. Jahrhunderts wie William Congreve oder der Spectator-Gründer Sir Richard Steele gehörten.
Outlook India (Indien), 25.08.2008

Im Interview ärgert sich Kumar über die intellektuellen Kritiker, ist aber insgesamt bester Laune. (Bei Youtube kann man sich einen ersten Eindruck verschaffen.)
The Nation (USA), 13.08.2008

Rue89 (Frankreich), 17.08.2008
Sind die Franzosen insgesamt rassistischer geworden oder neigen sie im Gegenteil zu politischer Korrektheit? Die jährliche Erhebung der "Commission nationale consultative des droits de l'homme" (CNCDH) hat ergeben, dass 48 Prozent der Ansicht sind, es gebe "zu viele Einwanderer in Frankreich", und sich satte 30 Prozent ausdrücklich für "rassistisch" erklären. Und der Rassismus kommt heute nicht mehr nur von rechts, sondern auch von der antikolonialistischen Linken und aus islamistischen Kreisen. Der Soziologe und Antisemitismus-Experte Michel Wieviorka warnt deshalb: "Vorsicht: Man kann darauf wetten, dass sich in Umfragen nicht alle Rassisten als solche bezeichnen. Deshalb sind die 30 Prozent unterbewertet, siehe die Stimmergebnisse für den Front National. Sich rassistisch zu nennen, steht heutzutage gesetzlich unter Strafe, für den FN zu stimmen dagegen nicht. Des Weiteren gilt es heute als legitim, die extreme Rechte zu wählen: Der Front National hat diesen Ansichten demokratische Legitimität verschafft."
Times Literary Supplement (UK), 15.08.2008
Zum richtigen Zeitpunkt fertig geworden ist Charles Kings Geschichte des Kaukasus "The Ghost of Freedom", Donald Rayfield kann sie sehr empfehlen, vermisst aber ein entscheidendes Kapitel: "In einem Buch, das den 'Geist der Freiheit' behandelt, würde man einen etwas gründlicheren Blick auf die 'kleinen Kosovos' im Kaukasus erwarten, in denen sich ethnische Gruppen wie die Abchasen und Südosseten vom neuen unabhängigen Georgien abzuspalten versuchten, nur um sich selbst als internationale Parias wiederzufinden, deren einzige Möglichkeit es war, in Russlands Schoß zurückzukehren. Hier trifft Putins Salamitaktik, sich verlorenes Sowjet-Territorium wieder einzuverleiben, leider auf keinerlei angemessene oder auch nur intelligente Antwort der Betroffenen, zuvorderst der Georgier, oder der Europäischen Union und der USA, die sich schon im Gewirr des früheren Jugoslawien verheddert haben. Sie können nur die Hände ringen, wenn sie sehen, wie Russland mit Hilfe seiner schwerbewaffneten Friedenstruppe Abchasien wieder in sein eigenes privates Erholungsgebiet verwandelt."
Beglückt hält Toby Barnard den "Oxford Guide to Literary Britain and Ireland" in Händen, der sehr anschaulich mache, wie bestimmte Orte die Literatur verändert haben - und die Literatur Städte: "An einigen Städte haben sich Schriftsteller zu unrecht gerächt. Slough allerdings war nicht ganz schuldlos daran, dass John Betjeman es für seinen Bombenhagel auswählt hat."
Beglückt hält Toby Barnard den "Oxford Guide to Literary Britain and Ireland" in Händen, der sehr anschaulich mache, wie bestimmte Orte die Literatur verändert haben - und die Literatur Städte: "An einigen Städte haben sich Schriftsteller zu unrecht gerächt. Slough allerdings war nicht ganz schuldlos daran, dass John Betjeman es für seinen Bombenhagel auswählt hat."
Espresso (Italien), 14.08.2008

Portfolio (USA), 01.09.2008

Express (Frankreich), 13.08.2008

New York Times (USA), 17.08.2008
James Wood ist eindeutig der MRR Amerikas, allerdings nicht halb so alt. Im New Yorker informiert er die führenden Schichten über die neueste Literatur und was man von ihr zu halten hat (hier eine Liste seiner Artikel). Sein Buch "How Fiction Works" wird in der New York Times vom Romancier Walter Kirn besprochen, der Wood für reichlich prätenziös hält: "Die großen Helden der künstlerischen Arbeit sind für ihn halb klösterlich lebende Introvertierte, die, wie Woods Idole Henry James und Gustave Flaubert, hinter verschlossenen Türen schuften und in abgedämpfter splendid isolation den subtilen Reibungen zwischen Adjektiven und Hauptwörtern hinterherlauschen. Durcheinandergebracht wird dieses Experiment von Typen wie David Foster Wallace, die sich vom Lärm der Straßen und den Stimmen der Masse ablenken lassen." Am Ende legt Kirn alle Reserven ab: "Wood behauptet, die feinsten Verästelungen einer Personencharakterisierung zu verstehen und scheint doch ganz schön blind für die überaus widerstehliche Prosa seine oberlehrerhaften und geschmäcklerischen Person."
Edward Lewine hat für das Sunday Magazine in Saint Emilion im Bordeaux recherchiert, wo ein erbitterter Streit um die Klassifizierung der Weine ausgebrochen ist. Nach einer Überarbeitung durch die Behörden 2006 haben ein paar Chateaus den Status des Grand Cru verloren und prompt geklagt. Nun ist alles offen: "Es ist ein klassischer Dorfkrieg, aber ein Dorfkrieg, der weltweite Folgen haben könnte. Es ist ein Kampf um die Frage, wer die Autorität hat, die Qualität eines Weins zu definieren, ein Ringen zwischen einer agrarischen Tradition des 19. Jahrhunderts und der Verwaltungsgesetzgebung des 21. Jahrhunderts, und auch ein Zeichen der wachsenden Spaltung zwischen einer Handvoll von superelitären Chateaus, die ihre Flaschen für bis zu 2.000 Dollar verkaufen, und den weniger prestigeträchtigen Weingütern in ihrer direkten Nachbarschaft. Es könnte das Ende der 150 Jahre alten Klassifizierung der Bordeaux-Weine sein."

Kommentieren